τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Donnerstag, 20. Oktober 2016

In der Metaphyik lesen (Buch I bis V)


Da unser Aristoteles-Seminar bis zum Jahresende 2016 eine Pause einlegt, machen wir heute eine „Zwischensitzung“ und versuchen eine Bilanz über die Lektüre der Metaphysik, Buch I bis V, zu ziehen.
Um diesem Resumé eine gewisse Exaktheit zu verleihen, möchte ich nicht nur eine „Inhaltsangabe“ machen, sondern auch formale Aspekte einbeziehen.

Solche sind:

Textform (z. B. Abhandlung, Dialog, Liste, Geschichtserzählung, Hymnus, Aphorismus)

Textduktus, Vorgangsweise, Operation (Beschreibung, Kritik, Gründung, Beweisführung)

Was an den Büchern I bis V auffällt, ist, dass sie sehr unterschiedlich gebaut sind – gerade hinsichtlich der eben genannten Kategorien.

Buch I liefert in Abschnitt 1 und 2 eine sorgfältige Konstruktion des Begriffs einer irgendwie neuen und daher gesuchten Wissenschaft, die sich an der Weisheit orientiert und auch schon Hinweise auf die Entstehung dieser Wissenschaft gibt. Die Abschnitte 3 bis 10 bieten eine gegliederte Historie und Kritik der bisherigen Versuche zu dieser Wissenschaft: Wissenschaft von den allgemeinen und höchsten Prinzipien und Ursachen – oder Philosophie.
Buch II fügt einige systematische Aspekte dazu, so den Begriff der Wahrheit.

Buch III führt den erkennntispsychologischen Begriff der Aporie ein. Nennt dann 14 Aporien, die sich um Prinzipien und Ursachen, Wesen und Akzidenzien drehen, und behandelt alle 14 in jeweils kurzen Abhandlungen – sodaß die Textform der Liste zweimal zum Zug kommt.

Buch IV vollzieht in Abschnitt 1 und 2 ganz explizit den Gründungsakt einer betrachtenden Wissenschaft vom Seienden als Seienden, d. h. von den Modalitäten des Seins. In Abschnitt 3 bis 8 indirekte Beweisführung für das allgemeinste Axiom, das inhaltlich mit den Abschnitten davor zusammenhängt, aber prozedural anders geartet ist.

Buch V hat die Form eines Lexikons: 30 Begriffe, die teilweise in I und IV schon vorgekommen sind, teilweise engere Spezifizierungen darstellen, werden in ziemlich gleichförmiger Weise analysiert: und zwar nach dem Vorbild aus Buch IV: n wird in vielfältiger Weise ausgesagt, n bedeutet einerseits dies, andererseits das ... Bei diesen Analysen handelt es sich um Operationen. Führt man einen Begriff wie „Operation“ für das Sprechen von Aristoteles ein, so erhöht man schlagartig die Klarheit dieses Sprechens. Denn man sagt, was man bei ihm sieht.

Das Buch, das wir lesen, heißt seit dem 1. Jahrhundert vor Christus Metaphysik; im 17. Jahrhunderte entstand die Disziplinbezeichnung „Ontologie“. Wie können wir die beiden Begriffe inhaltlich unterscheiden und wie auf die Bücher I bis V verteilen? Buch I, wo Anthropologie, Kosmologie, Theologie angeschnitten werden, kann man der Metaphysik zuordnen, obwohl dieser Begriff in vielfacher Weise aufgeladen, auch verzerrt worden ist. Die reinste Zuordnung lässt sich meines Erachtens mit dem Begriff „Ontologie“ vornehmen: und zwar in erster Linie zu Abschnitt 1 und 2 von Buch IV.
Das Buch V mit seinen 30 Begriffsanalysen lässt sich ebenfalls der Ontologie zuordnen, in manchen Punkten aber auch der Physik, in manchen der Logik oder der Ethik.
Frage, ob sich die Bezeichnung „Ontologie“ heute noch sinnvoll bzw. „nützlich“, d. h. mit Klarheit und Deutlichkeit verwenden lässt. Sophia Panteliadou ist eher skeptisch. Gianluigi Segalerba hält die Bezeichnung für verwendbar, setzt sie auch in seinen Schriften ein. Eine mögliche Alternative sieht er in „Entitätenlehre“ – der Vorteil dieses Ausdrucks liegt in der Pluralform „Entitäten“.

Tatsache ist, dass die Bezeichnung „Ontologie“ im aristotelischen Sinn heute nicht nur in der Aristoteles-Forschung, sondern auch bei anderen Philosophen im Gebrauch ist, so etwa bei Analytischen Philosophen. „Ontologie“ tendiert zu neutralen Bedeutungen, weniger zum Guten oder zum Göttlichen. Diese Sachverhalte haben eher in der „Metaphysik“ ihren Platz.

Walter Seitter
 
Sitzung vom 19. Oktober 2016

Mittwoch, 28. September 2016

Mit Lust erkennen

Rezension von Walter Seitter zu

Arbogast Schmitt
Wie aufgeklärt ist die Vernunft der
Aufklärung? Eine Kritik aus aristotelischer Sicht
472 S., geb., € 43,20 (Universitätsverlag Winter, Heidelberg)

http://diepresse.com/home/spectrum/literatur/5083079/Mit-Lust-erkennen

Mittwoch, 29. Juni 2016

In der Metaphysik lesen (1024b 27 – 38)

Beinahe ebenso befremdlich wie die Rede von „falschen“ Sachen erscheint die Rede von „falschen“ Begriffen. Aristoteles muß denn auch eine Verrenkung anstellen, um diesen Sprachgebrauch zu rechtfertigen: „Daher ist jeder Begriff falsch für etwas anderes als wofür er wahr ist.“ (1024 b 28) – wie etwa der Begriff des Kreises für das Dreieck falsch ist.
Für jedes Einzelding gibt es eigentlich nur einen wahren Begriff: den Wesensbegriff; aber dann doch noch viele andere Begriffe – nämlich die dem Ding zukommenden Affektionen oder Akzidenzien. Für Sokrates also: „Mensch“ und „gebildet“; diese möglichen zusätzlichen Begriffe sind zahlenmäßig nicht begrenzt.
In diesem Zusammenhang wendet sich Aristoteles gegen den Philosophen Antisthenes, einen Sokrates-Schüler, der von 445 bis 365 gelebt hat und ein Begründer der Kynischen Schule gewesen ist. Er soll gemeint haben, auf jedes Einzelne könne nur ein einziger Begriff angewendet werden, nämlich der für es eigentümliche. Damit werden Begriffe im präzisen des Wortes, nämlich Allgemeinbegriffe, ausgeschlossen und eigentlich nur Namen, nämlich Eigennamen, zugelassen. Die weittragende Konsequenz einer solchen „Begriffspolitik“: so wird Widerrede unmöglich und beinahe auch die Falschrede.
Innerhalb eines solchen Systems könnten wir von Gesche nur sagen: „Gesche ist Gesche“. Nicht aber „Gesche ist Malerin“ – was ihr Gelegenheit gäbe zu, sagen „Nein, ich bin Maler“.
Anscheinend bedarf es eines so berühmten Buches wie der Metaphysik und eines so berühmten wie auch verfemten Autors wie Aristoteles, dass eine banale linguistisch-logische Unterscheidung wie die zwischen Begriff und Name in Erinnerung gerufen, nein überhaupt bekannt gemacht wird. Ist das etwa eine „metaphysische“ Unterscheidung? Auf jeden Fall eine sehr wichtige und ohne die – jedenfalls praktische - Kenntnis dieser Unterscheidung kann man eigentlich in keiner Sprache mitreden, weder auf Deutsch noch sonst wie.
Mit seiner Kritik an Antisthenes plädiert Aristoteles für die Möglichkeit der Widerrede und sogar für die Möglichkeit der Falschrede?
Ist er nun etwa auf die Seite der Protestler übergelaufen, die irgendetwas sagen dürfen möchten, weil man wird doch noch dies oder das sagen dürfen?
Oder gab es da nicht im Buch IV den sogenannten „Satz vom Widerspruch“, eigentlich „Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch“? Was sollte da ausgeschlossen werden?
Und jetzt hält ausgerechnet der seriöse Philosoph Aristoteles dem Protestphilosophen Antisthenes vor, er mache mit seiner „Logik“ Widerrede und fast auch Falschrede unmöglich.
Wieso tritt Aristoteles für die Möglichkeit der Widerrede und sogar der Falschrede ein? 
Weil nur unter diesen Bedingungen die Möglichkeit, wohlgemerkt nur die Möglichkeit, zu Wahrrede (véridiction) aufrechterhalten bleibt. Irgendwo sagt das auch Lacan (denn der sagt ziemlich oft irgendetwas Wahres). Aber dank dem netten Antisthenes sagt es – allerdings sehr komprimiert – bereits Aristoteles.
Bekanntlich hat jedes Ding, jedes Wesen, jeder Sachverhalt und jedes Ereignis die Pflicht, zu etwas gut zu sein.
Wenn das Metaphysik-Lesen dazu gut ist, irgendjemanden auf die Unterscheidung zwischen Namen und Begriff – mitsamt den Konsequenzen – aufmerksam zu machen, dann ist es schon zu etwas gut.
Und was den „Satz vom Widerspruch“ anlangt, so wird über den auch noch Klarheit hergestellt werden.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen schönen Sommer.

Nächste Sitzung am 12. Oktober 2016


Walter Seitter
 
Sitzung vom 29. Juni 2016


Montag, 27. Juni 2016

„Aristotle on Illusions, Hallucinations, and Dreams“


Stellungnahme zum Vortrag von Victor Caston (University of Michigan) 

Im Abschnitt 29 (Metaphysik, Buch Δ) über to pseudos/das Falsche (1024b 17f.) spricht Aristoteles über die verschiedenen Weisen wie man sich der Bedeutung des „Falschen“ annähern kann. (Siehe Protokoll: Walter Seitter, Sitzung vom 22.06.2016).

Pseudos (das Falsche) bedeutet jedoch nicht nur wie es in der Bonitz Übersetzung heißt: „das Falsche“, sondern ebenfalls: „Trug“ und „Täuschung“. In den aristotelischen logischen Schriften findet sich zudem die Bedeutung des trügerischen Syllogismus/„Syllogismus von Pseudos“ (Liddell/Scott).
In den Zeilen 1024b21-22 (Metaphysik) ist von Dingen die Rede, die zwar existieren, sie uns dennoch anders erscheinen als sie in Wirklichkeit sind. „Skiagraphia“ bedeutet hier nicht nur „Schattenriß“ (Übers. Bonitz), sondern vielmehr kommt dem Wort an dieser Stelle ebenso die Bedeutung der „optischen Täuschung“ zu. (Vgl. dazu auch: Rhetorik, 1414a10–11).
In seinem Vortrag Aristotle on Illusions, Hallucinations, and Dreams versuchte Victor Caston anhand ausgewählter Textstellen aus den Schriften: Metaphysik (1010b3–4, b8–11), Über Träume (460b11–15, 462a13–15, 458b 25–29, 458b31–459a1, 460b16–22, 461a31–b2, 461b 3–7), Über die Wahrnehmung (446b17–21, 446b21–26), De Anima (428b2–4, 425b25–27, 426a10–11), Über Gorgias (980b9–14) mittels einer Text-Mikroanalyse feine Differenzierungen zwischen den Bedeutungen der Wörter „Illusions“, „Delusions“ und „Hallucinations“ herauszuarbeiten.
Zu erwähnen wäre vor allem die Unterscheidung zwischen ‚Ähnlichkeit‘ und ‚Wirklichkeit‘ in der Wahrnehmung (von Dingen, Personen, Sachlagen, zwischen Gesprochenem und Wahrgenommenem). Als Beispiel dient dazu u. a. der Text „Über Träume“, 461b21–30 (:Koriskos). Insbesondere wäre hier die Modalität der Ähnlichkeit und die Differenzierung zwischen den wahrgenommenen Objekten/Dingen und den empirisch-realen Objekten/Dingen hervorzuheben. Daraus lassen sich für Aristoteles (nach Caston) verschiedene Schlüsse in Bezug auf die „Erfahrung an sich“ ziehen. Aristoteles unterscheidet demnach zwischen den kausalen Erfahrungszusammenhängen und den Erfahrungen, die auf Grund differenter Wege/Modi der Sinne entstehen. Und, obwohl zunächst der Eindruck geweckt würde, dass es sich um die gleiche Erfahrung handelte, ist es notwendig zwischen dem sinnlichen Wahrnehmen von Dingen (und ihrer Bewegung) und den empirischen Objekten/Dingen zu differenzieren.

Sophia Panteliadou
 
Zum Vortrag gehalten an der Universität Wien, am 22. Juni 2016 

Donnerstag, 23. Juni 2016

In der Metaphysik lesen (1024b 17 – 26)

Wir gehen auf das Buch IV zurück und ich behaupte (in teilweiser Übereinstimmung mit Gianluigi Segalerba), dass da zwei verschiedene Sachen gemacht werden. In Abschnitt 1 und 2 wird die Betrachtungsweise begründet, die dann die Bezeichnung „Ontologie“ bekommen hat. In den Abschnitten 3 bis 8 wird das Axiom eingeführt und langwierig verteidigt, das zumeist als „Satz vom Widerspruch“ benannt wird. Dieses Axiom tritt als Postulat, als Imperativ, als Gebot bzw. Verbot auf, das einerseits als selbstverständlich gelten kann, andererseits mit großer Hartnäckigkeit verteidigt wird.
Die Begründung der Ontologie oder ihre Erfindung wird mit dem Grundsatz von der mannigfachen Aussagung des Seienden eingeleitet (nach Segalerba eine „Kriegserklärung an Parmenides“ – allerdings ohne jeden bellizistischen Ton) und mit der Nennung einiger Seinsmodalitäten fortgesetzt. In dieser relativ kurzen Passage versteigt sich Aristoteles allerdings auch schon zu einer scharfen Polemik; doch im Großen und Ganzen handelt es sich um einen Gründungsakt: es werden zehn oder zwölf Seinsmodalitäten genannt, von denen eine, die Substanz, mit einem Primat ausgestattet wird. Die übrigen stellen Modifikationen dar, tendenziell schwächere Modifikationen, aber sie bekommen ihren Platz in dieser „Gesellschaft“. Es handelt sich bei jeder Modalität um eine eigenartige „Version“, um eine „Wendung“, um ein bestimmtes „wie“ des Seins. Ich greife zwei Beispiel heraus: die Relation und das Mögliche.
Wie sieht es mit den „Existenzweisen“ bei Bruno Latour aus? Angeblich gibt es deren 15. Zwei davon: Politik, Literatur.
Sie liegen zweifellos auf anderen Ebenen als die aristotelischen Modalitäten. Es handelt sich um Institutionen, die ihren Platz in der Gesellschaft ohne Anführungszeichen haben, sie haben sogar bestimmte Adressen in der Stadt. Aber den Modalitätencharakter haben sie mit den aristotelischen Bestimmungen gemeinsam: sie verkörpern gewisse Umgangsformen, gewisse Formalismen.

Endlich gehen wir zur Lektüre von Abschnitt 29 über, zum Stichwort „falsch“. Falsch ist entweder ein Sachverhalt wie die kommensurable Diagonale oder aber dein Sitzen (in dem Moment, in dem du stehst) (1024b 17ff.). Also Sachverhalte, die so nicht bestehen, nicht existieren. Falsch sind auch bestehende Sachverhalte, die ihrer Natur nach nicht so erscheinen, wie sie sind, oder aber etwas anderes, was sie nicht sind, erscheinen lassen (hier nennt Aristoteles die „Schattenmalerei“ und die Träume). Also die Verweigerer von richtigem Erscheinen und die Falscherscheinungen (auch Anschein, Schein, bloßer Schein). 
Was könnte mit den Sachen gemeint sein, die sich weigern, richtig zu erscheinen? Etwa die Natur, die es liebt, sich zu verbergen (Heraklit)? Oder alle festkörperlichen Dinge, von denen man nur die äußere Hülle sieht, welche alles zudeckt (Seitter)? Das wäre dann arg viel.
„Schattenmalerei“ hieß in der Antike die Illusionsmalerei, die auf zweidimensionalen Flächen dreidimensionale Realität suggeriert. Der Ausdruck „Skiagraphie“ steht sprachlich der „Photographie“ gegenüber, die mit anderen Mitteln Gleiches bewirkt. Und die Träume? Sie sind so „täuschend echt“, dass man sie erst im Nachhinein vom echten Erleben unterscheiden kann.
Diese Unterscheidungen lassen natürlich auch an die Dinge denken, die „richtig“ erscheinen, das Erscheinen also sachgemäß leisten. Aristoteles setzt zweifellos voraus, dass es diese Dinge gibt und dass sie den Regelfall bilden: den Regelfall der Wahrnehmung. Er würde wohl sagen, dass alle Dinge in irgendeiner Weise erscheinen müssen und man daher „erscheinen“ in den Rang einer Kategorie heben könnte.[1] Oder gar in den höheren Rang einer Transzendentalie – wie wahr, schön, gut.
Nach dem Seminar findet an der Universität die erste Hermann Bonitz Lecture statt – zu Ehren des deutschen Philologen Hermann Bonitz (1814-1888), der von 1849 bis 1867 in Wien als Professor und Bildungsreformer tätig war und dessen Metaphysik-Übersetzung bis heute in Gebrauch ist. Insofern kann auch er zur Wiener Aristoteles-Tradition gezählt werden.
Der Vortrag von Victor Caston (Michigan) zum Thema „Aristotle on Illusions, Hallucinations, and Dreams: Was he a Direct Realist?“ geht auf die Frage ein, ob und wie Aristoteles ein Erkenntnisoptimist war, speziell auf der Ebene des sinnlichen Wahrnehmens. Und er berührt das eben erwähnte Thema des Erscheinens, etwa mit der aristotelischen Aussage, dass immerzu etwas erscheint, das Erscheinende aber nicht jederzeit geglaubt wird oder dass die Tätigkeit des Wahrgenommenen und die der Wahrnehmung dieselbe ist, nicht aber ihr Sein ...


Walter Seitter
 
Sitzung vom 22. Juni 2016


[1] Siehe dazu Walter Seitter: Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen (Wien 1997)

Freitag, 17. Juni 2016

In der Metaphysik lesen (Ontologien)

Die Buchpräsentation zum Glaubensbegriff bei Aristoteles hat – jedenfalls vorläufig – gezeigt, dass dieser Begriff bei Aristoteles so gut wie nichts mit Religion zu tun hat. Es handelt sich um einen erkenntnistheoretischen Begriff, der die Verbindung zwischen dem Wissen und der jeweiligen Person bezeichnet – also die Gewissheit. Es scheint, dass zwischen Wissen und Glauben notwendige Beziehungen bestehen, dass Meinen und Überzeugung, überzeugen als Tätigkeit, überzeugt werden als Vorgang vom Wissen nicht abzulösen sind. Es geht also um Erkenntnispsychologie, vielleicht um Erkenntnispolitik.
Bruno Latours Buchtitel Existenzweisen könnte in Analogie zu den „Seinsmodalitäten“ verstanden werden, die wiederum eine Umformulierung der „Kategorien“ darstellen, die ihrerseits ausgehend vom Sprachgebrauch allgemeinste Realitätsgattungen bezeichnen.
In der aristotelischen Ontologie stellt die Substanz nur eine Modalität dar, welcher neun oder noch mehr andere Modalitäten untergeordnet sind beziehungsweise gegenüberstehen. Für den Sonderfall einer literarischen Handlung hat Aristoteles die Dominanz der Substanzen (der handelnden Personen) suspendiert. Man könnte die Frage stellen, ob nicht alle künstlichen Substanzen aus Bestandteilen zusammengesetzt sind, die von – natürlichen – Substanzen herrühren, die jedoch ihre Selbständigkeit verloren haben. Beispiel: Tisch - aus Holz und Glas - aus Bäumen und Steinen.  
Das bereits erwähnte „Geben“ ist von Aristoteles nicht in den Rang einer Kategorie gehoben worden. Woran liegt das? Ist dieser Vorgang in der Kultur seiner Zeit nicht so wichtig gewesen? Eigentlich möchte man das kaum annehmen. Jedenfalls hatte die griechische Sprache nicht das Synonym „es gibt“ für „existiert“. Das Schweizer Deutsch hat das auch nicht – dort sagt man „es hat“. Und die Franzosen sagen „da hat es“.
Wenn uns eine bestimmte historisch vorliegende Ontologie mangelhaft erscheint, können wir das nicht nur sagen, man kann sie durch eine andere Ontologie ersetzen. Analytische Philosophen würden dann von einer „revisionären Ontologie“ sprechen. Die radikalste Revision würde wohl darin bestehen, die dominante Substanz durch das Ereignis zu ersetzen. Alfred North Whitehead (1861-1941) hat so etwas getan.[1] Andere neuere Ontologien finden sich bei Williard Van Orman Quine, Keith Campbell, Joshua Hoffman & Gary S. Rosenkrantz.[2]
Ich würde daraus den Schluß ziehen, dass man vor Ontologie keine Angst haben muß.
Was nicht heißt, dass man als Philosoph unbedingt eine machen muß. Das muß man gar nicht. Allerdings dürfte es unvermeidlich sein, eine implizit vorauszusetzen. Explizit eine formulieren – ist Sache der Entscheidung.
Die Bezeichnung „Ontologie“ stammt aus dem frühen 17. Jahrhundert und ist wohl hauptsächlich durch die aristotelische Tradition motiviert. Man kann sie auch auf Platon anwenden. Gianluigi Segalerba weist erneut darauf hin, dass die platonische Ontologie, die häufig als „Ideenlehre“ bezeichnet wird oder als „Zwei-Welten-Lehre“, in engem Zusammenhang mit der Anthropologie gesehen werden muß, in der es um das Drama der menschlichen Entscheidung, um das Schicksal des Menschen geht. Die Ontologie sei hier einer Art „Existenzphilosophie“ untergeordnet. „Existenz“ im Sinne der Existenzphilosophie, nicht als ökonomische Subsistenz, auch nicht als bloße Faktizität. Dabei stellt sich allerdings die Frage, wie denn diese menschliche Existenz ihrerseits ontologisch oder kosmologisch oder ideenhaft definiert ist.
Demgegenüber habe die Ontologie bei Aristoteles eine selbständige Bedeutung. Sie sei eine theoretische Wissenschaft und verschaffe dem sie ausübenden Menschen ein Höchstmaß an Erfüllung. Letzten Endes geht es auch bei Aristoteles um das Schicksal des Menschen, das zwischen Unglück und Glück oszilliert. Auch hier stellt sich die Frage, wie der Mensch in der Ontologie bestimmt werde: gewiß als Körper mit Seele; eventuell mit einer Seele, die mit einer Art höheren Seele aufgestockt wird: dem Geist, der den Menschen mit Göttlichem ausstattet, und andererseits das aristotelische Postulat einer totalen Koextension, gewissermaßen Koinzidenz, zwischen Körper und Seele stört - ?
Der „existenzphilosophischen“ Dramatik bei Platon steht bei Aristoteles keine ähnliche Dramatik gegenüber. Seine sachliche Gelassenheit (Signifikat) wird allerdings von einem Text (Signifikant) geliefert, dem es an stiller ja heimlicher Dramatik nicht fehlt.

Walter Seitter
 
Sitzung vom 15. Juni 2016


[1] Siehe dazu Pierfrancesco Basile: Monadologie und Relationen – Whitehead, Russel und die Ablehnung der Substanz-Metaphysik, in: H. Gutschmidt, A. Lang-Balestra, G. Segalerba (Hg.): Substantia – Sic et Non. Eine Geschichte des Substanzbegriffs von der Antike bis zur Gegenwart in Einzelbeiträgen (Frankfurt 2008): 445-459.
[2] Siehe dazu Christian Kanzian & Joseph Wang: Substanzen in der analytischen Ontologie, in H. Gutschmict, A. Lang-Balestra, G. Segalerba (Hg.): op. cit.: 520-542.

Donnerstag, 9. Juni 2016

In der Metaphysik lesen (Kategorien, Seinsmodalitäten, Substanzen)


Am letzten Donnerstag, dem 2. Juni, war eine Ausstellung zu sehen, die dem Thema „Muttermilch“ gewidmet ist. Also genau dem Thema, das wir vor einigen Monaten mit der aristotelischen Terminologie besprochen haben – nicht ohne deutlichen Widerstand einiger Seminarteilnehmerinnen. Wir sprachen vom „Mutteressen des Säuglings“, wir betrachteten die Sache aus der Perspektive des Säuglings, des Nehmenden und sein Überleben Besorgenden. All das muß einen irgendwie grausamen Eindruck gemacht haben. In der Ausstellung hat die Künstlerin, Irini Athanassakis, die Sache unter den Hauptbegriff des Gebens gestellt und damit befand man sich in einer ethischen Wohlfühlatmosphäre. Es ging aber um genau denselben Sachverhalt. Man kann jedweden Sachverhalt mit unterschiedlichen Zugängen, Betrachtungsweisen, Redensarten „behandeln“ und damit unterschiedliche Wirkungen erzielen. (Dieser sozusagen „Meta-Sachverhalt“ liegt dem zugrunde, was ich einmal „Tychanalyse“ genannt habe).
Es wurde die Feststellung gemacht, dass das Wort „geben“ bei Aristoteles nicht in den Rang einer Kategorie gehoben worden ist – und sogar, dass dieses Wort bei Aristoteles überhaupt sehr selten, beinahe nie (?) vorzukommen scheint. Kann man das Geben irgendwo in seiner Kategorientafel implizit ausfindig machen? Am ehesten wohl als eine Sorte in der Kategorie „Wirken“ und die Kategorie „Haben“ hängt indirekt damit zusammen. Das Wort für „Nicht-Haben“ steht außerhalb der Kategorien, kommt aber im Wörterbuch von Buch V vor. Der Begriff „Bewegung“ spielt bei Aristoteles eine allergrößte Rolle, bildet aber keine Kategorie. Daraus ergibt sich, dass die Kategorientafel nicht in Erz gegossen ist, man könnte sie auch umbilden. Ontologie wird zwar mit Wissenschaftsanspruch aufgestellt – aber nicht ohne Kontingenz.

Mein Thessalonicher Vortrag „Accidentalism in Aristotle. Poetics and Ontology“, der aus der Poetik-Lektüre der Hermesgruppe hervorgegangen ist, geht von der Feststellung aus, dass Aristoteles für den plot der Tragödie die Agens-Kausalität weitgehend durch die Ereignis-Kausalität ersetzt. Die „Handlung“ im literarischen Sinn soll durch die Verknüpfung der Handlungsmomente erreicht werden, die man wiederum mit den Akzidenzien gleichsetzen kann. Für diesen speziellen Bereich wird also der Primat der Substanzen suspendiert, was nicht heißt, dass dieser Primat generell außer Kraft gesetzt wird. Die Ausnahmesituation ist ja durch den Dichter herbeigeführt worden, der zweifellos eine Substanz ist. Und was Aristoteles zusätzlich behauptet, ist, dass die Tragödie selber eine neue Substanz eigener Art ist: eine artifizielle - mit dem plot als Seele und mit gewissen materiellen Komponenten als Körper. Das heißt: man kann mit dem Begriff „Substanz“ auch jonglieren und wenn man sich an gewisse Kriterien hält, bleibt man im Rahmen der aristotelischen Ontologie.

Die aristotelische Ontologie wird auf den Begriff der Substanz (Essenz, Wesen(heit)) nicht verzichten können, sie impliziert aber keinen „Substanzialismus“, der in der Welt möglichst viele Substanzen etablieren will, etwa die Wahrheit oder den Staat oder die Sprache zu Substanzen ernennen will. Das Axiom der Ontologie heißt: das Seiende wird mannigfaltig ausgesagt und mannigfaltig heißt: eine Kategorie heißt „Substanz“, neun sind die Akzidenzien und zu denen kommen noch einige weitere nicht-substanzielle Seinsmodalitäten (Potenz, Bewegung, Zeugung, Zerstörung .... (diese sind nicht abzählbar!)). Die Mehrheitsverhältnisse in der Ontologie sind nicht günstig für die Substanz und wenn sie sich wichtig macht, noch wichtiger als sie ohnehin ist, oder wenn sie übermäßig wichtig gemacht wird von Aristoteles-Spezialisten wie Christof Rapp, so ändert das nichts an ihrer prekären Lage.

Der Abschnitt 8 im Buch V, den wir äußerst oft gelesen, erwähnt, erinnert und wieder erinnert haben und den wir vielleicht noch öfter erinnern werden, wenn es denn sein muß (allerdings habe ich noch bei keinem Kommentator von der außerordentlichen Aussagekraft dieses Abschnitts gelesen), dieser Abschnitt antwortet auf die Frage, wo eigentlich, was eigentlich, wer eigentlich die Substanzen sind, so: es sind die Körper mit Seelen - folglich auch ich, du, er, sie, es und so weiter. Alle ganz anderen Entitäten wie Eigenschaften, Beziehungen, Möglichkeiten, Wörter, Wahrheiten, Existenzen, Negationen sind keine Substanzen. Das heißt nicht, dass sie einfach Differenzen sind, sie lassen sich vielmehr genauer charakterisieren – wie eben angedeutet.
Im übrigen: wenn man gar kein Dichter ist, wenn man keinem Ding eine Seele andichten mag, dann wird es gar wenig Substanzen geben. Die Ontologie ist eine Wissenschaft – nicht ohne Kontingenz, nicht ohne Übermut. Wissenschaft gibt es überhaupt nur mit Übertreibung. Bruno Latour: Jubilieren (Frankfurt 2011)


Walter Seitter
 
Sitzung vom 9. Juni 2016


PS.:


Vortrag von  Christos Sidiropoulos

„Dreieinigkeit und Einheit: vom Dasein zum das-Ein“


VINOE – Die Niederösterreich Vinothek, Piaristengasse 35, 1080
Montag, 13. Juni 2016, 19:30 Uhr 



PPS.:


Buchpräsentation

HANS SCHELKSHORN, HELMUTH VETTER: FRIEDRICH WOLFRAM „ANTHROPOLOGIE DER GEWISSHEIT. EIN VERSUCH ÜBER DEN GLAUBENSBEGRIFF BEI ARISTOTELES

Otto-Mauer-Zentrum / Währinger Str. 2-4 / 1090

Dienstag, 14. Juni 2016, 19 Uhr

 

Montag, 6. Juni 2016

In der Metaphysik lesen (2400 Jahre Aristoteles)

Zwei Tage vor meiner Abreise nach Thessaloniki sagte ich zu dem südafrikanischen Psychotherapeuten Jo Steenkamp (bei dem es auch eine bemerkenswerte philosophische Dimension gibt), dass ich zum 2400. Geburtstag von Aristoteles fahren werde. Das klang für ihn so, dass er mich fragte, ob denn der noch am Leben sei. Darauf ich: Ja natürlich, ich fahre doch nicht zu einem Geburtstag von einem Toten ...

Vom 23. bis zum 28. Mai nahm ich also an dem Aristoteles-Kongreß in Thessaloniki teil, auf dem ungefähr 250 Vorträge gehalten wurden, außerdem gab es Exkursionen sowie musikalische Feiern. Meine aktuellen Aufmerksamkeitspunkte waren die beiden zuletzt in der Hermesgruppe zur Sprache gekommenen Aspekte: das Wort „verstümmelt“ in der Metaphysik sowie die von Verletzungen gezeichnete Statue am Rand des Aristoteles-Platzes. Gleich am ersten Tag fragte ich die Präsidentin des Kongresses, Dimitra Sfendoni-Mentzou, ob sie den Bildhauer der Skulptur eingeladen habe bzw. was sie von dieser Statue halte. Ihre spontane Antwort war sehr demokratisch: die ganze Stadt möge diese gar nicht und daher auch sie nicht. Die Chance, auf diesem Kongress den Bildhauer hören und sprechen zu können, war also von vornherein vergeben. Ich habe im Lauf der Woche mehrere Kongreßteilnehmer zur Statue geführt und vorsichtig-pädagogisch zum Sehen ihrer Besonderheit drängen können.
Mein eigener Vortrag mit dem Titel „Accidentalism in Aristotle: Poetics and Ontology“ war dem Hauptresultat der Poetik-Lektüre in der Hermesgruppe gewidmet und er fand genau gleichzeitig mit dem Vortrag statt, der dann am Freitag, dem 26. Mai, als Meldung über den Globus lief: Aristoteles-Grab in Stagira gefunden! Ein griechischer Archäologe hat zu einer bereits bekannten Ruine in dem Geburtsort des Philosophen die Hypothese formuliert, dass nach dem Tod des Aristoteles seine Asche hier beigesetzt worden sei. Daß diese Nachricht sogar in die österreichischen Zeitungen eingedrungen ist, während die Vorträge von Oliver Primavesi, Christof Rapp, Walter Seitter kein Presseecho fanden, muß meines Erachtens weder verwundern noch empören.
Ich nenne einige Vortragstitel wie den von Seweryn Blandzi: „Aristoteles’ Erste Philosophie: Metaphysik, Ontologie, Theologie oder Methodologie?“ Damit wird die Frage aufgeworfen, unter welche Titulierung(en) das von uns jetzt gelesene Buch gestellt werden kann. Gesche Heumann bemerkt, dass Aristoteles selber zunächst zwei andere Bezeichnungen einführt: eine operative: gesuchte Wissenschaft, eine eher Ehrfurcht gebietende: Weisheit. Shawn Welnak: „The Outlandish, Wonderful, Perplexing Philosophy of Aristotle“. Wir stellen fest, dass diese Charakterisierungen dem üblichen Bild, das man sich von Aristoteles, dem Lehrer und Systematiker, macht, eher widersprechen, nichtsdestotrotz könnten sie zutreffend sein. Zwei Vorträge waren Franz Brentano gewidmet, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer der ersten Wiederentdecker der aristotelischen Philosophie war und außerdem ein Wegbereiter des Wiener Kreises.
In Mieza, wo Aristoteles den jungen Alexander unterrichtet hat, sprach Lambros Couloubaritsis über „Die komplexe Organisation des aristotelischen Denkens“ – indem er auf die Verbindung zwischen den theoretischen und den praktischen Wissenschaften hinwies.
Am Freitag, dem 26. Mai, fuhren wir nach Stageira, wo seinerzeit auf steilen Hügeln zwischen zwei Meeresbuchten die Stadt lag, die zu Aristoteles’ Lebzeiten von König Philipp II. zerstört wurde, dann wieder aufgebaut worden ist, und nun seit Jahrtausenden einige schöne Mauern und Ruinen in den Wäldern darbietet. Anstrengendes Herumklettern unter heißer Sonne. Am selben Tag die Nachrichten vom leeren Grab weltweit.
Zu den kulturellen Veranstaltungen zählte ein Konzert in der Rotonda – mit der Aufführung einer „Hymne an Aristoteles“, deren erste Zeilen von Aristoteles selber gedichtet worden waren, und zwar als „Hymne an die Tugend“. Text und Noten wurden mir vom Dirigenten ausgehändigt, das heißt, ich könnte, wenn ich könnte, dieses Stück in Wien zur Aufführung bringen.
Den Schlußvortrag hielt Dimitra Sfendoni-Mentzou über „Aristotle’s Dynamic Vision of Nature: The case of ‚Prime Matter’. A Neo-Aristoteleian Perspective on Contemporary Physics“. Dieses anspruchsvolle Thema bewältigte sie allerdings nur um den Preis massiver Fehleinschätzungen.
Nach dem Abschluß des Kongresses hatte ich Gelegenheit, mit meinem Übersetzer Omiros Tachmazidis über einige dieser Themen zu sprechen. Das Gespräch wurde von dem Filmemacher Giorgos Keramidiotis aufgenommen und daraus wird er wohl seinen nächsten „Philosophen-Film“ machen. Am Abend traf ich mich mit dem Psychoanalytiker Christos Sidiropoulos, führte auch ihn zur Statue, wo er zum ersten Mal die erwähnten „Löcher“ sah. Ich erwähnte die Rolle des Wortes „verstümmelt“ bei Aristoteles sowie Jacques Lacans paradoxe Würdigung der Metaphysik in seinem Seminar XIX „... ou pire (1971-1972)“, die wir im November 2011 besprochen haben.
Sophia Panteliadou äußert die Meinung, dass sich in der Gegenwart das Interesse an Aristoteles auffallend verstärke, so dass sich die Frage stelle, ob es sich dabei um eine „Mode“ handle. Tatsache ist, dass die Hermesgruppe, als sie sich vor neun Jahren zur Lektüre der Poetik, vor fünf Jahren zur Lektüre der Metaphysik entschloß, einen ziemlich unzeitgemäßen Eindruck gemacht hat.

Gianluigi Segalerba berichtet von einer Tagung, die vor kurzem in Berlin stattfand und die der platonischen Seelenlehre im Phaidon gewidmet war; er selber sprach über Platons Argumente für die Existenz der Seele (incl. Präexistenz und Postexistenz) im Phaidros.[1] Und er weist darauf hin, dass der entscheidende Unterschied zwischen Platon und Aristoteles eher in der Seelenlehre und in der Auffassung vom menschlichen Schicksal liege. Platon sei es um die Abwehr katastrophaler Tendenzen anthropologischer, ethischer, politischer Art gegangen. Wenn er dazu neigte, einen apokalyptischen Ton anzuschlagen, während Aristoteles eine distanzierte Gelassenheit an den Tag lege, so sollten wir in unserer Aristoteles-Lektüre die platonische Lektion nicht ganz vergessen.

Walter Seitter
 
Sitzung vom 1. Juni 2016




[1] Titel seines Vortrags:  Der Beweis der Unsterblichkeit der Seele und die Schilderung der menschlichen Lage in Platons „Phaidros“ (245c–256d)

Donnerstag, 19. Mai 2016

In der Metaphysik lesen (genos)


Wir kommen auf den Vortrag zu sprechen, den vor kurzem Jens Hauser (Kopenhagen) in Wien gehalten hat: „Biomedialiät und Medienkunst“. Er hatte mich davon informiert, weil er meinem Buch Physik der Medien. Materialien Apparate Präsentierungen wichtige Anregungen verdanke. Vor zwei Jahren organisierte er im Wiener Naturhistorischen Museum eine Ausstellung unter dem Titel „Wetware – art agency animation“ und wir fragen uns, was mit „wetware“ gemeint ist.

Der Begriff wurde in Anlehnung an „hardware“ und „software“ gebildet und meint solche Elemente oder Materialien, die zu drei Viertel aus Wasser bestehen – nämlich das menschliche Gehirn, überhaupt Menschenwesen als Teil einer IT-Architektur. Was ist IT?
Also Mitarbeiter, Programmierer, Entwickler, Systemadministratoren – alle, die dafür zuständig sind, dass die IT funktioniert. Zitat eines Projektmanagers: „Bevor wir mit diesem Projekt weitermachen können, brauchen wir mehr wetware.“ Manchmal werden die Nutzer von Hard- und Software ebenfalls mit diesem Begriff bezeichnet.
Ich übersetze jetzt einmal das englische Wort ins Aristotelische und sage dafür: „Mensch als zoon“.

Im Grunde ist damit auch schon das „Subjekt“ genannt, welches vom genos im Abschnitt 28 des Buches V vorausgesetzt wird, näherhin eben fortgepflanzt wird.

Aristoteles führt Beispiele an, aus denen hervorgeht, dass größere Menschheitsteile, nämlich Völker, sich nach Personen benennen, von denen sie abstammen: die Hellenen von einem gewissen Hellen, die Ionier von Ion; also Stämme von ihren Stammvätern; er führt auch das Beispiel einer Stammmutter an; aber da kann er kein Volk nennen; denn die Nachkommen der Pyrrha sind – bei ihm – die Menschen überhaupt; immerhin nähert er sich bei diesem Beispiel zumindest dem Anschein, es könnte auch von einer Frau die Weitergabe der genetischen Information ausgehen.

Im übrigen ist das gesamte Menschengeschlecht gegenüber einzelnen Völkern so etwas wie die Gattung – womit die zweite, die logische Bedeutung von genos zum Zug kommt. Diese Bedeutung wird hier anhand geometrischer Größen – Flächen und Körper – vorgeführt und schließlich verweist Aristoteles auf die Hauptunterscheidung in seiner Ontologie, die Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidenzien. Dabei greift er sogar auf die Terminologie der ersten Ontologie-Gründung, also der Kategorien, zurück und spricht von den verschiedenen Kategorien des Seienden. (1024b 13ff.) Unter dem Stichwort „das Seiende“ hatte er im Buch V ebenfalls auf die Kategorienlehre verwiesen, dort aber die Infinitivform „das Sein“ zum Terminus gemacht. (1017a 23ff.) Die Unterscheidung zwischen dem Partizip Präsens und dem Infinitiv Präsens wird Aristoteles schon bewusst vollzogen haben, er lädt sie aber nicht mit einer riesigen Bedeutung auf (wie später dann Heidegger).

Obwohl diese formalistischen Aspekte nur von begrenzter Wichtigkeit sind, kann man die Tatsache, dass die Metaphysik auf die Frühschrift über die Kategorien zurückgreift, in dem Sinn interpretieren, dass das Gesamtwerk des Aristoteles jenseits besserer oder schlechterer Erhaltungszustände doch einige durchgehende Züge aufweist.

PS.: 
Arbogast Schmitt, der mir von seiner Poetik-Kommentierung in deutlicher aber nicht bester Erinnerung ist, hat nun ein großes Werk vorgelegt, das mit seinem hohen Anspruch unser Interesse erwecken sollte.

Arbogast Schmitt: Wie aufgeklärt ist unsere Aufklärung? Eine Kritik aus aristotelischer Sicht (Heidelberg 2016)

Schmitt versucht, den Erkenntnisbegriff des Aristoteles, seine spezifische Form von Rationalität, herauszuarbeiten. Er bezeichnet sie als "präsentische" Erkenntnisweise, welche sich direkt auf die Dinge richtet und die Unterschiede zwischen diesen klarstellen will: "Eine jede Sache wird an ihrem Vermögen (dynamis) und ihrer Leistung (ergon) erkannt und in dem, was sie ist, unterscheidend bestimmt." Indem er diese Problematik durch die Geschichte des Abendlandes weiter verfolgt, gelangt er zum Realitätsbegriff der Aufklärung und meint, die Aufklärung habe eine mentale "Repräsentation" favorisiert, die über die wahrgenommenen Dinge gelegt werde.

Schmitt spricht der aristotelischen Position mehr Plausibilität und Evidenz zu und sieht in ihr noch einen zusätzlichen Vorteil: sie könne eine Brückenfunktion in der immer wichtiger werdenden Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Kulturen wahrnehmen - etwa der westlichen und der ostasiatischen.

Es trifft sich, daß am kommenden Wochenende in Wien eine große Tagung stattfindet über


Philosophy of Nature
In Regard on Neo-Aristotelism in All-Encompassing System of Knowledge

stattfindet, die genau diese geopolitische Dimension mit über zwanzig Vorträgen aufspannt. 

Natürlich empfehle ich dringend den Besuch dieser Tagung.

Walter Seitter
 
Sitzung vom 18. Mai 2016 / Nächste Sitzung am 1. Juni 2016


Samstag, 7. Mai 2016

In der Metaphysik lesen (1024a 29 – 1024b 9)

Wir stellen die Frage, ob die Beschädigungen oder Verletzungen, die an der Thessalonicher Aristoteles-Statue angebracht sind, auf biographische oder persönliche Schäden oder Mängel bei Aristoteles selber hinweisen könnten. Man kann davon ausgehen, dass diese Statue wohl die einzige skulpturale Aristoteles-Darstellung aus neuerer Zeit ist, die vom klassischen Statuen-Ideal in großen Zügen wie auch in einigen krassen Details abweicht. Andere Aristoteles-Standbilder, in Griechenland oder anderswo, zeigen klassizistisch-starren weißen Marmor.

In seiner Athener Zeit hatte Aristoteles gravierende Nachteile in Kauf zu nehmen, da er nicht einheimischer Staatsbürger war. Obwohl Gründer und Leiter einer angesehenen Lehranstalt konnte er sich da nur als Mieter oder Gast halten. Eventuell hing schon die Tatsache, dass er nach dem Tod Platons (347) nicht die Leitung der Akademie übernehmen konnte, mit seinem schwachen politischen Status zusammen. Vollends dramatisch wurde seine Situation, als er nach dem Tod Alexanders des Großen (323) um sein Leben fürchten musste – und nach Euboia auswich, wo er bald starb.

Der Ausdruck „verstümmelt“ würde sich wohl auf das Werk des Aristoteles anwenden lassen, wenn man seinen Erhaltungszustand in Betracht zieht - und dabei nicht nur die Poetik und die Metaphysik in Betracht zieht, sondern vor allem die Tatsache, dass diejenigen Schriften, die von ihm autoritativ verfasst und publiziert worden sind, zur Gänze verloren sind. Allerdings sind von Aristoteles so viele Schriften erhalten, dass diese Verlusttatbestände kaum in unser Bewusstsein fallen. Anders steht es mit den „Fragmenten“ der Vorsokratiker – um die sich allerdings eine kultische Aura von Archaik und Tiefsinn gelegt hat.

Und dann noch zur Frage, wie sich das Stichwort „verstümmelt“ im Buch V ausnimmt, das ja als Wörterbuch – Wörterbuch der Metaphysik ? – gilt. Im letzten Protokoll habe ich dieses Wort zum „zentralen Begriff der Metaphysik“ erklärt. Zunächst einmal stellt es sich als der marginalste, der niedrigste Begriff in der Serie der 30 Stichworte dar. Alle übrigen – 29 – Stichworte sind Begriffe von hoher Allgemeinheit. Das gilt auch für „Quantität“, „Privation“, „Teil“, „Ganzes“ – mit denen die Verstümmelung in näherer logischer Beziehung steht. „Verstümmelt“ wird erstens den Quantitäten untergeordnet und zweitens als eine Sorte von Privation bestimmt. Gerade diese Unterordnungen weisen darauf hin, dass es sich um einen niedrigen Begriff handelt – tatsächlich um den niedrigsten in der Reihe der dreißig. Ähnlich niedrige, das heißt konkrete, das heißt beliebige Bestimmungen kommen in den übrigen Abschnitten zuhauf vor – aber immer nur als Beispiele, als Differenzierungen für die Stichworte. Beispiele wie „blind“, „farblos“, „kernlos“, „ungerecht“ – für Privation. Da sieht man schon, wenn man sieht, dass „verstümmelt“ genau in diese Reihe hineinpassen würde. Es steht aber nicht in dieser Reihe sondern ist sozusagen daraus emporgehoben worden und steht nun gleichrangig neben dem Stichwort „Privation“, obwohl es logisch eine Stufe darunter angesiedelt ist.

Die Eigenschaft „verstümmelt“ ist also logisch (nicht nur logisch) der niedrigste Stichwort-Begriff – aber textuell, literarisch, lexikographisch emporgehoben in die Serie der höheren Begriffe, von denen einige übrigens allerhöchste sind: logisch allerhöchst: „seiend“, logisch und nicht nur logisch allerhöchst: „Natur“, sehr hoch auch: „Geschlecht“/„Gattung“.
Das heißt Aristoteles hat mit „verstümmelt“ eine Sonderaktion durchgeführt, er hat eine Ausnahme gemacht, sodaß aus dem niedrigsten Begriff der besonderste geworden (natürlich nicht der höchste). Insofern der „zentrale“.

Wir gehen zum nächsten Abschnitt über, dessen Stichwort genos sich durch eine interessante Mehrdeutigkeit auszeichnet, dementsprechend sind die deutschen Übersetzungen hin- und hergerissen: zwischen „Geschlecht“ und „Gattung“. Das aristotelische Wort genos wird zumeist mit „Gattung“ übersetzt, weil sich dieser Begriff in der Logik durchgesetzt hat: als Bezeichnung für eine größere Allgemeinheit als „Art“.

Davon weicht aber die Übersetzung von H. Carvallo und E. Grassi (Reinbek 1994) sehr entschieden ab, indem sie das Wort genos, das ja in der Metaphysik schon öfter vorgekommen ist, immerzu mit „Geschlecht“ übersetzt, und zwar auch dann, wenn offensichtlich die logische Bedeutung im Spiel ist und das Wort „Geschlecht“ total missverständlich erscheint und darüber hinaus bizarr und abstrus beziehungsweise geradezu sex(ual)istisch, sofern dieses Wort ja auch so etwas bezeichnet. Die meisten deutschen Übersetzungen, so auch die meinige (eine wenn man so will „österreichisch-deutsche“) schreiben zumeist „Gattung“ und nur selten, wenn der Kontext es erzwingt, fallweise auch „Geschlecht“, wie eben in diesem Abschnitt 28.

Die mir vorliegende englische Übersetzung (bei LOEB) entscheidet sich ebenfalls hier für eine zweigleisige Übersetzung: für die logische Bedeutung das lateinische „genus“ und für die andere Bedeutung „race“. Die neuere amerikanische Übersetzung von Joe Sachs schreibt hingegen einheitlich „kind“ – eine vermutlich erstmalige „angelsächsische“ Lösung.

In den ersten Sätzen von Abschnitt 28 verwendet Aristoteles das Wort genos offensichtlich in der Bedeutung von „Geschlecht“. Und daher zunächst einmal einige Überlegungen zu diesem deutschen Wort, das selber zwei Bedeutungsrichtungen aufweist.

Geschlecht 1: Generationenabfolge, Abstammung, Fortpflanzung – also das Nacheinander im „Menschengeschlecht“ bzw. in einzelnen z. B. adeligen „Geschlechtern“.

Geschlecht 2: in diesem Sinn gibt es zwei natürliche oder sexuelle Geschlechter: männlich, weiblich. Die drei grammatischen Geschlechter (der, die, das) kann man als abgeleitete Variation bezeichnen. Und neuerdings spricht man sogar bei den natürlichen menschlichen Geschlechtern von mehr als zwei, wofür jetzt unterschiedliche neue Bezeichnungen erfunden werden. Um die Natürlichkeit der zwei menschlichen Geschlechter zu relativieren, hat man im Englischen (und im Neudeutschen) neben das Wort „sex“ das Wort „gender“ gesetzt.

Und der Zusammenhang zwischen Geschlecht 1 und Geschlecht 2 liegt darin, dass Geschlecht 1, d. h. Fortpflanzung, bei den Menschen und bei vielen Tieren und Pflanzen nur „mit Geschlecht 2“, nur mit dem Miteinander zwischen den beiden sexuellen Geschlechtern funktioniert.

Im großen und ganzen und trotz den angedeuteten Sprachtendenzen dominiert heute im Deutschen „Geschlecht 2“, während „Geschlecht 1“ aus der Mode gekommen ist. Bis zum 18. Jahrhundert dürfte es vorgeherrscht haben (eine geradezu tautologische Feststellung, weil mit dieser Bedeutung so etwas wie „Herrschaft“ verbunden war).

Jetzt aber noch zum Wort „Gattung“, das in die Logik gehört. Aber wenn man das Wort anschaut, womöglich anhört, nämlich auf es hört, dann nimmt man wahr, dass es mit den „Gatten“ verwandt ist. Auch das Wort „Gattung“ stammt aus dem semantischen Feld der Biologie. Auch es bezeichnet eine biologische Verbindung zwischen Menschen, aber nicht nur im Nacheinander, sondern auch im Neben- und Miteinander: Verwandtschaft. Und die „Gatten“ entsprechen genau der Zweizahl, die das Geschlecht 2 kennzeichnet: Mann und Frau.

In den ersten Sätzen von Abschnitt 28 also hat das Wort genos nur die Bedeutung von Geschlecht 1. Allerdings zunächst mit einer gewissen Verallgemeinerung über das Nur-Menschliche hinaus: „kontinuierliche Entstehung der (Dinge), die dieselbe Form (Art) haben“. (1024a 29) Wobei für „Entstehung“ genesis steht – also dazugehörige sis-Wort, das einen Vorgang oder eine Tätigkeit bezeichnet, und die Tätigkeit heißt im Deutschen „Fortpflanzung“, „Zeugung“. Einzelne Geschlechter bzw. Stämme oder Völker werden nach den Stammvätern benannt, oder auch nach den Stammmüttern, wofür Aristoteles einige Beispiele aus der griechischen Geographie und Sagenwelt nennt. Er wundert sich selber darüber, da nach seiner Auffassung die Zeugung als Übertragung der Menschenform nur vom Vater geleistet wird, die Mutter liefere lediglich den Stoff. Zeugung und Gebärung seien die unterschiedlichen Fortpflanzungsleistungen von Mann und Frau. Aber das Wort genos hat bei Aristoteles nur die Bedeutung von Geschlecht 1.

Und dann eben noch die logische Bedeutung „Gattung“. Aristoteles nennt Beispiele aus der Geometrie: die Gattung der Fläche umfasst verschiedene Arten von Flächen, die Gattung der Körper umfasst verschiedene Arten von Körpern; formal kann die Gattung definiert werden als erster Bestandteil einer Definition oder als Substrat für die Unterschiede. Die scholastische Zusammenfassung lautet: definitio fit per genus et differentias specificas.

Walter Seitter
 
Sitzung vom 4. Mai 2016