τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 28. Januar 2016

In der Metaphysik lesen (1022b 22 – 1023a 7)

Versuchen wir, die Frage, was denn nun hier im „Wörterbuch“ gemacht wird oder zumindest angestrebt wird, nicht mit Disziplinbezeichnungen, sondern „direkt“ oder beschreibend zu beantworten, so können wir sagen: es werden allgemeinste Begriffe, insgesamt immerhin 30, ausgewählt, aneinandergereiht und jeweils erklärt, zumeist in ihrer Bedeutungsvielfalt auch mit Beispielen erläutert; und durch diese Begriffsordnung sollen die Dinge der Welt, die Dinge der nächsten und der weiteren Umwelt, geordnet werden; indem sie allgemeinen Begriffen zugeordnet werden, sollen die Gemeinsamkeiten zwischen vielen verschiedenen Dingen (auch Eigenschaften, Beziehungen usw.) sagbar gemacht werden – aber auch die Unterscheidungen, die vielen verschiedenen Unterscheidungen, sollen ihre Begrifflichkeit bekommen.

Keine Rolle spielen hier allgemeine Begriffe, welche die Realitätsbereiche kennzeichnen: geistig-materiell, organisch-anorganisch, natürlich-kulturell; also sozusagen inhaltliche Begriffe. Die Begriffe des Wörterbuchs haben eher formalen Charakter – sie bezeichnen Seinsmodalitäten, die eine Tendenz zum Dramatischen haben

Auch wenn bei Aristoteles den Dingen ein Vorrang etwa gegenüber den Ereignissen (hat er überhaupt einen Begriff für „Ereignis“?)[1] zukommt, beziehen sich die meisten der Stichworte von Buch V keineswegs direkt auf Dinge, Wesen, Körper sondern vielmehr auf Zusatzbestimmungen, die in der Fachsprache Akzidenzien heißen und denen manchmal die Konsistenz eines ordentlichen Begriffs zu fehlen scheint (dasselbe, wonach). Schon in der Kategorientafel steht es 9:1 für die Akzidenzien gegen die Substanz. Und an der zweiten „Gründungsstelle“ der Ontologie (Met. 1003a 23ff.) werden an die ousia mehrere andere Seinsmodalitäten angefügt, auch solche, die in ihrer Dramatik über die neun Akzidenzien hinausgehen: etwa Entstehung und Vergehung und sogar das Nicht-Seiende.

Dort wird auch schon die steresis genannt, die nun das Thema von Abschnitt 22 ist. Und die, wenn man das Wort genau anschaut, semantisch für eine Aktion steht, und zwar für eine negative. Die Bedeutungen, die Aristoteles zuerst nennt, beschränken sich auf Zustände des Nicht-Habens: sowohl solche, die als ein „Mangel“, ein „Fehlen“, gelten - Blindheit bei einem Menschen, wie auch solche, die jedenfalls gemäß traditionellem botanischem Wissen keinen Verstoß gegen die Normalität darstellen: Augenlosigkeit bei Pflanzen.

Erst die zweite Bedeutung schöpft den Vollsinn des Wortes aus und kommt in die Nähe eines kriminellen Aktes: gewaltsame Wegnahme von etwas. Ein verwandter Krimineller kam schon einmal vor. Die Beispiele bleiben also nicht alle im Bereich der „Physik“. Dann aber werden unter Privation irgendwelche Eigenschaften genannt, deren negativer Charakter durch das sogenannte Alpha privativum gekennzeichnet ist, wenn man nicht gar dieses Alpha als „Räuber“ bezeichnen will: das Unsichtbare (Unfarbige) oder fast Unsichtbare (fast Unfarbige), das Fußlose oder Schlechtfüßige (also ein gravierender Defekt bei Wesen mit Füßen – woraus Aristoteles noch ein eigenes Stichwort machen wird). Oder das Kernlose. Mein Übersetzer fügt zu diesem Adjektiv das Obst dazu, was dem Sinn des Wortfeldes entspricht. Allerdings versteht Aristoteles unter dem Kernlosen solches Obst, das nur wenige oder unzureichend Kerne hat: ein Mangelzustand, der in der Natur gar nicht „vollkommen“ vorkommt. Eklatanter Unterschied zu heutigen kernlosen Trauben, die kulturell, d. h. industriell auf Kernlosigkeit gezüchtet sind, weil das irgendwelchen Geschmacksvorlieben entspricht.

Im letzten Satz des Abschnitts springt Aristoteles mit negativen Begriffen wie „schlecht“, „ungerecht“ ziemlich eindeutig auf das Gebiet der Ethik und macht dazu die Aussage, die Menschen seien nicht unbedingt schlecht oder gut - sondern häufig irgendwo dazwischen.

Das Interessante dieses Abschnitts wird kaum von einer derartigen Aussage resümiert. Sondern es liegt in dem Sammelsurium verschiedenster Negativitäten, banaler wie auch existenzieller Art.

Den eher banalen oder logischen Privationen kommt aber auch eine generelle Bedeutung zu: jedes Seiende besteht aus Form, Privation und Stoff. Zum Beispiel Farbe: weiß, schwarz, Oberfläche; Gesundheit, Krankheit, Körper; Haus: Form, Unordnung, Ziegel. Und aufgrund dieser Dreierzusammensetzung gibt es Werden (wozu noch ein Bewegendes kommen muß). Siehe Met. XII, 1070b 18ff.
                          

Walter Seitter  
 
Sitzung vom 27. Jänner 2016



[1] Am ehesten kommen bei Aristoteles wohl die pragmata in die Nähe des Ereignisses. Bezeichnenderweise kommen sie in den Texten, denen üblicherweise die „Ontologie“ entnommen wird, gar nicht vor – sondern in der Poetik, die von der literarischen Zubereitung von Ereignissen handelt. Siehe Walter Seitter: Poetik lesen (Berlin 2010, 2014). Aristoteles-Kritiker werfen ihm allerdings vor, er habe mit der Literarisierung den Ereignis-Charakter des musikalisch-tänzerisch-kultischen Theaters bereits reduziert. 

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