In der Metaphysik lesen (BUCH
VII (Z), 1032b 1 – 29
Heute ist Irini Athanassakis bei uns zu Gast, die vor zwei
Tagen einen Vortrag über Muttermilch und die damit zusammenhängenden Praktiken
gehalten hat – und damit auch die Thematik berührt hat, die in unserem Text
behandelt wird: die Entstehung eines – neuen – Menschen. Im Unterschied zu
Aristoteles widmete sie sich einer Phase nach Zeugung und Geburt, wenn das
Menschenkind beginnt und beginnen muss, die Nahrung oral aufzunehmen. Die von
der Natur vorgesehene (aber nicht unersetzliche) Ernährung liegt im Saugen an
der Mutterbrust: Heraussaugen einer Flüssigkeit, die offensichtlich eine Zeit
lang dazu ausreicht, dem Kind das Weiterleben zu ermöglichen, und die man
durchaus als „Essen von einem Menschen“ bezeichnen kann (worüber wir im
Frühjahr 2015 bereits diskutiert haben). „Künstliche“ Ersatznahrung für
Kleinkinder wird unter Verwendung „natürlicher“ Stoffe hergestellt, fällt aber
nicht in die Kategorie „Biofakt“, denn sie lebt und wächst nicht.
Während bei den natürlichen Entstehungen das Wesen oder
die Form des neuen Lebewesens im Normalfall aus dem Samen des väterlichen
Erzeugers stammt und ins neue Lebewesen eingeht (nach unserer heutigen
Auffassung ebenso aus der mütterlichen Eizelle), stammt bei der künstlichen
Bewirkung der Gesundheit deren Form oder Wesen aus dem Wissen, das in der
Seele des Bewirkenden, des Arztes, gegeben ist. Und Aristoteles macht
einige Ausführungen dazu, wie diese Form da „logisch“ und „wissenschaftlich“
gegeben ist: als Gegenteil der Negation (Gesundheit als Gegenteil der
Krankheit) und als kausale Stufung (Bewegung, Wärme, Gleichmaß), welche auch
den Leitfaden für die entsprechende Bewirkung, also die ärztliche Tätigkeit,
liefert.
Wie die Gesundheit im Wissen des Arztes muss auch
die Form oder das Wesen des Hauses im Wissen des Architekten vorliegen –
nämlich ohne Stoff. Das Haus, das in der Außenwelt entstehen soll, wird über
Stoff verfügen, ebenso wie die zu erzeugende Gesundheit am Körper des zuvor
kranken Menschen. In diesem Sinn entsteht Gesundheit aus Gesundheit und Haus
aus Haus – und nicht ex nihilo.
Was die Herbeiführung der Gesundheit betrifft, so erwähnt
Aristoteles auch die Möglichkeit der „spontanen“ Heilung und da scheint er den
Körper des Kranken zum Agenten des Gesundwerdens zu erklären (was unserer
heutigen Auffassung wohl entspricht). Eine andere Abweichung von der
Alleinzuständigkeit der ärztlichen Tätigkeit haben wir in Buch VI gefunden, wo
eine Gesundheit nicht wie normal von einem Arzt, sondern zufällig also
„tychisch“ von einem Baumeister (und zwar nicht von seiner Baukunstkompetenz
aus) bewirkt wird (1027a 1).
Dennoch gibt es ein Naheverhältnis zwischen Kunst und
Zufall, wie Aristoteles in einem Agathon-Zitat erklärt: „Die Kunst liebt den
Zufall und der Zufall liebt die Kunst.“ (Nik. Ethik 1040a 20). Das kann man
auch in die Richtung interpretieren, dass das Kunstwerk ganz und gar von außen
hergestellt wird: von Produzenten, die zwar die Form des Kunstwerks in ihrem
Vermögen und Wissen haben, aber selber von ganz anderer Wesensbestimmung sind –
nämlich von der Wesensbestimmung mit Seele, Vermögen, Wissen. Wesen mit
Seele sind solche, die nicht nur ihr eigenes Wesen haben, nämlich die Wesenheit
namens Seele, sondern sie können in der Seele alle möglichen Sachen und Dinge
haben, jeweils nur als Wesen ohne Stoff. So die Künstler und nicht nur die
Künstler.
Aristoteles gibt nämlich folgende Definition der Seele,
die jedoch keine Definition ist, sondern eher eine geradezu explosive
Entgrenzung, die zunächst unsinnig erscheinen mag: „Die Seele ist in gewisser
Weise alle Dinge.“ (De anima 431b 21). Die Seele ist eine Wesenheit, sie ist
der wesentliche Bestandteil eines Lebewesens, dessen Ganzheit eher als Körper
zu bezeichnen ist, ein durch so ein Wesen bestimmter Körper. Und speziell die
Seele ist das Vermögen zu einer bestimmten Anwesenheit von allen Dingen. Sodass
der Mensch ein Wesen mit einem bestimmten Wesen ist und aufgrund dieses
speziellen Wesens auch alle anderen Wesen in ihm sind. So ein großzügiges oder
aber chaotisches Wesen ist der Mensch. Und deswegen kann ein Mensch Künstler
sein – Künstler in dem vormodernen und weiten Sinn des Wortes.
Sophia Panteliadou erwähnt dazu Joseph Beuys, der vor vierzig
Jahren von der „modernen“ Kunst aus die Parole „Jeder Mensch ein Künstler“
lanciert hat und mit anthroposophischen Theoremen unterfüttert hat; damit
wollte er den modernen Sinn des Wortes sprengen.[1]
Walter Seitter
Sitzung vom 24. Jänner 2018
Nächste Sitzung am 31. Jänner 2018