τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 25. Februar 2016

In der Metaphysik lesen (1023a 33 – 1023b 25)

In unserer Lektüre der Metaphysik haben wir uns öfter die Frage gestellt, ob das Buch eher der herkömmlichen Vorstellung von „Metaphysik“ entspricht – also Frage nach den ersten bzw. letzten Ursachen aller Seienden – oder eher der „Ontologie“ als Betrachtung des Seienden als solchen. Buch IV und V scheinen die zweite Untersuchungsrichtung einzuschlagen, welche die eher formalen und immanenten Seinsmodalitäten erörtert. Die Seinsmodalitäten werden vor allem mit den zehn Kategorien (Substanz und Akzidenzien) abgedeckt; dazu kommen noch Modalitäten, die im Buch IV genannt werden, wie Entstehung, Zerstörung, Möglichkeit, Wirklichkeit. Diese Modalitäten bestimmen nicht die Wesensarten und Realitätsbereiche selber, setzen sie jedoch voraus, durchqueren und verbinden sie. Sie fügen dem Was das Wie hinzu, den verschiedenen Was die verschiedensten Wie, dynamisieren sie damit in Richtung Geschehen, Beziehung, Handlung, Schicksal. Im Protokoll vom 4. Februar habe ich die Dimension der Ontologie in die Nähe des „Politischen“ gerückt, von dem Carl Schmitt sagt: „es bezeichnet kein eigenes Sachgebiet, sondern nur den Intensitätsgrad einer Assoziation oder Dissoziation von Menschen, deren Motive religiöser, nationaler ..., wirtschaftlicher oder anderer Art sein können.“[1]

Das Gemeinsame liegt in einem Formalismus, der verschiedene Möglichkeiten und vor allem Wirklichkeiten durch die Sachgebiete hindurchtreibt.

Wir können davon ausgehen, dass die aristotelische Physik, die den großen Gattungsbereich der Natur im Sinne der beweglichen Körper abhandelt, eigentlich auch die Spezies Mensch einschließt, doch bleibt diese in jener sogenannten Zweiten Philosophie merkwürdig still und ungesagt. Sie bildet aber didaktisch die Basis für die sogenannte Erste Philosophie, die in der Metaphysik abgehandelt wird. Hier wird nun wie schon angedeutet die ontologische Dimension der Seinsmodalitäten mit viel mehr Differenzierung und Dramatisierung aufgerollt. Im Buch IV wird ihre Mannigfaltigkeit ausdrücklich statuiert, die zehn Kategorien werden vorausgesetzt und ergänzt durch eine kleine Anzahl von äußerst einschneidenden Modalitäten wie „Weg ins Wesen“, Entstehung, Zerstörung, Beraubung und so weiter. Und dann folgen im Buch V die dreißig Begriffe, von denen nur einer eine Wesenheit, eben die Natur, bezeichnet, alle anderen irgendwelche Modalitäten. Und jeder dieser Begriffe wird bedeutungsmäßig auseinandergelegt, jede Bedeutung mit einem Beispiel konkretisiert. Und in diesen Beispielen kommen auch „Fälle“ zur Sprache, die aus dem menschlichen Alltagsleben stammen – bis hin zu Grundbestimmungen der Politik. Mikropolitik und Makropolitik.

Das „Politische“ in einem an Carl Schmitt angelehnten Sinn des „Elementarpolitischen“, das auch die Polis als ein Menschen und andere Wesenheiten (Erde, Wasser, Luft ...) verbindendes Ganzes meint, tritt ausgerechnet in der Metaphysik deutlicher hervor als in der sogenannten Physik. Die Metaphysik, welche explizit die Ontologie (allerdings ohne diese Bezeichnung) programmiert und skizziert, lässt auch das Menschliche zur Sprache kommen, sie verschiebt sich – kaum merklich, aber immerhin - in Richtung „Menschenphysik“. Wobei die Menschen nicht nur als Beispiel-Objekte anvisiert werden, sondern auch als „Kollegen“ des Aristoteles selber aufgerufen werden. So im ersten Satz als nach Wissen Strebende, im Buch I als theologisiert oder philosophiert Habende, im Buch III als in Aporien Verstrickte und sich daraus herausarbeiten, also philosophieren Sollende, im Buch IV als Scheinphilosophen und Feinde der Philosophie (eine Feinderklärung fast im Sinne von Carl Schmitt). Die Menschenphysik bewegt sich in Richtung Menschenpolitik. Politik im engeren Sinn bzw. Politisches als deren Wesensbestimmung und Postulierung.

Mit der physikalischen Basis und mitsamt der ontologischen Stoßrichtung wahrt dieses Politische die Verbindung zu anderen Seinsbereichen und den Bezug zur Notwendigkeit von Entscheidungen wie denen zwischen Ordnung und Chaos. Da die Physik die Lehre von den beweglichen Körpern ist, hat es die Politik notwendigerweise mit Topik (im wörtlichen Sinn) und Kinetik zu tun.

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Der Abschnitt über den Teil greift aus einer neuen Perspektive Aussagen auf, die bereits gemacht worden sind. Denn der Teil kann quantitativ, materiell oder rein logisch von einem Ganzen her konzipiert sein. Daß der Teil, der doch nur ein Teil ist, überhaupt in einem eigenen Stichwort genannt wird, zeigt, dass Aristoteles ungleiche Begriffe gleich wichtig nimmt. Diese Tendenz wird er mit den letzten Stichworten sehr deutlich demonstrieren.

Walter Seitter  
 
Sitzung vom 24. Februar 2016


[1] Siehe Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen (München 1932): 26.

Donnerstag, 11. Februar 2016

In der Metaphysik lesen (1023a 25 – 32)


Nachtrag zur Privation: Gianluigi Segalerba kommt auf Met. IV zu sprechen, wo die vielfältige Aussagung des Seienden als Seienden zum Prinzip einer bestimmten Wissenschaft, nämlich der ersten Philosophie, erklärt wird, und zu dieser Vielfältigkeit gehört auch die Negation. Folglich sind auch Gegensatz und Privation Sache derselben Wissenschaft. Es geht um die Frage, wie weit die Mannigfaltigkeit reicht, die von einer Wissenschaft zu behandeln ist. Und welche Mannigfaltigkeit dann von anderen Philosophien, einer zweiten oder dritten, beziehungsweise von anderen Wissenschaften zu behandeln ist. Met. IV, 1004 a 2: Es gibt ebenso viele Teile der Philosophie wie es Wesen gibt. Sobald es sich um ein anderes Wesen handelt, ist eine andere Wissenschaft am Zug. Aber die Seinsmodalitäten eines einzigen Wesens sind Sache einer Wissenschaft, wie weit sie auch auseinanderklaffen mögen. Um zwei Seinsmodalitäten aus Met. IV, 1003b 8 herzuzitieren: der „Weg ins Wesen“ einer Stadt und die „Zerstörung“ einer Stadt sind Sache der Politikwissenschaft, denn die Stadt ist ein Wesen. Setze ich aber das Seiende als solches als „Wesen“, dann gehört die Untersuchung zur ersten Philosophie (oder zur Ontologie). Steht die Stadt als „anderes Wesen“ für das, was ich einen „Realitätsbereich“ nenne, oder einen „Sachbereich“?

Gesche Heumann fragt, ob etwa die Religion im Wörterbuch eine Erwähnung findet. Eher nicht. Doch findet sich eben im Abschnitt 23, Met. IV, 1023a 20, die typisch griechische Bemerkung, dass der Titan Atlas den Himmel trage (damit der nicht herabstürzt): ein augenscheinlich existierendes, ein natürliches Phänomen (nämlich das Atlas-Gebirge in Nordafrika, am Eingang zum Atlantik) wird personifiziert und mit einer übergroßen kosmologischen Leistung betraut. Und die Antwort ist ebenso typisch aristotelisch: die Dichter machen Atlas den Himmel halten: die Religion wird auf die Dichter zurückgeführt (in diesem Fall ist es Hesiod); Aristoteles antwortet nicht gläubig sondern religionswissenschaftlich. Die Religion wird herbeizitiert und durch und durch wissenschaftlich analysiert. Diese Religion war es, die auf ihrem Boden alle Wissenschaften (auch die Philosophie) hat emergieren lassen. Und sie bleibt auch bestehen, wenn sie aufgeklärt wird. Alle diese Aspekte sprechen für jene Religion und dafür, dass so eine Haltung durch philosophische Diskussion wieder gestärkt wird – Bruno Latour arbeitet in dieser Richtung.

Ein guter Text? Eher nicht. Aber ein reichhaltiger.

In diesem Stil geht es weiter in Abschnitt 24: aus etwas sein. Erste Bedeutung: aus einem Material sein; die rein logische Unterscheidung zwischen erster Gattung und letzter Art führt zu Wasser und Erz (die Gemeinsamkeit liegt beim Schmelzen); würde man bei der ersten Gattung näher nachschauen, stieße man auf die drei anderen „Elemente“ Erde, Luft, Feuer; diese vier ersten Körper wandeln sich ineinander um; ihnen liegen die Eigenschaften warm-kalt, trocken-feucht zugrunde; und ob darunter noch eine „erste Materie“, eine unwahrnehmbare und nicht getrennt existierende, tatsächlich von Aristoteles angenommen wird, ist umstritten. Mit so einer spekulativen Konstruktionsüberlegung befindet man sich an einem Gegenpol zur eben erwähnten Berg-Verehrung und auch da dürften sich Anschlüsse an gegenwärtige Diskussionen finden lassen.

Zweite Bedeutung: aus etwas, nämlich aus einem ersten bewegenden Anfang, herrühren; wie aus der – verbalen - Schmähung der – handgreifliche – Kampf. Entstehung von Konflikten, Kriegen aus „ganz anderen“, jedenfalls kategorial anderen Anfängen. Woraus eine sehr wichtige Lehre gezogen werden kann: dass nämlich verbale Auseinandersetzungen, die nötig sein können, schon innerhalb des Verbalen bestimmte Grenzen nicht überschreiten sollten (Beispiel Tumult. Zeitschrift für Konsensstörung, AfD ...)

Nächste Sitzung am 24. Februar 2016


Walter Seitter  
 
Sitzung vom 10. Februar 2016

Donnerstag, 4. Februar 2016

In der Metaphysik lesen (1023a 8 – 25)

Im letzten Protokoll wurden zwei abstrakte oder metahafte Ordnungsdimensionen unterschieden: die Realitätsbereiche und die Seinsmodalitäten.

Zweifellos stehen die Realitätsbereiche dem Wissenschafts- und Erfahrungswissen ziemlich nahe, denn da geht es um inhaltliche oder thematische Gliederungen oder Stufen, die man in Gegensatzpaaren ordnen kann aber nicht muß: anorganisch, organisch, pflanzlich, tierisch, menschlich, göttlich, natürlich, künstlich (technisch), physisch, psychisch – das sind einige solcher Bereiche (hier allerdings einander überschneidend angehäuft). Ob die Bezeichnung „Realitätsbereich“ besonders gut ist, sei dahingestellt.

Den Begriff „Seinsmodalität“ hat mir erstens die Lektüre der Poetik eingeflößt – und zwar anhand der logischen Modalitäten (zwischen unmöglich und notwendig); sodann die aristotelische Kategorienlehre, die den Übergang von der Logik zur Ontologie ausarbeitet, und dann vor allem das Buch IV der Metaphysik, wo die Ontologie explizit als Programm formuliert wird und zusätzliche „kategoriale“ Modalitäten genannt werden, darunter so elementare wie Möglichkeit und Wirklichkeit. Im Wörterbuch von Buch V werden 30 Stichworte aneinandergereiht und jeweils immanent differenziert (wodurch sie dann auch miteinander verkettet werden). Alle 30 sind als Seinsmodalitäten erkennnbar (wenngleich die Beispiele notwendigerweise aus den Realitätsbereichen stammen) – mit einer Ausnahme: physis=Natur; dieser Begriff bezeichnet einen großen Realitätsbereich – wie auch noch heute (aber heute mit Verunsicherungen). In anderen Schriften von Aristoteles wird mit diesem Begriff außerdem noch eine Seinsmodalität bezeichnet (synonym mit „Wesen“); diese Bedeutungsrichtung wird in Metaphysik V höchstens leise angedeutet.

Das Stichwort für den Abschnitt 23 lautet „Haben“ – zum ersten Mal ein Verb im Infinitiv; folgend auf steresis=Nicht-Haben und bald folgend auf hexis=Habe. Das sis-Wort liegt semantisch sehr nahe beim Infinitiv. Also beinahe derselbe Begriff zweimal in einem Wörterbuch. Dem „Sein“ wird so ein Auftritt nicht zuteil.

Hier wird speziell das transitive Bedeutungsspektrum aufgetan, beginnend mit einer sehr aktiven Bedeutung, die einer Kategorienvermengung nahekommt: echein=agein, etwas haben als etwas nach eigenem Trieb treiben, führen ... : so das Fieber den Menschen, die Tyrannen die Städte, die Bekleideten das Gewand. Nach eigenem Trieb agieren ist die typisch animalische Aktivität. Die zweite Bedeutung von Haben: ein Material hat eine Form oder Qualität. Dritte Bedeutung: haben als umfassen; so das Gefäß die Flüssigkeit, die Stadt die Menschen, das Schiff die Matrosen. Übrigens spricht Aristoteles dem Ort eben dieses Umfassen zu; jeder Ort hat seine Sache. Vierte Bedeutung: haben als halten, festhalten, auseinanderhalten zusammenhalten (und daran hindern, nach eigenem Trieb zusammenzufallen oder auseinanderzufliegen) – also gegen den Trieb eines anderen wirken.  Und „in etwas sein“ folgt dem „haben“ und ist gleichbedeutend mit „gehabt werden“.

Dem Haben wird da eine Kraft zugesprochen, eine Art Übermacht über das Gehabte. Wobei die Stadt einmal in der Rolle des Schwächeren, ein ander Mal in der Rolle des Stärkeren vorkommt.


       schwächer                             stärker                                                                            
                     
Leute                      Stadt                             Tyrann

Die Stadt ist stärker als die Leute: aufgrund ihrer baulichen, seinerzeit festungsartigen Struktur, außerdem Übermacht des Kollektivs gegen die Einzelnen; wenn dann das Kollektiv auch noch einem übermächtigen Einzelnen untersteht, dann sind die kleinen Einzelnen schlecht dran. Das kann sich ändern, wenn die Stadt von den Leuten selber gehabt, innegehabt wird – und zwar von den Leuten, welche die natürliche Übermacht des Kollektivs über die Einzelnen politisch konterkarieren können, sodaß die Stadt Leute hat, welche die Stadt haben, und sich keine schroffe Übermacht bildet.

Die Unterscheidung von „schwächer“ und „stärker“ gehört zur Dimension der Seinsmodalitäten – woraus hoffentlich hervorgeht, dass diese nicht unwichtig ist.

Walter Seitter  
 
Sitzung vom 3. Februar 2016



PS.: Erstes Wiener Philosophen-Café  im Café Korb am Samstag, 6. Februar 2016, um 16 Uhr : „Philosophie und Sexualität“