Sitzung vom 13. Dezember 2017
Da ich neulich einen Vortrag zum Thema „Topik, Physik,
Dramatik des Menschenkörpers. Bei Helmuth Plessner“ gehalten habe, greife
ich jetzt einige Thesen von Plessner auf (aus seinem Buch Die Stufen des
Organischen und der Mensch (1928)) – mit der Frage, wie sie sich zur
aristotelischen Philosophie verhalten.
Plessners Begriff vom Körper engt sich keineswegs auf den
menschlichen ein (wie bei neueren Philosophen eher üblich), sondern er reicht
von Stein oder Schuh bis zu Palme oder Frosch und bezieht auch den
Menschen ein. Während Aristoteles die Lebewesen durch Selbstbewegung charakterisiert
(wozu er auch das Wachstum rechnet), nennt Plessner zunächst das weniger
augenfällige Merkmal, das er „Grenzrealisierung“ nennt: lebende Körper hören an
ihren Rändern nicht einfach auf, sondern sie bauen ihre Grenzen auf je
spezifische Weise aus – so dass sie bestimmte filterartige, ventilartige
Grenzverkehre möglich machen. Diese Grenzen schließen den Körper gegen die
Umwelt ab und gleichzeitig schließen sie den Organismus zur Umwelt hin auf.
Gleichzeitig koinzidiert das Sein des Lebewesens mit einem ständigen Werden und
die Wirklichkeit mit seiner Potenzialität.
Das ergibt eine pulsierende Lockerung des Körpers im
räumlichen Sinn – Plessner spricht von „Positionalität“ als einem Hin und Her
von Anhebung und Niedergesetztsein. Und für die Zeitlichkeit des Lebewesens ist
entscheidend, dass seine Gegenwart sich von der Zukunft her bestimmt. Auch
seine Vergangenheit bekommt ihren Charakter von seiner Zukunft her – eben dies
macht Gedächtnis und schließlich Bewusstsein möglich.
Alle diese Merkmale von Abhebung, Verflüssigung und
Zeitumkehr, von Abschließung und Aufschließung würden den lebenden Körper auflösen,
wenn das Lebewesen nicht durch die Konstanz einer Formidee stabilisiert
würde. Das Lebewesen muss den Konflikt zwischen dinglicher Selbständigkeit und
vitaler Unselbständigkeit ständig austragen und bestehen. Plessner schlägt
dafür den Begriff „Prozess“ vor und nebenbei erwähnt er gewisse platonische
oder vielmehr aristotelische Denkfiguren.
Tatsächlich scheinen seine Ausführungen mit
aristotelischen Annahmen vereinbar zu sein. Wolfgang Koch vermisst darin das
Neue und sagt, das Prozessdenken, wie es von Alfred North Whitehead entwickelt
worden ist, halte nicht am „etwas“ des Lebens fest, schon gar nicht an der
Individualität des Lebewesens. Mir hingegen scheint es nicht plausibel, diese
Annahmen aufzugeben. Andererseits verfeinert Plessner sehr wohl die
aristotelischen Aussagen zum Lebewesen, da er sich eng mit der Biologie des
frühen 20. Jahrhunderts abgestimmt hat.
Wenn Plessner an der Individualität des Individuums
festhält und daher auch die Notwendigkeit und die Eigenart seiner Grenzen betont,
dann bezieht er sich damit auch auf die Menschen und insofern indirekt auch auf
die Politik. Dies hat er ausdrücklich bereits 1924 in Grenzen der
Gemeinschaft getan und vor zuviel Gemeinschaftssehnsucht gewarnt. Neben den
gemeinschaftlichen Sozialformen (Liebesgemeinschaft, Arbeitsgemeinschaft)
brauchen die Menschen auch Sozialformen, in denen die Distanzen kultiviert
werden (bis hin zur Diplomatie).
Die weiteren Ausführungen Plessners zur menschlichen
Körperlichkeit (Eigenkörper, Fremdkörper) und zu den „anthropologischen
Grundgesetzen“ („natürliche Künstlichkeit“, „vermittelte Unmittelbarkeit“,
„utopischer Standort“) überspringe ich ebenso wie den Exkurs zur Dimension von
Entropie und Ektropie und den diesbezüglichen Positionen von Felix Auerbach,
Jacques Lacan, Erwin Schrödinger. Aber Schrödingers Epilog zu seinem kleinen
Buch Was ist Leben? : die lebende
Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet (1946) erwähne ich noch;
denn dort plädiert er apodiktisch gegen die „im Westen verbreitete
Pluralitätshypothese“ – und für die Annahme, wonach es Bewusstsein, Ich, Seele
nur im Singular gebe.
Und die Grenzen der Körper?
Unsere nächste Sitzung soll am 10. Jänner 2018
stattfinden. Auf die Fortsetzung der Aristoteles-Lektüre können wir uns mit der
Frage einstimmen, zu welchem Realitätsbereich die Philosophie selber
gehört.
Walter Seitter
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