τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Freitag, 23. Februar 2018

In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1033a 24 –1033b 19


Noch ein Rückblick auf die Privation oder Beraubung – ein Begriff, der laut Aristoteles wie alle Begriffe in mehreren Bedeutungsnuancen auftritt. Die wichtigste davon spielt eine  Rolle bei der Analyse von jeglichem Werden. Denn Werden ist ein Übergang von einer positiven Bestimmung zu einer anderen, welche zunächst gerade nicht gegeben ist, sondern „fehlt“. Und dieses „Fehlen“ bildet die Lücke oder den Raum, der den Übergang oder das Werden ermöglicht. Und deswegen sagt Aristoteles, dass jedes materielle Ding aus Materie und Form und Privation besteht. (Met. XII, 1069b 33; 1070b 22)

Im Abschnitt 8 unterscheidet Aristoteles zwei Anfänge des Entstehens: das Wodurch, also die Formursache, die mit der Wirkursache zusammenhängt, und das Woraus, also die Stoffursache. Das Bewirken ist das transitive Korrelat zum intransitiven Entstehen, welches mit dem „Erleiden“ identisch sein kann. Bewirken (oder herstellen, machen) und Erleiden stehen ja in der Kategorientafel, zu welcher folglich auch das Entstehen hinzugefügt werden könnte, denn die Zehnerzahl ist nicht in Erz gegossen.

Gerhard Weinberger  erwähnt, dass Bernard Sichère in seinem Buch Aristote au soleil de l’être (Paris 2017) sagt, Aristoteles habe die Kategorien von der griechischen Grammatik aus entwickelt. Ich konkretisiere diese Aussage, indem ich behaupte, die Kategorien hätten ihre direkten Vorlagen in den Wortarten – die im Griechischen und im Deutschen ähnlich strukturiert sind.

In der Poetik sind ja die Kapitel 20 und 21 linguistischen Fragen gewidmet und da gibt es auch eine ganz knappe Aufzählung der Wortarten, welche auf dieses Problem bezogen werden kann: Konjunktion, Artikel, Nomen, Verb (1456b 20).

Eine etwas vollständigere Auflistung der Wortarten der deutschen Sprache  sieht so aus:

Artikel oder Geschlechtswort, Nomen oder Substantiv oder Dingwort, Adjektiv oder Eigenschaftswort, Verb oder Zeit- oder Tätigkeitswort, Adverb oder Umstandswort, Pronomen oder Fürwort, Präposition oder Verhältnis- oder Vorwort, Konjunktion oder Bindewort, Numerale oder Zahlwort, Interjektion oder Ausrufewort. Die Nomina bilden die Vorlage für die Kategorie der Substanz, was ja daran sichtbar wird, dass man statt „Nomen“ auch „Substantiv“ sagt: das Substantiv ist die für die Substanz zuständige Wortart. Die Adjektive oder Eigenschaftswörter sind der Kategorie der Qualität zuzuordnen, und die Verben oder Zeitwörter oder Tätigkeitswörter der Kategorie bzw. Doppelkategorie Wirken/Erleiden.  Neulich haben wir ja gelesen, wie Aristoteles den Übergang vom Substantiv zum Adjektiv ausdrücklich vorführt und sogar auf eine paradoxe Spitze treibt, indem er diesen Übergang auch dazu einsetzt, dass aus einem Demonstrativpronomen ein neues von ihm erfundenes Demonstrativpronomen entsteht. Zur Beschreibung dieser Vorgänge braucht man nicht esoterische Theorien – es genügt so ein banaler Begriff wie „Wortart“. Die Lehre von den Wortarten wurde im 2. Jahrhundert vor Christus zum ersten Mal ausgebaut.

Für die aristotelische Kategorienlehre (oder Ontologie) ist typisch, dass der Substanz ein Primat zugesprochen wird und daher ist es wichtig, dass man sich davon eine klare Vorstellung macht. Ich erinnere daran, dass wir uns im Frühjahr 2016 ausgiebig über die Frage unterhalten haben, wo denn und wie denn das, was dem aristotelischen Begriff der Substanz entspricht, real vorkommt. Anhand einiger Stellen im Buch V und im Vorgriff auf Buch VII wurde die These aufgestellt, dass Aristoteles auf „Substanz“ im pointierten Sinn mit solchen Pronomina wie „wer“, „du“ oder mit solchen Nomina wie „Sokrates“, „Kallias“ hindeutet. Und dass er die Seinsmodalität „Substanz“ am besten in den „Dingen“ realisiert sieht, die wir „Tiere“ oder „Menschen“ nennen (sofern man sich auf die irdische Realität beschränkt).

Zu meiner Überraschung konnte ich neulich feststellen, dass der von Peter Kunzmann, Franz-Peter Burkardt, Franz Wiedmann verfasste dtv-Atlas zur Philosophie (München 1991), ein Buch, das sich bestimmt nicht zur Spitzenklasse der Aristoteles-Forschung zählt, die aristotelische Kategorienlehre in hervorragender Weise darstellt: indem um sein Porträt herum die zehn Kategorien jeweils mit einer auf Aristoteles (als Person) bezogenen Angabe angeschrieben sind. Substanz: Aristoteles, Qualität: Philosoph, Relation: Lehrer des Alexander – usw.

Derartige Substanzen sind entstanden und sie sind vergänglich. Wie eine eherne Kugel. Doch die Form oder das Was-es-ist-dies-zu-sein, das entsteht nicht – es entsteht nicht „an sich“, sondern „in einem anderen aufgrund von Kunst oder Natur oder  Vermögen“ (1033a 5ff.). Man macht, dass die Kugel ehern ist, „man macht sie da hinein“, indem man die Kugelform mit dem Erzmaterial verbindet. Jede Entstehung ist eine Verbindung aus zwei Voraussetzungen – eine davon ist die unentstandene Form, nach der das Entstandene benannt wird, nämlich Kugel; die andere ist das Material, nach dem das Entstandene ebenfalls benannt wird, aber adjektivisch. (1033a 9ff.)

Heißt das nun, dass die Form „ewig“ ist? Sophia Panteliadou hält diese Bezeichnung für unpassend, weil sie sie an die „Ewigkeit“ im christlichen Sinn erinnert. Näher liegt eine mögliche Ähnlichkeit mit der platonischen Lehre von den „Ideen“, die mit den aristotelischen Formen oder Wesen tatsächlich eng verwandt sind und ausdrücklich als ewig bezeichnet werden. Der Unterschied dürfte sich so fassen lassen: die aristotelischen Formen sind unentstanden und unvergänglich, existieren aber an sich nur gewissermaßen virtuell (und zwar in allen Menschenseelen!). Real existieren sie nur unselbständig in Verbindung mit Stoff als Wesensbestandteile von vergänglichen Körpern. Diese Körper konstituieren sie, „koproduzieren“ sie, sie machen sie zu dem, „was“ sie sind.

Die protagonistischen Vertreter der Formen sind also die Seelen, worauf ich in dem Aufsatz „Morphismus, Energismus, Krypto-Animismus ... Eine postaristotelische Glosse“ hingewiesen habe.

Walter Seitter

Sitzung vom 21. Februar 2018


Nächste Sitzung am 28. Februar 2018


Sonntag, 18. Februar 2018


In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1033a 6 – 24


Zu der sehr weiten Bestimmung der Seele in De anima 431b 21 stellen wir einige Überlegungen an. Die menschliche Seele, von der da die Rede ist, zeichnet sich gegenüber der pflanzlichen und tierischen dadurch aus, dass sie durch den nous (Vernunft) erweitert ist, sodass sie weit mehr fremde Eindrücke (pathemata) aufnehmen und als fremde Wesensformen festhalten kann (sicherlich auch mittels der Sprache), sodass sie eben nicht nur die Wesensform „Mensch“ ist, sondern ungefähr alle wie etwa „Haus“, „Gesundheit“, „Gott“ und so weiter. Diese aber in anderer Weise – eben „gewissermaßen“. Vielleicht in einer(?) eigenen Etage, irgendwie in „hinzukommender“, „akzidenzieller“ oder „symbebekotischer“ also „mitgekommener“ Weise. Die Seele als ein Fall, eine Sonderzone von essenziellem Akzidenzialismus, von Mengenbildung, Weltbildung ...

Und das spätantike griechische Wort für Bewusstsein, „syneidesis“, heißt wörtlich „Zusammenwissung“, noch wörtlicher „Mitgesehenhabung“. Von Aristoteles her ließe sich Bewusstsein als ein an ein Einzelwesen gebundenes pluralisches „Mehr-sein“, „Viele-sein“, „Quasi-alle-sein“ bestimmen.

In unserem Abschnitt geht es um die Seinsmodalität „Entstehung“ – und zwar um das Woraus der Entstehung. Haupttendenz der Aussage: ein Wesen entsteht aus etwas Wesensgleichem. Jenes ursprüngliche Etwas kann entweder auf der Ebene der Formursache oder auf derjenigen der Stoffursache liegen (womit zwei von den vier „Ursachen“ genannt sind).

In dem Buch, das wir jetzt lesen, betont Aristoteles hauptsächlich die Seite des Sachlichen. Gelegentlich aber wendet er sich der sprachlichen Seite der Angelegenheit zu: wie sprechen wir von diesen Vorgängen?

Wenn eine Statue aus Stein ist, nennen wir sie nicht mehr Stein – sondern Statue. Es ist hier eine neue Wesensform durchgesetzt worden und eine neue Substanz entstanden, weil die  - künstliche – Wesensform „Statue“ die – immer noch bestehende – Wesensform „Stein“ überformt hat. Und der „Stein“ transformiert sich in die akzidenzielle Qualität „steinern“. Unser Sprechen ersetzt das Substantiv durch das Adjektiv aus demselben Wortfeld. Und Aristoteles vollzieht die Adjektivierung auch an dem bloßen Demonstrativpronomen „jenes“ – vermutlich eine künstliche, eine neologistische Adjektivierung (wie Sophia Panteliadou meint): wenn etwas aus „jenem“ gemacht ist, dann ist es selber ein „jenernes“. Vielleicht ein Beispiel dafür, dass Aristoteles auch vor einem Wortspiel, das als Sprachmanipulation erscheint, nicht zurückschreckt.

Und wieder zurück zu dem Fall mit der ärztlichen Heilung. Woraus entsteht der Gesunde? Da sind zwei Antworten möglich: er entsteht aus dem Substrat Mensch oder er entsteht aus der Privation von „gesund“, also aus dem Kranken. Aristoteles meint, wir sagen eher: aus der Privation. In diesem Fall ziehen wir die Privation vor. Beim Entstehen einer Statue beziehen wir uns, wenn wir nicht vom Material reden, sondern von der Form, kaum von der Privation – die würde heißen „Nicht-Statue“, und das wäre eine „undeutliche und unbenannte“ Privation, die man „konstruktivistisch“ herbeisupponieren müsste.

Die Privation „krank“ ist hingegen ein echter mit Leiden verbundener Mangelzustand – da ergibt sich die Rede von Beraubung aus der Natur des Erlebens.

Wenn Aristoteles die Privation dennoch zu einem generellen Woraus der Entstehung erklärt, dann führt er einen kriminalistischen Begriff in die Ontologie ein, die es nicht immer mit menschlichen, mit (a)sozialen Umständen zu tun hat. Man könnte von einem anthropomorphisierenden, jedenfalls von einem dramatisierenden ontologischen Begriff sprechen.

Und damit hätten wir ein Gegenbeispiel zu der üblichen Kritik an der Ontologie, dass sie nämlich existenzielle Sachverhalte mit einer allzu neutralen Sprache (Hauptbegriff: „das Seiende“) verdeckt. Doch in ihrer allgemeinen ontologischen Bedeutung läuft die Privation darauf hinaus, dass jede Bestimmtheit mit dem Fehlen irgendeiner anderen Bestimmtheit verbunden ist, womit auch der Übergang zu dieser möglich ist – also ein Werden oder Entstehen.

Im Buch V hat Aristoteles den Privationen einen eigenen Abschnitt gewidmet (22), wobei er die speziellen Privationen, also die echten Mängel, im Bereich des Organischen ansiedelt (Pflanze, Mensch), dabei auch die Qualifizierung „schlecht“ einführt; die allgemeinen Privationen sieht er mit dem Präfix „un“ gekennzeichnet: unsichtbar, unschmelzbar; er geht aber auch zur Unterscheidung von gut und schlecht, gerecht und ungerecht über. Einer Sonderform von spezieller Privation, der Verstümmelung, hat er einen eigenen Abschnitt gewidmet (27); dabei geht es um Beraubungen, die auf einen Unfall zurückgehen; die können sowohl einen Menschen wie einen Becher betreffen.

Wir erwähnen das von Arnold Gehlen formulierte Theorem vom Menschen als „Mängelwesen“, womit eine konstitutive also essenzielle Organschwäche des Menschen (im Vergleich zu anderen Tieren) gemeint ist. Ein anderer Begründer der Philosophischen Anthropologie, Helmuth Plessner, sprach von einer „primären Unerfülltheit des Lebewesens“, damit meinte er den für alle Tiere zutreffenden Tatbestand eines ständigen Aneignen-müssens (atmen, essen ...). Wohl in der Nähe dessen liegt Jacques Lacans Rede vom menschlichen Begehren, das durch einen unaufhebbaren Mangel konstituiert ist.


Walter Seitter

Sitzung vom 14. Februar 2018



Nächste Sitzung am 21. Februar 2018

Freitag, 2. Februar 2018

In der Metaphysik lesen (BUCH VII (Z), 1032b 30 – 1033a 5


Die begriffliche Unterscheidung sowie die Feststellung der Koinzidenz zwischen Wesen und Einzelding war das Thema in Abschnitt 6 von Buch VII – und zwar in Bezug auf alle Dinge oder Sachen, Körper oder Eigenschaften.

In Bezug auf dieselben Dinge, die ja nicht ewig sind, wird nun in Abschnitt 7 eine andere Seinsmodalität in den Vordergrund gerückt: die Entstehung.

Da werden zwei Entstehungsarten unterschieden, die in zwei verschiedenen Realitätsbereichen spielen: Natur und Kunst. In beiden Entstehungsarten gibt es jeweils eine Kontinuität des Wesens: ein neuer Mensch aus Stoff und Form (Wesen) zusammengesetzt wird aus einem wesensgleichen alten gezeugt, der ebenfalls aus Stoff und Form (Wesen) besteht; kurz gesagt: Mensch entsteht aus Mensch. Die künstliche Erzeugung oder Entstehung eines neuen Hauses wird von Aristoteles resümiert mit: Haus entsteht aus Haus; auch die beiden sind wesensgleich; aber mit dem Unterschied behaftet, dass Haus 1 nicht aus Stoff und Form zusammengesetzt ist, es ist nur Form und weil es nur Form ist, kann es nicht so in der räumlich-zeitlichen Außenwelt sein wie Haus 2 sein wird (wenn es fertig ist). Haus 1 hat einen anderen Aggregatzustand, es ist nur Form (ohne Stoff) und es braucht ein anderes Wo, ein anderes Worin. Aristoteles nennt dieses Worin „Seele“ und er meint die Seele des Baumeisters. Über diesen Unterschied hinweg entsteht auch „das Haus aus Haus“: Haus aus Form und Stoff entsteht aus Nur-Form-Haus in der Seele. (Zwischenstufen wie „Haus aus Bleistift und auf Papier“ werden weggelassen).

Das Nur-Form-Haus in der Seele mag uns verständlich sein. Ähnlich die Nur-Form-Gesundheit in der Seele des Arztes.

In der Seele des Baumeisters dürfte die Haus-Form eine größere Rolle spielen, denn sie entspricht seiner professionellen Kompetenz. Allerdings werden für ihn auch andere Formen wichtig sein: wenn er an seine Frau denkt, ist deren Form (Wesen) in seiner Seele (vielleicht sogar, wenn er nicht an sie denkt); und wenn er an seinen Urlaub denkt, irgendein Strand irgendwo. Die Seele des Baumeisters ist weit und hat Platz bzw. ist Platz für viele Sachen. 

Solche Feststellungen führen mich zu einem berühmten Satz in einem anderen aristotelischen Buch: „Die Seele ist in gewisser Weise alle Seiende.“ (De anima 431b 21).

Der Satz wird gewöhnlich übersetzt mit: „Die Seele ist gewissermaßen alles Seiende“. Da wird dem Prädikatausdruck die pluralische Formulierung weggenommen und der Satz wird so normalisiert. Das Ungewöhnliche des aristotelischen Satzes liegt in dem Bruch zwischen singularischem Subjektausdruck und pluralischem Prädikatausdruck. Dazu kommt eine gewisse semantische Unstimmigkeit zwischen „die Seele“ und „alle Seiende“.

Semantisch stimmiger: „Ein Wald ist – viele Bäume“. Dem Schema der Definition folgt so eine Aussage allerdings nicht. Eine Definition besteht aus einer – singularischen – Gattungsangabe plus irgendwelcher Differenzangabe(n). Etwa: „Ein Wald ist eine großflächige Gruppierung von Bäumen“.

Lässt sich für die obige aristotelische Prädika†sangabe auch ein Subjekt denken, das besser dazu passt? Ja: „Die Welt ist – alle Seiende“.

Sophia Panteliadou bringt als Gegenbeispiel einen in Griechenland üblichen Satz, in dem auf der Prädikatseite ebenfalls das pluralische „panta“ steht, auf der Subjektseite das singularische „Herz“. Also scheint der Satz mit dem aristotelischen sehr nahe verwandt zu sein, denn Seele und Herz ...

Und doch liegen Welten zwischen den Sätzen. Denn die griechische Redensart  „Das Herz ist alles“ bedeutet: „Es kommt aufs Herz an“, „Das Herz ist das Wichtige“. Eine Art Lebensweisheit, die ganz und gar auf einem Singular insistiert, indem sie viele Aspekte und Probleme des praktischen Lebens auf ein Eines zentriert.

Die Stoßrichtung des aristotelischen Satzes geht ins Gegenteil. Wie ich schon geschrieben habe: eine explosive Entgrenzung, in der die menschliche Seele, physikalisch Formursache oder Wesen eines Dinges namens Mensch, plötzlich alle Dinge sein soll.

Diese „panta“ sind viel pluralischer als das „panta“ im Sophia-Zitat: bei dem handelt es sich eher um den schwachen neutralen Plural, der im Griechischen üblich ist (obwohl sogar da die Plural-Bedeutung zunächst einmal ernst gemeint ist).

Der aristotelische Satz realisiert und konstruiert den Plural auf der Prädikatseite auch physisch-sprachlich mit drei Wörtern „ta onta ... panta“. Die Auseinanderziehung mit dem Intervall, die ich mit drei Punkten schreibe (oder zeichne), wird von Aristoteles auch geschrieben und zwar mit dem eingeschobenen „pos“ (gewissermaßen), das wahrscheinlich zur Kopula gehört (die sich Aristoteles allerdings erspart hat), sie könnte vielleicht sogar zu den „panta“ gehören (dann würden die abgeschwächt). Immerhin kann man sagen, dass Aristoteles sein pluralisches Prädikat mit sage und schreibe drei bis vier Wörtern anschreibt, das singularische Subjekt mit einem Wort und die Kopula mit keinem (bis einem).

Die numerische Struktur des Satzes sieht also so aus:

S                      K                      P

1                   0 oder 1               3 oder 4

Ganz grob gezählt steht es 3:1 für den Plural.



In den Weihnachtsferien habe ich am halbsüdlichen Atlantik den neuen Sammelband aus der Kittler-Schule gelesen, herausgegeben hauptsächlich von Peter Berz: Götter und Schriften rund ums Mittelmeer (München 2017). Der wichtigste Artikel will beweisen, dass die empedokleische Physik ein Abkömmling der pythagoreischen Mathematik ist. Eher scheint er mir zu zeigen, dass Empedokles zur Physik gelangt ist, indem er die Mathematik übernommen und verraten hat.

Der aristotelische Satz hingegen stellt sich von vornherein
in die Physik, in die höhere Physik, die weiß, dass Körper eigentlich immer eine Seele haben müssen. Aber mit seiner eigenen Konstruktion inszeniert er die Struktur der Mathematik, den Kampf zwischen Singular und Plural.

Die menschliche Seele ist das Wesen des Menschen: jeweils ein Wesen. Und gleichzeitig ist sie, sagt Aristoteles, das Wo, das Worin vieler, ja unzähliger Dinge – jeweils der Wesen.

Zu dem einen Menschenwesen eines jeden Menschen kommen noch viele andere Wesen dazu: aktuell einige oder viele, potenziell alle. Sie können oder müssen dazu kommen, weil das eine Menschenwesen namens Seele so ein Zauberwesen ist, dass es viele andere Wesen anzieht, aufnimmt, beheimatet, vielleicht auch wieder davonjagt und andere zu sich hereinlässt. So dass sie insgesamt ein Schauplatz, ein Theater für alle Wesen ist. Fast wie die Welt – obwohl sie doch viel kleiner ist. Wie groß ist sie? Genau so groß wie der dazugehörige Körper ....

Dieses Dazukommen der anderen Wesen, dieses Zusammenkommen aller Wesen – wie kommt es dazu? Kommt es akzidenziellerweise dazu, also zufälligerweise, oder essenziellerweise – weil das dem Wesen entspricht, das die Seele ist? Handelt es sich um eine essenzielle Akzidenzialität? Eigentlich ist der Satz so angelegt – auch mit dem Bruch zwischen Singular und endlosem Plural.

Das Zusammenkommen der vielen „fremden“  Wesen mit dem einen „eigenen“ – das substanziell und mit Stoff verbunden vorliegt, vorausexistiert, und zwar als große Offenheit für die vielen  Wesen, die da stofflos innewohnen?

Gemäß dem Hauptsatz der Ontologie (1003a 32) hat „seiend“ mehrere Bedeutungsnuancen – ist also ein relativ homonymes Wort. Andererseits gibt es für „sein“ unterschiedliche Formulierungsmöglichkeiten, die folglich als Synonyme gelten können: einai und hyparchein, enhyparchein, prohyparchein (alle diese drei in 1033a 30ff.) sowie die öfter gebrauchte Schreibweise für die Kopula, die im Anima-Satz zu finden ist und die so aussieht: . Etwas-schreiben durch Nichts-schreiben – so als ob dieses Etwas beinahe nichts wäre.

Und dieses Seelen-Wesen das alle Wesen „ist“. Ist es selber eine Art nichts?  Offenheit, Weltoffenheit? Ein offenes Fenster ist sehr wohl etwas – aber größtenteils besteht es aus „nichts“.                                                                                                       

*

Nach der kunstvollen und wesensgemäßen Produktion der Gesundheit durch den Arzt geht Aristoteles auf die spontane oder zufällige Entstehung ein. Am Körper des Kranken  vollziehen sich dabei ungefähr die gleichen Prozesse, wie sie vom Arzt gewusst und geplant und durchgesetzt werden. Und das Schema lautet: Krankheit kommt von ungleichmäßiger oder unmäßiger Kälte und der Weg zur Gesundung vollzieht sich über die Wärme, die ein Teil oder der Anfang der Gesundheit ist. Wir  fragen uns, ob das Fieber ein Argument gegen Aristoteles liefert; eher nicht, denn mit der Fieberhitze eröffnet der Körper selber – von selber also spontan - den Kampf gegen die Kälte, die in den Körper eingedrungen ist (die Kälte draußen schadet der Gesundheit gar nicht).

Etwas kann nur aus etwas entstehen: aus einem gleichen Wesen, aus einem Anfangselement, aus einem Stoff, der auch ein Teil ist. Der eherne Kreis besteht aus dem Stoff „Erz“ und der Gestalt oder dem Begriff „Kreis“. Was aus Erz ist, muss ein Körper sein. In diesem Fall ein kreisförmiger Körper – das kann ein Ring sein oder eine Scheibe.

Ein eherner Ring ist ein Körper, er besteht aus Stoff und Form. Doch aufgrund seiner Form besteht er großenteils aus „nichts“.


Walter Seitter

Sitzung vom 31. Januar 2018



Nächste Sitzung am 6. Februar 2018