τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 16. Januar 2016

In der Metaphysik lesen (1022b 1 – 1022b 14)

Am Beginn der Sitzung macht Bernd Schmeikal korrigierende bzw. ergänzende Ausführungen zu meinem letzten Protokoll in Sachen Entropie und Negentropie – sie finden sich als Kommentar an das Protokoll vom 10. Januar. Dazu noch der Begriff „Phasenübergang“, der auch die Veränderungen der Aggregatzustände bezeichnet.

Der Abschnitt 19 ist so extrem kurz – er besteht aus kaum mehr als einem Satz, dass ich mich des Eindrucks nicht erwehren kann, das Buch V sei nicht ganz ordentlich komponiert oder redigiert – womit das hier gewählte Stichwort als Frage an das ganze Kapitel gerichtet wird. Wie ordentlich ist die Anordnung seiner Teile? Ist diese Anordnung eher chaotisch oder doch „kosmisch“.

Denn das Stichwort lautet „Disposition“ – ich ziehe hier die lateinische Übersetzung vor, weil sie dem Griechischen näher ist. Disposition ist die Ordnung, die innere Ordnung eines Dinges, das über Teile verfügt, und zwar über Teile in drei möglichen Hinsichten: Raumteile, Fähigkeitsteile, Definitionsteile. Dann wird aus dem Wort „Disposition“ der Wortteil „Position“ herausgegriffen und als Begriff oder Sache dem Begriff oder der Sache „Disposition“ irgendwie zugeordnet. Ich finde diesen Nachsatz semantisch nicht besonders klar – als syntaktische Operation hingegen zumindest reizvoll. Was wiederum gut „passt“ – denn die Disposition steht der Syntax besonders nahe.

Wie überzeugend dieser lakonische Abschnitt 19 auch sein mag, sein Thema oder gar sein Anliegen ist die Ordnung und das wollte ich mit meiner etwas ironischen Paraphrase auch gar nicht in Abrede stellen. Wohl aber wollte ich darauf hinweisen, dass man sich mit dem Insistieren auf der Ordnung auch ein bisschen verhaspeln kann – und das tut Aristoteles hier, indem er die Lakonie doch etwas übertreibt. Wenn man eine Sache extrem verkürzt, hat sie nämlich höchstens zwei oder drei Teile, und dann ist es mit der Ordnungsleistung möglicherweise nicht mehr weit her.

Gianluigi Segalerba weist darauf hin, dass nicht Platon der Hauptgegner des Aristoteles ist sondern Empedokles, dessen Lehre von Liebe und Streit voller Selbstwidersprüche sei. Daß Aristoteles bei aller Kritik an Platon doch Platon-Schüler geblieben sei, habe ich in den Sechzigerjahren ganz explizit bei Helmut Kuhn in München gehört (und Eric Voegelin hat der Sache nach dasselbe gemeint).[1]
Das Stichwort in Abschnitt 20 lautet „hexis“ – das Verbalsubstantiv von „echein“. Also heißt „hexis“: Habung, Haltung, Habitus. Schwarz übersetzt mit „Zustand“, „Innehaben“. Aristoteles insistiert in seiner Worterklärung auf dem verbalen Verbalnomen, das zwischen zwei nominalen Verbalnomina steht: Verwirklichung sowohl des Habenden wie des Gehabten. Praxis und kinesis wie poiesis, die zwischen dem Bewirkenden und dem Bewirkten steht. Die Gewandtragung steht zwischen dem Träger des Gewandes und dem getragenen Gewand.

Die zweite Bedeutung von Hexis wird unter Disposition subsumiert – die also doch etwas weiter ausgeführt wird. Und zwar im Sinn von Befinden, sich gut oder schlecht befinden; etwa Gesundheit. Hexis kann auch ein Teil eines solchen Befindens sein. Teil der Gesundheit? Etwa Kräftigkeit oder Appetit oder ... Und jetzt erst kommt Aristoteles auf das Wort, welches in seiner Lehre den wichtigsten Anwendungsbereich der Hexis bezeichnet: „arete“: Tüchtigkeit, Vortrefflichkeit, Tugend. In der Ethik wird die Hexis als Gattungsbegriff für die Tugenden eingeführt. Hier dasselbe Wort – aber wohl noch vor der ethischen Spezifizierung. Bloß irgendwelchen Teilen zugesprochen, und zwar Dispositionsteilen.

Aristoteles geht mit „seinen“ Begriffen manchmal sozusagen respektlos um.

Walter Seitter  
 
Sitzung vom 13. Jänner 2016






[1] Meinem Lehrer Eric Voegelin (1901–1985), dem gemeinhin und nicht ganz zu Unrecht eine platonisch-aristotelische Orientierung nachgesagt wird, widme ich hier aus eher politischem Anlaß eine Fußnote und zwar aufgrund einer Erwähnung, die ihm Jörg Scheller jetzt in der ZEIT zuteil werden lässt. Scheller setzt sich mit Marc Jongen auseinander, der mit flotten und (selbst)widersprüchlichen Thesen eine „konservative“ Position zu entwickeln sucht. Und stellt ihm als Beispiel für ein glaubwürdiges konservatives Denken Voegelin gegenüber, der amerikanische Common-Sense-Philosophie mit philosophisch durchdachtem Christentum, „offene Gesellschaft“ mit meditativer „Offenheit der Seele“ verbinde. Siehe Jörg Scheller: Wenn die stolzen Geister denken, in: DIE ZEIT 2016/3.  

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