In der
Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1033a 6 – 24
Zu der sehr weiten Bestimmung der
Seele in De anima 431b 21 stellen wir einige Überlegungen an. Die menschliche
Seele, von der da die Rede ist, zeichnet sich gegenüber der pflanzlichen und
tierischen dadurch aus, dass sie durch den nous (Vernunft) erweitert
ist, sodass sie weit mehr fremde Eindrücke (pathemata) aufnehmen und als
fremde Wesensformen festhalten kann (sicherlich auch mittels der Sprache),
sodass sie eben nicht nur die Wesensform „Mensch“ ist, sondern ungefähr alle
wie etwa „Haus“, „Gesundheit“, „Gott“ und so weiter. Diese aber in anderer
Weise – eben „gewissermaßen“. Vielleicht in einer(?) eigenen Etage, irgendwie
in „hinzukommender“, „akzidenzieller“ oder „symbebekotischer“ also „mitgekommener“
Weise. Die Seele als ein Fall, eine Sonderzone von essenziellem Akzidenzialismus,
von Mengenbildung, Weltbildung ...
Und das spätantike griechische Wort
für Bewusstsein, „syneidesis“, heißt wörtlich „Zusammenwissung“, noch
wörtlicher „Mitgesehenhabung“. Von Aristoteles her ließe sich Bewusstsein als
ein an ein Einzelwesen gebundenes pluralisches „Mehr-sein“, „Viele-sein“,
„Quasi-alle-sein“ bestimmen.
In unserem Abschnitt geht es um die
Seinsmodalität „Entstehung“ – und zwar um das Woraus der Entstehung.
Haupttendenz der Aussage: ein Wesen entsteht aus etwas Wesensgleichem. Jenes
ursprüngliche Etwas kann entweder auf der Ebene der Formursache oder auf
derjenigen der Stoffursache liegen (womit zwei von den vier „Ursachen“ genannt
sind).
In dem Buch, das wir jetzt lesen,
betont Aristoteles hauptsächlich die Seite des Sachlichen. Gelegentlich aber
wendet er sich der sprachlichen Seite der Angelegenheit zu: wie sprechen wir
von diesen Vorgängen?
Wenn eine Statue aus Stein ist,
nennen wir sie nicht mehr Stein – sondern Statue. Es ist hier eine neue
Wesensform durchgesetzt worden und eine neue Substanz entstanden, weil
die - künstliche – Wesensform „Statue“ die – immer noch bestehende –
Wesensform „Stein“ überformt hat. Und der „Stein“ transformiert sich in die
akzidenzielle Qualität „steinern“. Unser Sprechen ersetzt das Substantiv
durch das Adjektiv aus demselben Wortfeld. Und Aristoteles vollzieht die
Adjektivierung auch an dem bloßen Demonstrativpronomen „jenes“ –
vermutlich eine künstliche, eine neologistische Adjektivierung (wie Sophia
Panteliadou meint): wenn etwas aus „jenem“ gemacht ist, dann ist es selber ein
„jenernes“. Vielleicht ein Beispiel dafür, dass Aristoteles auch vor einem
Wortspiel, das als Sprachmanipulation erscheint, nicht zurückschreckt.
Und wieder zurück zu dem Fall mit
der ärztlichen Heilung. Woraus entsteht der Gesunde? Da sind zwei Antworten
möglich: er entsteht aus dem Substrat Mensch oder er entsteht aus der Privation
von „gesund“, also aus dem Kranken. Aristoteles meint, wir sagen eher: aus der
Privation. In diesem Fall ziehen wir die Privation vor. Beim Entstehen einer
Statue beziehen wir uns, wenn wir nicht vom Material reden, sondern von der
Form, kaum von der Privation – die würde heißen „Nicht-Statue“, und das wäre eine
„undeutliche und unbenannte“ Privation, die man „konstruktivistisch“
herbeisupponieren müsste.
Die Privation „krank“ ist hingegen
ein echter mit Leiden verbundener Mangelzustand – da ergibt sich die Rede von
Beraubung aus der Natur des Erlebens.
Wenn Aristoteles die Privation
dennoch zu einem generellen Woraus der Entstehung erklärt, dann führt er einen
kriminalistischen Begriff in die Ontologie ein, die es nicht immer mit
menschlichen, mit (a)sozialen Umständen zu tun hat. Man könnte von einem anthropomorphisierenden,
jedenfalls von einem dramatisierenden ontologischen Begriff sprechen.
Und damit hätten wir ein
Gegenbeispiel zu der üblichen Kritik an der Ontologie, dass sie nämlich
existenzielle Sachverhalte mit einer allzu neutralen Sprache (Hauptbegriff:
„das Seiende“) verdeckt. Doch in ihrer allgemeinen ontologischen Bedeutung
läuft die Privation darauf hinaus, dass jede Bestimmtheit mit dem Fehlen
irgendeiner anderen Bestimmtheit verbunden ist, womit auch der Übergang zu
dieser möglich ist – also ein Werden oder Entstehen.
Im Buch V hat Aristoteles den
Privationen einen eigenen Abschnitt gewidmet (22), wobei er die speziellen
Privationen, also die echten Mängel, im Bereich des Organischen ansiedelt
(Pflanze, Mensch), dabei auch die Qualifizierung „schlecht“ einführt; die
allgemeinen Privationen sieht er mit dem Präfix „un“ gekennzeichnet:
unsichtbar, unschmelzbar; er geht aber auch zur Unterscheidung von gut und
schlecht, gerecht und ungerecht über. Einer Sonderform von spezieller
Privation, der Verstümmelung, hat er einen eigenen Abschnitt gewidmet (27);
dabei geht es um Beraubungen, die auf einen Unfall zurückgehen; die können
sowohl einen Menschen wie einen Becher betreffen.
Wir erwähnen das von Arnold Gehlen
formulierte Theorem vom Menschen als „Mängelwesen“, womit eine konstitutive
also essenzielle Organschwäche des Menschen (im Vergleich zu anderen Tieren)
gemeint ist. Ein anderer Begründer der Philosophischen Anthropologie, Helmuth
Plessner, sprach von einer „primären Unerfülltheit des Lebewesens“, damit
meinte er den für alle Tiere zutreffenden Tatbestand eines ständigen Aneignen-müssens
(atmen, essen ...). Wohl in der Nähe dessen liegt Jacques Lacans Rede vom
menschlichen Begehren, das durch einen unaufhebbaren Mangel konstituiert ist.
Walter Seitter
Sitzung vom 14. Februar 2018
Nächste Sitzung am 21. Februar 2018
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