τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 26. Februar 2017

Das "Gute" | Erkenntnismöglichkeiten für die Qualität "gut"

Beim Vortrag vom 20. Februar 2017 über "Grillparzers philosophischer Hintergrund, Grillparzers Ästhetik, Grillparzer als Philosophie-Katalysator" hat sich als Hauptthema die Tatsache herauskristallisiert, daß Österreich jahrhundertelang ein Land ohne Philosophen war und daß sich erst nach der Revolution von 1848 professionelle Philosophen etablieren konnten, wozu Grillparzer lateral oder marginal beigetragen haben könnte.

Von  Wittgensteins Bemerkung zu Grillparzer (über die Wahrheit aufseiten des Unwahrscheinlichen) geht J. C. Nyiri (Gefühl und Gefüge. Studien zum Entstehen der Philosophie Wittgensteins, Amsterdam 1986) zur Kritik über, die Wittgenstein an Moritz Schlicks Ethik übt, in der gesagt worden war: Gott befiehlt das Gute deshalb, weil es gut ist. Dagegen Wittgenstein: "Gut ist, was Gott befiehlt."

Hier liegen zwei diametral entgegengesetzte Ansichten vor, die in der Geschichte des Denkens auch schon lange davor diskutiert worden sind - etwa zwischen dem Rationalismus eines Thomas von Aquin und dem Voluntarismus eines Duns Scotus.

Wittgenstein stellt den Willen Gottes über die Qualität des Guten, er macht diese von einem Willen abhängig, von einer personalen  Autorität.

Ganz anders Schlick, der es wagt, eine bloße Qualität unabhängig von einer höchsten Autorität einmal vorauszusetzen. Dieser höchsten Autorität bleibt dann nichts übrig, wenn sie befehlen will, als die vorausgesetzte Qualität anzuordnen, ihr zur Durchsetzung zu verhelfen. 

Die Position von Schlick ist auch dann verständlich, wenn die Existenz Gottes in Frage gestellt wird. An die Stelle dieses Befehlenden können auch andere Autoritäten gesetzt werden: König, Parlament, Gericht. Innerhalb einer staatlichen Ordnung sind die Entscheidungen solcher Instanzen anzuerkennen, als gültig und richtig zu akzeptieren.  Ob sie wirklich als gut anzunehmen  sind, hängt jedoch davon ab, ob es Erkenntnismöglichkeiten für die Qualität "gut" gibt.

Diese Erkenntnismöglichkeiten scheint Schlick vorauszusetzen, obwohl man das ihm als einem Positivisten kaum zutraut. 

Unabhängig davon würde ich sagen, die Qualität oder vielmehr die Qualitäten, die mit dem Wort "gut" ausgedrückt wird bzw. werden, sind erkennbar. Das heißt nicht: jederzeit mit einem Schlag schon klar. Wohl aber können sie empfunden und gespürt werden, sie müssen aber auch praktiziert, auch artikuliert, besprochen, hin und her diskutiert werden. Häufig wird diese Qualität nur ex negativo  empfunden werden - aber dann umso stärker und fordernder. Es handelt sich nämlich beim Guten um eine fordernde, eine normative, eine anrufende Qualität.  Diese Rede suggeriert nun doch wieder etwas Personales, was in Richtung einer Autorität gedeutet werden könnte, was in die Richtung Wittgensteins zu weisen scheint, bei dem es  auch einmal heißt: „Wenn etwas gut ist, so ist es auch göttlich. Damit ist seltsamerweise meine Ethik zusammengefaßt“. 

Indessen scheint mir diese Formel viel unklarer als die kleine Kontroverse zwischen Schlick und Wittgenstein, bei der ich mich auf die Seite von Schlick stelle.

Läßt sich von dieser modernen bzw. zeitgenössischen Problemstellung ein Bogen zur antiken Thematisierung schlagen, die hier am 8. Februar in Erinnerung gerufen worden ist?

Platon hat die Eigenschaft "gut" zum "Guten" substantiviert und dieses zur höchsten "Idee" erhoben, der substanzhafte Wirklichkeit zugesprochen wird. Aristoteles hat diese Lehre jahre- ja jahrzehntelang gehört und diskutiert. In der Nikomachischen Ethik schiebt er sie beiseite, weil ein solches "Gutes" für die Menschen unzugänglich sei. Für die Ethik sei die Qualität "gut" relevant und die werde in den "Tugenden" faßbar.

Es gibt also einen Unterschied zwischen der platonischen und der aristotelischen Sicht des Guten, die sich wohl auch auf die ethisch-politischen Anwendung auswirken dürfte. Aber in der hier aufgeworfenen Unterscheidung zwischen einer autoritären und einer kognitiven Fassung von "gut", also zwischen Wittgenstein und Schlick, stehen sowohl Platon wie auch Aristoteles aufseiten der kognitiven Fassung.  Damit verbunden ist eine gewisse Unabhängigkeitserklärung der Moral von positiven Religionen.  Eine Ansicht, die in der Gegenwart von vielen philosophisch denkenden Wissenschaftlern geteilt wird, z. B.  von Jan Assmann, Michael Tomasello.[1] 



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[1] Die Differenz zwischen Platon und Aristoteles relativiert sich weiterhin, wenn man bedenkt, dass die Lehre von den Tugenden ein großes sokratisch-platonisches Erbstück ist und dass andererseits auch Aristoteles substanzhafte Versionen des Guten kennt: Gott, (menschlicher)  Geist.


Walter Seitter


Zusatzprotokoll zur Sitzung vom 8. Februar und dem Montagsvortrag der Sektion Ästhetik vom 20. Februar 2017

Donnerstag, 23. Februar 2017

In der Metaphysik lesen (Buch VI, 1026a 8 – 19)


Der eben gelesene kleine Abschnitt, der der Physik gewidmet ist, scheint mit seinen Beispielen aus der menschlichen und der pflanzlichen Anatomie etwas über die Vorlesung Physik hinauszugehen. Tatsächlich befasst  sich die  Wissenschaft der Naturkunde mit allen Naturkörpern, ja mit der Definition aller wahrnehmbaren Wesen (VII 1037a 14). Wir gehen davon aus, dass Aristoteles beim Schreiben dieses Buches hier die Physik   bereits vorliegen hatte, und das würde heißen, dass seine Situation mit der meinigen insofern vergleichbar ist, weil ich ebenfalls schon eine sehr weit ausholende Philosophische Physik in mehreren Büchern in Angriff genommen habe und von dieser Ausgangslage aus die zusätzlichen theoretischen Wissenschaften als Leser ins Auge fasse.

Wobei sich die Frage stellt, welche zusätzlichen Disziplinen es da noch gibt.

Für Aristoteles beantwortet sich die Frage zunächst mit der Mathematik. Doch diese Antwort fällt äußerst knapp aus – es scheinen nur unbewegliche und selbständige Gegenstände überhaupt noch übrigzubleiben – sind die wirklich Sache der Mathematik? Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass er sich hier so zurückhaltend äußert – obwohl wir doch offiziell längst „wissen“, dass die Mathematik für Aristoteles die zweite betrachtende Wissenschaft ist und welche ihre Gegenstände sind.  Es gibt ja Leute wie Friedrich Kittler, die behaupten, Aristoteles habe ein gestörtes Verhältnis zur Mathematik, er habe den Ahnherrn der griechischen Mathematik, Pythagoras, nie verstanden. Von mir selber weiß ich leider, dass ich da ziemlich schwach bin.

Aristoteles noch einmal: Unbewegliches und Selbständiges ist Sache der Mathematik.

Und dann: wenn es Ewiges, Unbewegliches, Selbständiges gibt – also das Gleiche plus Ewiges, wenn es das gibt, ist es Sache einer betrachtenden Wissenschaft. Aber nicht der Physik und nicht der Mathematik (deren Zuständigkeit jetzt anders bestimmt und geteilt wird). Sondern einer dritten oder vielmehr vorausliegenden, einer ehesten, also ersten Wissenschaft, die vom pluralischen Selbständigen und Unbeweglichen handelt – das doch zuvor der Mathematik zugeordnet worden war. Aber wohlgemerkt nur,    w e n n  es Ewiges, Unbewegliches, Selbständiges gibt.

Und diese Sachen werden jetzt plötzlich zu Ursachen ernannt – zweifellos eine Ernennung nämlich Aufwertung.

(Wie steht es eigentlich mit der Wertfreiheit (oder nicht) der drei Wissenschaftsrichtungen?

Die poietischen Wissenschaften werden kaum als wertfrei gelten können – denn sie zielen ja auf Herstellungsfähigkeiten, die ihrerseits erwünschte also wertvolle Werke hervorbringen sollen: Gesundheit, Gedicht oder dergleichen.

Die praktischen Wissenschaften zielen auf Handlungen, die in sich selber erwünscht also gut also wertvoll sein sollen.

Im Unterschied dazu sind die theoretischen Wissenschaften „wertfrei“, weil sie nur betrachten und aussprechen (!), was so ist, wie es ist – ohne ein Eingreifen, ohne Verändern, ohne Wunschdenken. Aber wie wir gleich lesen werden, spricht Aristoteles gerade diesen Wissenschaften einen Wert zu und zwar den höchsten. Oder soll  man sagen: einen Rang und zwar den höchsten?

Die drei Wissenschaftsrichtungen haben also alle etwas mit irgendwelchem Guten zu tun – aber wo und wie und inwiefern?)

Nach dieser Betrachtung in der Klammer und auf Metaebene wieder zurück zu den Gegenständen der dritten beziehungsweise ersten betrachtenden Wissenschaft – falls es solche Gegenstände überhaupt gibt.

Es sind Ursachen (im Plural) für die Sichtbarkeiten, Offenbarkeiten, Erscheinungen, Evidenzen (im Plural) des bzw. der Göttlichen (im Plural).

Wolfgang Koch sagt, dass Aristoteles hier den Sprung in die Spekulation macht.  Er selber könne das Gesagte nicht nachvollziehen, wolle es aber nicht abwerten.

Ich sage zum einen, dass mit den „Sichtbarkeiten“ die Funktion der Betrachtung und Nachvollziehbarkeit aufrecht bleibt. Insofern die Sichtbarkeiten solche der Göttlichen sind, gibt es jedoch einen Übergang mit Differenz. Die Göttlichen scheinen zwar zu erscheinen, aber die Erscheinungen sind nicht ganz identisch mit den Erscheinenden. Wir haben auch ansatzweise davon gesprochen, was diese Erscheinungen sein könnten: die äußerste aus den Fixsternen bestehende Sphäre des Kosmos, deren Materie der Äther ist – siehe Himmel.

Zum andern wird mit dem „wenn“ (das dann gleich wiederholt wird) eine Kluft eingeführt, ein Abgrund, der diese  dritte und angeblich erste betrachtende Wissenschaft (mitsamt den Erscheinungen) von den eher normalen beiden ersten (für uns ersten!) Wissenschaften trennt. Wenn es das überhaupt gibt ... Da wird ein Fragezeichen davor gesetzt ...  eine „Als-Ob-Betrachtung“? Also doch Spekulation?

Soviel einstweilen zu dem winzigen Satz 1026a 18. Rührt hier Aristoteles zum ersten Mal – in der Metaphysik – an das Göttliche? Im Buch I geschah das schon (982b 29ff., 983b  29) – aber war es dort nur historisch gemeint? Nicht nur. Dazu kommen noch im Buch V bei der Nennung der Körper(!), die Wesen sind, die daimonia (1017b 12).

Zusammenfassend nennt Aristoteles noch einmal die drei betrachtenden Wissenschaftsrichtungen: die mathematische, die physische, die theologische. Doch plötzlich bezeichnet er sie als „Philosophien“ und verleiht ihnen damit einen höheren Status.

Diese auffällige Tatsache muß uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Projekt „Metaphysik“ in dem Buch bisher fast immer unter „Wissenschaft“  lief. Von Anbeginn an lief es unter „gesuchte Wissenschaft“ und das bedeutet, dass es bereits etablierte Wissenschaften gibt, zu denen nun eine weitere hinzukommen soll. Die etablierten sind solche, die es schon seit längerem gibt – so die Mathematik mitsamt ihren Gliederungen, so die Medizin; dann die Physik, die Aristoteles selber in Form gebracht hatte (die aber auch schon Vorgängerinnen gehabt hatte).

Die aristotelische Philosophie wurde von Anfang an und jederzeit im Horizont der Wissenschaften entwickelt – die besprochene Klassifikation verstärkt die Bedeutung des Plurals. Dieser Horizont gehört zu ihr und zu jeder Philosophie. Philosophen, die die Philosophie aus dem Horizont der Wissenschaften emanzipieren wollten, würden in eine déformation professionelle verfallen, die als „Philosophismus“ bezeichnet wird: Befreiung der Philosophie von den Kriterien der Wissenschaftlichkeit (Nachvollziehbarkeit, Diskutierbarkeit).  Aristoteles wird die Philosophie immerzu unter der großen, nicht übermäßig vornehmen Gattung „Wissenschaft“ subsumieren. Und damit reiht er sich eher bei den "analytischen" Philosophen ein als bei den "kontinentalen". 

Plural oder Singular?


Natürlich kann  man, muß man jedes Substantiv, je nach Sachlage, im Singular oder im Plural verwenden. Im 19. Jahrhundert gab es eine Tendenz, bestimmte Wörter in einen feierlichen und irgendwie anspruchsvollen Singular zu setzen. So auch „die“ Wissenschaft. Und besonders interessant, vor allem für den Bereich der poietischen Fähigkeiten, Tätigkeiten, Wissenschaften: „die“ Kunst, „die“ Technik. Beide vom griechischen Wort techne abgeleitet, welches eine Vielzahl von Techniken/Künsten bezeichnet hat. „Die“ Kunst und „die“ Technik reißen den mannigfaltigen Bedeutungsraum von techne dualistisch auseinander und suggerieren zwei große womöglich unverträgliche Institutionen.


Walter Seitter


Sitzung vom 22. Februar 2017

Donnerstag, 16. Februar 2017

In der Metaphysik lesen (Buch VI, 1025b 30 – 1026a 7)


Die Physik, also Naturwissenschaft, Naturkunde, Naturlehre, ist so eine theoretische Wissenschaft und sie beschäftigt sich mit Dingen, die sich bewegen können, aber auch mit dem begriffsmäßigen Wesen, sofern es in der Regel nicht getrennt vom Stoff existiert. Bereits mit dieser Zweiheit formuliert Aristoteles neu, was er in der Kategorienschrift mit Erster Substanz und Zweiter Substanz sowie im Abschnitt 8 von Buch V mit Körper und Seele unterschieden hatte. Ohne Herausarbeitung des Was oder der Wesenheit gibt es keine Wissenschaft und schon gar nicht eine theoretische Wissenschaft.

Was nun die Körper betrifft, hatte er schon in Buch V auch deren Teile unter den Begriff ousia gestellt, was uns wundern mag, da wir Körperteilen kaum die Leistung der selbständigen Existenz oder gar der Selbstbewegung zuschreiben dürften – allerdings finden sich gerade am Menschen viele Körperteile, die doch dazu fähig zu sein scheinen, etwa Arme, Hände und sogar Finger, erst recht das Herz als Hauptmotor und –maschine, und das gilt sogar für die Nase, die als eine Art Luftbewegungmaschine funktionieren kann.[1]

Aristoteles treibt jetzt die Polarität zwischen Körperding und Begriffswesen auf die Spitze, indem er einerseits den Körperteil Nase und andererseits eine mögliche, im Grunde genommen paradoxe und jedenfalls akzidenzielle Eigenschaft derselben, nämlich die Eigenschaft „hohl“ (konkav), aufstellt; paradox weil die Nase insgesamt als Körpervorsprung zur geometrischen besser gesagt topologischen Eigenschaft „konvex“ neigt oder vielmehr ragt. Jetzt soll ausgerechnet die der äußeren Nasengestalt abgeschaute Eigenschaft „hohl“ für das Wesen stehen und diesem Wesen werden drei Grade von zunehmender Abstraktion bzw. abnehmender Konkretion zugeschrieben, was in Richtung Logik bzw. formale Ontologie geht: Hohlnase, Hohlnasigkeit, Hohlheit.[2] Aber im ganzen Beispiel geht es um „Nasologie“ als Teildiszipin der Physiognomie bzw. Physiologie und wenn wir die Sache so ernst nehmen, wie wir sollen, denn ein Nur-Logiker ist Aristoteles nicht und wir hoffentlich auch nicht, so kommen wir drauf, dass auch die beiden anderen großen Wissenschaftsrichtungen sich um die Nase kümmern könnten.[3] Vor allem die poietisch-technischen Wissenschaften - angefangen von der Medizin mit Nasenheilkunde (Rhinologie), Nasenpflege, prothetische und ästhetische Nasenchirurgie (Rhinoplastik), bis hin zum Nasenschmuck mit Piercing oder ähnlichem sowie zur Riechkultur, wozu es neuerdings viele Bücher, auch philosophische gibt. Wie überhaupt alle technischen und ästhetischen Eingriffe müssen sich auch die nasenspezifischen gewissermaßen an der Nase fassen (lassen) und sich der Frage aussetzen, ob sie jeweils zum Glück der Menschen beitragen und die Glücksproblematik ist nach Aristoteles eine Frage der „Praxis“, die nach Kriterien des „Guten“ oder der „Tugenden“ zu entscheiden und zu besorgen ist, die ihrerseits in einer praktischen Wissenschaft überlegt und besprochen werden sollte. Die ästhetische Chirurgie etwa mag auch Sache der ärztlichen Ethik sein, die seit dem Hippokratischem Eid die Heilkunst in den Bereich der „Praxis“ einrückt.

Ich habe das Nasenbeispiel jetzt noch etwas detaillierter besprochen als Aristoteles das tut. Noch weniger detailliert nennt er in der Folge fast zehn weitere natürliche Körper oder Körperteile – aus den Bereichen der menschlichen und der botanischen Anatomie. Bei den Körpern geht die Analyse, wenn sie nicht nur mit der Sprache sondern auch mit Händen und Messern operiert, in die Anatomie über. Und bei all dem findet der Naturwissenschaftler immer auch die Wesenheit oder „Seele“, wie Aristoteles nun wieder ausdrücklich feststellt (1026a 6). Denn die Seele ist nichts anderes, als die Formursache, die die besseren Körper, die selbstbewegungsfähigen, qualifiziert, befähigt, beseelt.

Daher habe ich vor mehreren Jahren die ungefähr zehn aristotelischen Synonyme für „Formursache“ zusammengeschrieben und an ihre Spitze den Begriff „Seele“ gestellt – und das Ganze unter den Titel „Morphismus, Energismus, Krypto-Animismus .... Eine postaristotelische Glosse“. Jetzt ist der Text erschienen in Irene Albers (Hg.), Anselm Franke (Hg.):
Nach dem Animismus (Berlin 2017).

Der heute von uns gelesene Text zeigt geradezu drastisch, wo dieser Seelenbegriff seinen Platz hat: in der Philosophischen Physik.




Walter Seitter


Sitzung vom 15. Februar 2017




Buchempfehlung:

I. Albers,  A. Franke (Hg.): Nach dem Animismus  (Berlin 2017)

Mit Beiträgen von: Agentur, Artefakte // anti-humboldt, Cornelius Borck, Anselm Franke Alejandro Haber, Tom Holert, Harry Garuba, Avery Gordon, Maurizio Lazzarato und Angela Melitopoulos, Esther Leslie, Chris Marker, Spyros Papapetros, Elisabeth von Samsonow, Erhard Schüttpelz, Gabriele M. Schwab, Walter Seitter, Michael Taussig, Paulo Tavares, Eduardo Viveiros de Castro, Rane Willerslev 




Anmerkungen:

[1] Die jeweils getrennte Selbstbeweglichkeit der Finger ist zum Ausgang der sogenannten Digitalität geworden, die – nach Fritz Heider – die Philosophische Physik generiert hat; siehe Walter Seitter: Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen (Weimar 2002): 41ff.
[2] Indem Aristoteles von der Nasenästhetik ausgehend so tut, als würde er die Hohlheit zur Wesenheit der Nase erklären  (wie Heidegger die Hohlheit des Kruges zelebriert hat), wobei er die tatsächliche und wesensnotwendige innere Nasenhöhlung ignoriert, treibt er den Akzidenzialismus noch viel weiter als mit der Erhebung von „verstümmelt“ zu einem Hauptbegriff der Philosophie im Buch V.
[3] Im 18. Jahrhundert erfand der Hannoveraner Arzt Johann Georg Zimmermann (1728-1795) die neue Wissenschaft „Nasologie“, die Aristoteles anscheinend 2000 Jahre zuvor schon ins Auge gefasst hatte – und die vielleicht erst jetzt ausgearbeitet werden könnte. 

Freitag, 10. Februar 2017

In der Metaphysik lesen: Tugenden und die Liebe zum Guten

Da „wir“ bekanntlich in den Jahren 2007-2010 mit der Poetik eine wichtige Vertreterin der „poietischen Wissenschaft“ gelesen haben und diese Lektüre in Poetik lesen (Berlin 2010, 2014) nachgelesen werden kann, bringe ich heute ein Beispiel der „praktischen Wissenschaft“, das zufällig letzte Woche entstanden und vorgetragen worden ist, indem ich im Stift Melk an einer „Interreligiösen und Interkulturellen Begegnung“ teilgenommen habe und dort gesprochen habe.



Hier der Text:

Die Liebe zum Guten


Liebe Damen und Herren,


das Gute ist kein Wesen und kein Ding, also auch keine Gottheit, keine Person, keine Gemeinschaft. Es ist nur eine Eigenschaft, eine Bestimmtheit. Man könnte sagen, es ist etwas Abstraktes und Allgemeines. Trotzdem aber nicht etwas Unbestimmtes. Es setzt sich immer ab von einem Schlechten oder gar von einem Bösen. Oftmals tritt es sogar erst dann in unser Bewußtsein, wenn das Schlechte oder gar das Böse überhandnehmen und sich ins Unerträgliche steigern. Der französische Philosoph Michel Foucault gehörte zu denen, die große Schwierigkeiten damit haben, den Begriff des Guten mit Erkenntnis, also mit einer gewissen Allgemeinverständlichkeit, mit so etwas wie Objektivität zu verbinden. Er neigte dazu, die Sache vom Gegenteil aus begreiflich zu machen, das war für ihn das Unerträgliche.


Die  Unterscheidung zwischen dem Schlechten oder Bösen einerseits und dem Guten andererseits werden wir alle seit frühen Kindheitstagen zu machen gelernt haben, sowohl innerhalb wie auch außerhalb von religiösen oder parteipolitischen Traditionen. Auch außerhalb von oder zwischen derartigen Großtraditionen haben wir Erfahrungen gemacht im Alltag, in Familien und Schulen, mit Geschichten und mit Büchern, mit Vorbildern, die unsere Sensibilität für das Gute gebildet haben.


Quer zu dieser Grundunterscheidung lassen sich innerhalb des Guten viele Nuancen unterscheiden, die vom körperlich Angenehmen, über vielfältig Nützliches, zum mitmenschlich Hilfreichen, Edlen, Gerechten, Richtigen, Großzügigen, vielleicht sogar zum Heroischen reichen. Lauter Eigenschaften, die an bestimmten Dingen oder Wesen vorkommen, jedenfalls vorkommen sollen. Wir erwarten sie von Handlungen und Verhaltensweisen anderer, man erwartet sie aber auch von unseren Handlungen.


Ich habe von religiösen und parteipolitischen Traditionen gesprochen. Es gibt sie, weil die Menschen orientierungsbedürftige Tiere, pardon Wesen sind. Derartige Orientierungsversuche und -angebote neigen oft zu einer gewissen Engführung und daher sollte man sich aus den Verengungen herausarbeiten, muß deswegen aber nicht jene Traditionen völlig abwerfen. Es gibt eine zusätzliche Orientierungsmöglichkeit – und dies wohl nicht nur in Europa. Man nennt sie „Bildung“ und man meint damit die ernsthafte Beschäftigung mit Wissensbeständen oder Kunstleistungen, etwa mit Fremdsprachen oder mit Musikausübung oder mit Poesie. Auch die Philosophie wird man da nennen können. Diese Beschäftigungen liefern keine direkten Anleitungen zum Guten im Sinn der Ethik, aber sie weiten den Horizont, sie fügen zum Guten die Dimensionen des Schönen und des Wahren hinzu und halten die Tendenz zum Fanatismus auf. Der Fanatismus, sowohl religiöser wie auch politischer Art, pervertiert das Gute zum Bösen hin. Schon deshalb ist das Böse niemals und nirgendwo völlig ausgeschlossen, auch dann nicht, wenn sich alle fleißig zum Guten bekennen. Verkündigungen und Bekenntnisse allein genügen nicht, sie können sogar kontraproduktiv wirken, indem sie Langeweile verbreiten oder antiautoritäres Aufbegehren provozieren.


Zweifellos ist der Dialog eine wichtige Praxisform innerhalb der Orientierung auf das Gute. Dabei wird auch die Unterscheidung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen eine Rolle spielen. Ein politischer Begriff wie der der „Menschenrechte“ gilt dennoch in allen Bereichen und seine Geltung impliziert logisch den Begriff der „Menschenpflichten“. Auf der anderen Seite sollten auch sogenannte Bösewichter nicht ein für allemal „abgeschrieben“ im Sinn von ausgeschlossen werden.


Traditionen und Erfahrungen müssen nicht zu festen Standpunkten führen, die sich der Diskussion entziehen. Wenn die Menschenrechte, wie man sagt, „nicht verhandelbar“ sind, wenn Tötung und Gewaltanwendung abgelehnt werden, so müssen diese Positionen doch diskussionsfähig bleiben, weil sie auf Erkenntnis beruhen, nicht auf bloßer Indoktrinierung. Möglicherweise werden diese Positionen dann auch gewisse Flexibilitäten für Grenzfälle entwickeln.


Erkenntnis in Form von Sensibilität, Spürsinn, letzten Endes von  Empfindlichkeit für Verletzlichkeit, dem Mitgefühl für Verletzlichkeit. „Gefühl“ ist hier kein bloßes Fühlen, sondern die Verdichtung der fünf körperlichen Wahrnehmungssinne zu einem körperlich-seelischen Gemeinsinn: Sinn für das Gemeinsame der Unterscheidung zwischen dem Guten und dem weniger Guten. Und die Bereitschaft, das Gute in Wort und Tat weiterzutragen.

Zum Schluß drei Wortpaare, die das ethisch-politische Gute umschreiben:

Selbsterhaltung und Selbsthingabe

Selbsterhaltung und Welterhaltung

Selbstverbesserung und Weltverbesserung





 Melk,   2. Februar 2017                        Walter Seitter






Diese kleine Rede ist nicht in einem wissenschaftlichen oder gar akademischen Zusammenhang gehalten worden, sondern in einem „praktischen“ – im engeren aristotelischen – Sinn; wenn nämlich Freundschaft zwischen Menschen und Menschengruppen dem Bereich der Praxis zugeordnet werden kann,  was ohne Zweifel der Fall ist. Ich habe dabei nicht an Aristoteles gedacht sondern an bestimmte heutige Probleme des Zusammenlebens.

Da ich immerhin als Philosoph gesprochen habe, wird die Rede wohl doch wissenschaftlich geraten sein, also nicht bloß wünschend-empfehlend sondern auch überlegend, klarstellend, unterscheidend, ein bisschen argumentierend.

Die Begriffseinführung am Anfang geht von einer Formulierung aus, die mit der Substantivierung des Adjektivs (gut-Gutes) eindeutig auf Platon verweist, jedoch die Substantivierung in Richtung „Eigenschaft“ zurücknimmt.

Nun trifft es sich, dass Aristoteles im Abschnitt 4 von Buch I der Nikomachischen Ethik eine Überlegung anstellt, die seine eigenen biographischen Anfänge als Platon-Schüler zum Ausgangspunkt nimmt. Platon hat „das Gute“ in seine Ideenlehre eingefügt, ja es an die Spitze der „Ideen“ gestellt. Doch ein solches Gutes können die Menschen weder erwerben noch realisieren. (Nik. Eth. 1096b 33) Dennoch hält Aristoteles an der Rede vom „Guten“ fest, flexibilisiert es indessen analog zum „Seienden“ (siehe Met. IV, 1-2), entsprechend der Vielzahl der Kategorien: substanzhaft existiert das Gute in Gott und Nous, qualitativ in den Tugenden, quantitativ im rechten Maß, relational im Brauchbaren oder Nützlichen (gut zu etwas), temporal im kairos, lokal im Erholungsaufenthalt (1096a 23ff.).

Mit der zuletzt genannten Bestimmung trifft Aristoteles das, was heute als Tourismus betrieben wird (und wohl seit vielen Jahrtausenden bei den Vögeln üblich ist). Das ethisch-politische Gute verbindet er mit dem Akzidens der Qualität, genau so wie ich, verwendet aber dafür das heute altmodische klingende Wort „Tugenden“.



1025b 8-30

Buch VI  bewegt sich auf der Ebene der theoretischen Wissenschaften (sie werden auch die „dianoetischen“ genannt) und da unterscheidet Aristoteles unterschiedliche Vorgehensweisen: Ausgang von den Sinneswahrnehmungen oder reine Wesens-Betrachungen ohne Entscheidung über Existenz oder Nicht-Existenz. Absetzung von den poietischen und von den praktischen Wissenschaften (bei diesen steht der Ineinsfall von Entscheiden und Handeln für die Selbstzweckhaftigkeit der Praxis).





Walter Seitter


Sitzung vom 8. Februar 2017

Donnerstag, 2. Februar 2017

In der Metaphysik lesen – Wissenschaftsklassifikation

Anstatt im Text weiterzulesen, kommen wir noch einmal auf die aristotelische Wissenschaftsklassifikation zurück.

Zunächst lässt sich feststellen, dass so eine Klassifikation ein typisches Beispiel dafür ist, was als „Metawissenschaft“ gelten kann – im Gegensatz zu Objektwissenschaft. Es wird nämlich nicht eine Wissenschaft betrieben, die sich einem Objekt, sei es einem Naturgegenstand oder einer Kulturerrscheinung, zuwendet, sondern es wird etwas über eine Wissenschaft, in diesem Fall sogar über alle Wissenschaften, etwas gesagt. Diese Bedeutung von „meta“ ist erst am Anfang des 20. Jahrhunderts eingeführt worden, und zwar von dem polnischen Logiker Alfred Tarski. In der Antike hingegen war das Präfix „meta“ mit der Bedeutung „nach“ versehen – in der die moderne Bedeutung allerdings schon impliziert erscheint.

Ein erster Blick auf die aristotelische Wissenschaftsklassifikation zeigt, dass es sich um eine große, sehr grundsätzliche Gliederung handelt, in der allerdings das typisch Wissenschaftliche, nämlich das Theoretische, nur einen Pol bildet, sodaß Nicht-Wissenschaftliches in die Gliederung einbezogen zu werden scheint. Dieses aber wird nicht auf einen Gegenpol, das Praktische, konzentriert, sondern in zwei Glieder zerlegt: das Poietische und das Praktische. Es ergibt sich  also nicht einfach ein Dualismus aus Theoretisch und Praktisch – sondern es entstehen auf der Gegenseite zum Theoretischen zwei speziellere Glieder: ein Praktisches in einem engeren Sinn und ein spezifisch Poietisches. Diese beiden Wissenschaftsformen begnügen sich nicht mit Erkennen (auf das sie natürlich verpflichtet sind) sondern zielen darüber hinaus auf Tätigkeiten, aber zwei unterschiedliche Tätigkeiten, deren Unterschiedlichkeit jedoch seit der Neuzeit den Menschen nicht mehr so einleuchtet: dem Herstellen, das auf erwünschte Resultate zielt, und dem Handeln, das selbstzweckhaft wichtig, entscheidend ist – und „gut“ sein soll. Damit ist der Bereich des ethischen, politischen Tuns (und Leidens) gemeint. Die Herstellungen hingegen zielen auf angenehme, nützliche, schöne Resultate: „Werke“.

In der antiken Realität ruhten diese beiden Tätigkeitsformen auf einer dritten auf, die als so niedrig galt, dass sie von den Philosophen ignoriert worden ist: auf der gewöhnlichen mühseligen Arbeit, die man nur den Sklaven (und den Frauen) zumutete und die keiner wissenschaftlichen (und lehrhaften) Erörterung würdig war.

Die Dreiheit aus Arbeit, Herstellen, Handeln (in aufsteigender Reihenfolge) ist sehr postaristotelisch (aber ganz in seinem Sinn) erst im 20. Jahrhundert nach Christus formuliert worden und zwar von einem besten Philosophen überhaupt: Hannah Arendt in ihrem Buch Vita activa. Ich sage „einem besten Philosophen“ – weil ich sie mit allen Philosophen vergleiche.

Arendt klassifiziert nicht Wissenschaften, sondern sie erörtert Tätigkeitsweisen. Also macht sie nicht Metawissenschaft sondern Objektwissenschaft – hauptsächlich praktische Wissenschaft,  modern gesagt eher Subjektwissenschaft (Anthropologie).




Walter Seitter


Sitzung vom 1. Februar 2017