τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 18. Oktober 2015

Poetik-Protokoll


An diesem Wochenende fand an der Universität Wien eine Tagung über Euripides statt:

„Der Wandel des Euripides-Bildes von der Antike bis heute“

Obwohl ich von den dreizehn Vorträgen nur zwei besucht habe, konnte ich erfreuliche Erkenntnisgewinne erzielen.

Stefan Büttner: „Euripides – „Tragischster aller Dichter“ oder „Zerstörer der Tragödie“? gab einen Überblick auf die unterschiedlichen Bewertungen, die der Dichter im Laufe der Jahrhunderte erhalten hat. Aristoteles – ungefähr hundert Jahre später lebend – liefert in seiner Poetik eine sehr ambivalente Einschätzung: 1453a 22ff.. Einerseits nennt er ihn den „tragischsten“ der Tragödiendichter (im Hinblick auf die Hervorrufung von Schauder und Jammer), andererseits hat er einiges an seiner „Ökonomie“, also der Handlungsfügung auszusetzen. Also ein Lob fürs „Inhaltliche“, ein Tadel für die formale Komposition, womit die Struktur des mythos, also des plot, gemeint sein muß.

Zweiter Vortrag: Arbogast Schmitt: „Nietzsche contra Euripidem et Socratem. Über den Verstand als ‚Totengräber der Kunst’“.

Ich kannte bisher Arbogast Schmitt als Verfasser einer Poetik-Übersetzung und -Kommentierung, auf die ich in meinem Poetik Lesen sehr kritisch eingegangen bin.

Er sollte also über Nietzsches berühmte Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik sprechen und deswegen nahm ich mir am Abend zuvor, besser gesagt so um Mitternacht vom 16. auf den 17. Oktober, das kleine Buch vor, das ich natürlich schon längst gelesen hatte. Aber wieder einmal zeigte sich, wie trügerisch das Schon-gelesen-haben sein kann. Dieses Mal las ich es als jemand, der die aristotelische Poetik wirklich gelesen hatte – und siehe da, ich fand, dass Nietzsche in seiner normativen Tragödientheorie einen Gegensatz zwischen dem „Mythus“ und der „Charakterdarstellung“ konstruiert, wobei letztere mit ihrer Verfeinerung ins Psychologische (bei Euripides) dem Wesen der Tragödie, das auf Musik und Chor und Mythus aufruht, sehr abträglich sei.[1]

Mir ist diese zentrale Passage deswegen aufgefallen, weil es in der – ebenfalls normativen - aristotelischen Poetik eine gleichsinnige Unterordnung der Charaktere unter den mythos beziehungsweise unter die „Handlung“ gibt: 1449b 24ff.


Gleichsinnigkeit, Gleichgerichtetheit der berühmtesten bzw. fast einzigen antiken Tragödietheorie und der wohl eigensinnigsten modernen?

Ich war also schon darauf gespannt, ob und wie Arbogast Schmitt sich dazu äußern würde, wobei mir schon schwante, dass er mit seiner starken Fixierung auf den Charakter (als Bindemittel der Tragödie) schwerlich einen Sinn für meine „Entdeckung“ haben würde.

Und so war es auch. Den größten Teil seines Vortrags widmete er sich überhaupt nicht Nietzsches Kritik gegen Euripides (die nur bereits formulierte Bedenken zusammenfassen würde), sondern erkenntnistheoretischen Vorbereitungen von Nietzsches Position (bei Leibniz, Baumgarten, Kant, Schopenhauer ...). Immerhin erwähnte er kurz das Überhandnehmen der Charakterzeichnungen bei Euripides, welche den dionysischen Urgrund zersetzten – um dann gleich zu einem erkenntnistheoretischen Punkt in der Metaphysik überzugehen.

In der Diskussion wies ich ihn darauf hin, dass nach meiner Wahrnehmung Aristoteles und Nietzsche in vergleichbarer Weise Mythos und Charakter gegeneinander polarisieren, wobei die Unterschiede nicht zu übersehen seien: während Nietzsche mit der Vorsokratik kokettiere, entwickle Aristoteles eine entschieden postsokratische Perspektive. Schmitt nahm das zunächst erstaunt zur Kenntnis, um dann gleich zu replizieren, der aristotelische mythos und der nietzscheanische Mythus hätten miteinander nichts zu tun. Ich: sie seien wohl zu unterscheiden, aber zu tun hätten sie schon miteinander. An dem aristotelischen mythos=plot hänge ein eigener Handlungsbegriff, nämlich der literarische, der vom ethischen zu unterscheiden sei. Ich sagte dann noch dazu, dass sein Poetik-Kommentar dies ignoriere. Schmitt: dass in einem Text ein und dasselbe Wort zwei verschiedene Begriffe enthalte, und zwar ohne explizite Kennzeichnung, sei nicht zu akzeptieren.

Nach seinem Vortrag setzte er sich gleich zu mir, um weiter zu diskutieren; er verteidigte die Alleinstellung des ethischen Handlungsbegriffs ... Ich empfahl ihm, Seitters Poetik lesen zu lesen. Das ganze war ein kurzer und scharfer, im übrigen sehr freundlich geführter Meinungsaustausch. So weit so gut, gut vielleicht für die Wissenschaft. Jedenfalls für mich.

Aus der Menge der Anwesenden keine Äußerung dazu.

Walter Seitter


[1] Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872), in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Band 1 (München 1980): 113ff.    


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