τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 9. Oktober 2015

In der Metaphysik lesen (1018b 9 – 1019a 14)

Das Frühere und Spätere – jedoch nicht nur in zeitlicher, sondern auch in mehreren anderen Hinsichten: örtlich, bewegungsmäßig, rangmäßig, machtmäßig, erkenntnismäßig, seinsmäßig .... Also das Frühere, Ehere, das Nähere, das Grundlegendere, das Primäre, das Anfänglichere. Alle diese Komparative, deren Bezugspunkt vom ersten Stichwort dieses „Wörterbuches“ bezeichnet wird: arche. Die beiden modernen Formeln „a priori“ und „a posteriori“ sind (mit falschem Latein) als Übersetzungen von proteron und hysteron in die moderne Philosophiesprache eingeführt worden.

In der zeitlichen Hinsicht bedeutet dieses Primäre immer das Frühere und doch gibt Aristoteles zwei verschiedene Bezugspunkte an – je nachdem, ob es sich um mehrere vergangene Ereignisse handelt oder um künftige. Während die vergangenen an einem unbestimmten Uranfang (?) gemessen werden, werden die zukünftigen vom Jetzt des Sprechens an gerechnet. Die beiden Bezugspunkte unterscheiden sich so ähnlich wie die beiden im Protokoll vom 1. Juli genannten, welche im Raum angesiedelt waren. Sie verstärken den Eindruck, dass Aristoteles keine Schwierigkeit damit hat, innerhalb einer Fragestellung von einem Bezugspunkt auf einen ganz anderen umzuschalten. Flexibilität.

Ein Halbsatz, ein kausaler Nebensatz, noch dazu ein elliptischer, denn es fehlt das estin, verdient Aufmerksamkeit: epei de to einai pollachos (1019a 5). Er variiert die häufiger vorkommende Wendung to on legetai pollachos, die wir auch im Buch IV angetroffen haben (1003  33), einfach durch die Einsetzung des Infinitivs Präsens für das Partizip Präsens.

Meine Wahrnehmung folgt offensichtlich derjenigen von Martin Heidegger, die mir jetzt durch ein älteres Buch von Jean Greisch bekannt wird, wo angedeutet wird, dass Heidegger, dem die Sache mit dem on pollachos legomenon längst bekannt war, durch das einai pollachos den „Schock einer initialen Begegnung“ erfahren habe.[1]

Es scheint, dass diese Formulierung bei Aristoteles selber ohne große Absicht gewählt worden ist. Nichts deutet darauf hin, dass er – wie dann Heidegger – aus dem Unterschied zwischen dem on und dem einai eine sogenannte „ontologische Differenz“ machen wollte.

Heidegger hat mit der „ontologischen Differenz“ einen „höheren Standpunkt“ (im Sinne Hegels) gewinnen wollen, den er mit Antisemitismus aufgeladen hat, welchen er sogar gegen seinen Lehrer Husserl gerichtet hat. Auf Husserl ist nämlich der Satz in den Schwarzen Heften gemünzt: „Der Angriff gründet einen geschichtlichen Augenblick der höchsten Entscheidung zwischen dem Vorrang des Seienden und der Gründung der Wahrheit des Seyns.“[2] Husserl und die Juden werden dem „Vorrang des Seienden“ zugerechnet.

Gegenüber einer so verstandenen „ontologischen Differenz“ handelt es sich bei Aristoteles um eine „ontologische Multiplizität“, innerhalb derer dem Wesen viele andere Seinsmodalitäten hinzugefügt werden, welche sich nicht auf die Akzidenzien beschränken. Zu denen kommen dann noch die fünf „Postprädikamente“ sowie die diversen Modalitäten, die im Buch IV genannt werden (1003b 7ff.) – im Buch V werden sie einzeln angeführt und erläutert. Vom Wesen gibt es zwei Versionen und die übrigen Modalitäten vermehren sich sozusagen jedes Mal, wenn Aristoteles auf das Thema zu sprechen kommt. Insofern hat Kant nicht ganz unrecht, wenn er in der Kritik der reinen Vernunft die aristotelische Kategorienaufstellung als „rhapsodistisch“ kritisiert. Mein Lehrer Max Müller (München) hat Aristoteles eben deswegen gelobt.

  
Walter Seitter
 
Sitzung vom 7. Oktober 2015


Postskriptum:

Euripides-Tagung an der Universität Wien
Marietta-Blau-Saal
Donnerstag 15. Oktober, 15.15–16.00
Stefan Büttner: Euripides – Tragischster aller Dichter oder Zerstörer der Tragödie?

Samstag 17. Oktober, 11-12.30
Arbogast Schmitt: Nietzsche contra Euripidem et Socratem
Über den Verstand als Totengräber der Kunst





[1] Siehe Jean Greisch: La parole heureuse. Martin Heidegger entre les choses et les mot (Paris  1987) 31ff.

[2] Martin Heidegger: Überlegungen XII-XV (Schwarze Hefte 1939-1941). GA 96 (Frankfurt 2014): 47.  

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