τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Donnerstag, 29. Oktober 2015

In der Metaphysik lesen (1020b 4 – 36)

Das Protokoll wird geschrieben und herumgeschickt, damit es am Anfang der nächsten Sitzung bei allen präsent ist und sofort besprochen werden kann. Damit also ein fester Faden von einem Mittwoch bis zum nächsten gespannt ist oder eine ordentliche Signifikantenkette, eine feste und natürlich physische Schiene, damit wir nicht irgendwie im Vagen hängen bleiben. Das Ungefähre ist keine philosophische Qualität und ein Seminar braucht auch eine – mindestens eine - schriftliche Bahnung, um mehr zu sein als ein „Lesekreis“. Die Dinge müssen schriftlich eingraviert werden, wie die Pflänzchen in die Erde gesetzt werden: „seminarium“. Auch soll später nachgelesen werden können und geschaut, ob die Pflanzen vielleicht schon größer geworden sind.

Zunächst Erinnerung daran, dass die aristotelische Bestimmung der Quantität durch Teilbarkeit anhand unseres Frühlingsthemas, nämlich des Mutter-Essens durch den Säugling (unser aristotelischer Frühling), drastisch exemplifiziert worden ist. Das Beispiel ist drastisch, aber nicht durch Einwände, die Milch sei kein Teil der Mutter, die Mutter sei doch nicht nur ein Quantum, die arme Mutter, aus der Welt zu schaffen. So ein Beispiel, das gerade nicht aus dem aristotelischen Text genommen ist, sondern aus einer wenn man will banalen jahrtausendealten – und immer wieder erneuerten – Praxis, ist geeignet, Aristoteles sachlich, also philosophisch, zu verstehen. Lacan hat mit seinen vier Objekten klein a ein paar Körperausscheidungen namhaft gemacht, darunter auch die der mütterlichen Brust; die hat er zu Freud dazugesagt. Ich habe dieselbe zu Aristoteles dazugesagt. Also Lacan zu Freud koinzidiert hier mit Seitter zu Aristoteles.

Und wenn irgendwann ein Psychoanalytiker dies zu Gesicht bekommen und zur psychoanalytischen Ansicht kommen sollte, der Seitter, der muß irgendwie einem Mutter-Komplex verfallen sein, dann würde damit nichts Schlimmes passieren: er könnte damit seine Theorie bestätigen und an meiner Sache würde er immerhin etwas kapieren.

Und nun die „Qualität“. Zu meiner Überraschung – das Beste, was einem Leser passieren kann – bestimmt Aristoteles Qualität zunächst nicht als Gegenstück, als anderes Akzidens, neben der Quantität, sondern hebt sie auf die höhere Stufe der ousia, als Sosein der Art, differentia specifica zwischen Mensch und Pferd (womit der Mensch ziemlich antihumanistisch in die Ordnung der Dinge, in den Garten der Arten, in den Zoo der Gattung eingesperrt wird (da kann er dann sehen, ob er nicht etwa doch etwas Besseres ist)). Und dann die Qualität wieder als Artbestimmtheit – aber jetzt von arithmetischen und geometrischen Entitäten. Um ein anderes Beispiel für die Zahlen anzuführen: da gibt es die „rationalen“ und die „irrationalen“. Sobald eine Art von Zahlen herausgegriffen wird und sei es auch nur die „natürliche“ Zahl 6, haben wir es mit einer Wesenheit zu tun, und die ist nicht teilbar (genau so wenig wie die Mutter als Wesen(heit)).

Und dann erst die Qualität als Akzidens, eines der neun Akzidenzien. Doch Aristoteles vermengt sie gleich mit einem anderen Akzidens: den „Leiden“ der „bewegten Wesen“. Die bewegten, veränderten usw. Wesen bilden den Gegenstandsbereich der Physik und bewegt, verändert werden sie, indem sie Einwirkungen erleiden – und so bekommen sie ihre Qualitäten, die nicht notwendig sind: warm, kalt; schwer, leicht .... Die bewegten Wesen werden hier auch als „sich verändernde Körper“ bezeichnet – da gibt es vielerlei Arten, so die oben genannten zweifüßigen Tiere, also Menschen. Daß Aristoteles auch jetzt an sie denkt, geht daraus hervor, dass er den körperlichen Menschen – es gibt keine anderen (siehe Mutter) – auch andere mögliche Qualitäten zuschreibt: Tugendhaftigkeit, Schlechtigkeit (mit allen möglichen Mischungen).

Indem Aristoteles solche physischen Eigenschaften wie „warm“ oder „schwer“ und solche moralischen wie „tugendhaft“ oder „weniger tugendhaft“ auf engstem Ort zusammenschreibt, demonstriert er seine Auffassung von den Gemeinsamkeiten zwischen allen Wesen dieser Erde. Bernd Schmeikal spricht von „bioenergetisch“, einem Begriff von Reich und Lowen, die das zu Freud, gegen Freud dazugesagt haben. Im Abschnitt 8 hat Aristoteles seinen ontologischen Hauptbegriff „Wesen“ mit seinem physikalischen Haupt- und Doppelbegriff erläutert: nämlich „Körper“ und „Seele“ – die hier für zwei Versionen von Wesen stehen. Bei Aristoteles wird die Ontologie nicht absolut gesetzt, wie bei Heidegger. Sondern sie ruht jederzeit auf Physik oder Ethik oder Poetik auf.

Die Körperlichkeit der Menschen und ihrer moralischen und intellektuellen Leistungen (sowie Fehlleistungen) erhellt aus den technischen, kulturellen Verkörperungen etwa sprachlicher oder schriftlicher Art: Körperausscheidungen, Körpererweiterungen, weitere Objekte klein a, klein b, klein c, groß D.

Walter Seitter

Sitzung vom 28. Oktober 2015



Postskriptum: Erstes Wiener Philosophen-Café am 31. Oktober 2015 um 16 Uhr im Café Korb: „Werte“.

Donnerstag, 22. Oktober 2015

In der Metaphysik lesen (1019a 15 – 1020b 4)

Erinnerung an die Lektüre des Kapitels über Vermögen (Fähigkeit), Möglichkeit, vermögend (fähig, könnend), unvermögend (unfähig), unmöglich.

Ob nun substantivisch oder adjektivisch, positiv oder negativ, diese Ausdrücke umfassen eine beträchtliche Spannweite. Während „möglich“ als passive oder logische Qualität, einen ziemlich niedrigen Wirklichkeitsgrad bezeichnet und vielleicht von Aristoteles eingeführt worden ist, um so eine Stufe nicht einfach dem Unwirklichen (me on) zuschlagen zu müssen, bezeichnet die aktive Fähigkeit eine relative hohe Wirklichkeitsstufe, die man eigentlich nur beseelten, also Lebewesen, zuzusprechen geneigt ist. Der Ausdruck dynamis wird auch schon vor Aristoteles gebräuchlich gewesen sein, in der Alltagssprache oder in der politischen Sprache (wo allerdings dynasteia ein eingeführter Begriff war)[1]. Indessen legt Aristoteles Wert darauf, zu betonen, dass die aktive Fähigkeit auch unbeseelten Wesen zukomme: denn eine Leier könne tönen (1019b 16). Auch mit diesem Beispiel unterstreicht Aristoteles seine Bereitschaft, dem Geringen seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Und nicht etwa nur dem sogenannten „Dynamischen“ und „Dynastischen“, dem Mächtigen und dem Übermächtigen – wie dies etwa die Göttergeschichten und die Heldenverehrungen, die Kriegsgeschichten und die Siegerehrungen getan haben mögen.[2]

Hoher oder niedriger Wirklichkeitsgrad. Hat dieser Unterschied etwas mit der Ontologie, also mit der Lehre von den Seinsmodalitäten, zu tun? Wenn ja, müsste er auch an anderen Seinsmodalitäten anzutreffen sein. Und das ist auch der Fall: denn die Differenz zwischen Substanz und Akzidenzien hat gerade deswegen einen „hierarchischen“ Charakter, weil der Substanz mehr Wirklichkeit (Seiendheit) zukommt als den Akzidenzien: hier steht die Differenz zwischen „selbständig“ und „abhängig“ im Vordergrund. Innerhalb der in Met. 1003b 7f. genannten Seinsmodalitäten wird man wohl der Privation oder der Zerstörung weniger Wirklichkeit zusprechen als der Qualität oder der Erzeugung. Gibt es auch innerhalb der Akzidenzien Rangunterschiede, die ein „wirklicher“ oder „weniger wirklich“ bedeuten?

Etwa zwischen Qualität und Quantität? Diese Frage haben wir angeschnitten, als wir zum Kapitel 13 übergingen, das der Quantität gewidmet ist.

In der europäischen Neuzeit setzte sich ein Unterscheidungsprozeß durch, der die eher quantitativen Sinnesqualitäten wie Größe, Figur, Bewegung/Ruhe als „primäre“ bezeichnete, weil sie den Körpern wirklich und sogar notwendig zukommen, während die „sekundären“ wie Farbe, Temperatur, süß/sauer eher dem Wahrnehmungsapparat zugeschrieben werden und daher beinahe als Täuschungen gelten müssen. So nach John Locke: An Essay Concerning Humane Understanding (London 1690). Die überwiegend mathematisch vorgehenden Naturwissenschaften verfestigten die Vorstellung vom höheren Wirklichkeitscharakter der Quantität bis hin in die Sozialwissenschaften, Medizin, Unterrichtssysteme und so weiter. Allerdings blieben die Reaktionen nicht aus: Romantik, Geisteswissenschaften (die sich heute Kulturwissenschaften nennen), Esoterik, Zivilisationskritik haben bei vielen Menschen eine Gegenhaltung entstehen lassen, die so weit geht, dass sogar der Begriff der Qualität eine Verbiegung erfahren hat und „Qualität“ mit „Gutheit“ gleichgesetzt wird – anstatt eine neutrale Kategorie zu sein. Und „Quantität“ mit Technokratie, Banalität ...

Bei Aristoteles herrscht sachliche Nüchternheit – keine technokratische Vergötzung der Quantität, keine sentimentale Verfälschung des Begriffes „Qualität“.

Die Quantität erfährt eine durchgehende Zweiteilung: messbar oder zählbar, stetig oder diskret, in der Sprache des 20. Jahrhundert: analog oder digital.

Walter Seitter

Sitzung vom 21. Oktober 2015



Postskriptum






[1] Auf den scheint Foucault zurückzugreifen, wenn er die Analyse eines Sachverhalts unter dem Machtgesichtspunkt als „Dynastik“ bezeichnet. Siehe Michel Foucault: Théorie et institutions pénales. Cours au Collège de France. 1971-1972 (Paris 2015). 215.
[2] Bekanntlich gingen Foucaults Machtanalysen dann doch in die Richtung, nicht die Übermachtbildungen sondern die feinen Machtverteilungen, auch die passiven Machtmodalitäten in den Blick zu nehmen: Mikrophysik der Macht. Insofern eine gewisse wenngleich weit hergeholte Entsprechung zur hiesigen aristotelischen „Machtanalyse“ - ? 

Sonntag, 18. Oktober 2015

Poetik-Protokoll


An diesem Wochenende fand an der Universität Wien eine Tagung über Euripides statt:

„Der Wandel des Euripides-Bildes von der Antike bis heute“

Obwohl ich von den dreizehn Vorträgen nur zwei besucht habe, konnte ich erfreuliche Erkenntnisgewinne erzielen.

Stefan Büttner: „Euripides – „Tragischster aller Dichter“ oder „Zerstörer der Tragödie“? gab einen Überblick auf die unterschiedlichen Bewertungen, die der Dichter im Laufe der Jahrhunderte erhalten hat. Aristoteles – ungefähr hundert Jahre später lebend – liefert in seiner Poetik eine sehr ambivalente Einschätzung: 1453a 22ff.. Einerseits nennt er ihn den „tragischsten“ der Tragödiendichter (im Hinblick auf die Hervorrufung von Schauder und Jammer), andererseits hat er einiges an seiner „Ökonomie“, also der Handlungsfügung auszusetzen. Also ein Lob fürs „Inhaltliche“, ein Tadel für die formale Komposition, womit die Struktur des mythos, also des plot, gemeint sein muß.

Zweiter Vortrag: Arbogast Schmitt: „Nietzsche contra Euripidem et Socratem. Über den Verstand als ‚Totengräber der Kunst’“.

Ich kannte bisher Arbogast Schmitt als Verfasser einer Poetik-Übersetzung und -Kommentierung, auf die ich in meinem Poetik Lesen sehr kritisch eingegangen bin.

Er sollte also über Nietzsches berühmte Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik sprechen und deswegen nahm ich mir am Abend zuvor, besser gesagt so um Mitternacht vom 16. auf den 17. Oktober, das kleine Buch vor, das ich natürlich schon längst gelesen hatte. Aber wieder einmal zeigte sich, wie trügerisch das Schon-gelesen-haben sein kann. Dieses Mal las ich es als jemand, der die aristotelische Poetik wirklich gelesen hatte – und siehe da, ich fand, dass Nietzsche in seiner normativen Tragödientheorie einen Gegensatz zwischen dem „Mythus“ und der „Charakterdarstellung“ konstruiert, wobei letztere mit ihrer Verfeinerung ins Psychologische (bei Euripides) dem Wesen der Tragödie, das auf Musik und Chor und Mythus aufruht, sehr abträglich sei.[1]

Mir ist diese zentrale Passage deswegen aufgefallen, weil es in der – ebenfalls normativen - aristotelischen Poetik eine gleichsinnige Unterordnung der Charaktere unter den mythos beziehungsweise unter die „Handlung“ gibt: 1449b 24ff.


Gleichsinnigkeit, Gleichgerichtetheit der berühmtesten bzw. fast einzigen antiken Tragödietheorie und der wohl eigensinnigsten modernen?

Ich war also schon darauf gespannt, ob und wie Arbogast Schmitt sich dazu äußern würde, wobei mir schon schwante, dass er mit seiner starken Fixierung auf den Charakter (als Bindemittel der Tragödie) schwerlich einen Sinn für meine „Entdeckung“ haben würde.

Und so war es auch. Den größten Teil seines Vortrags widmete er sich überhaupt nicht Nietzsches Kritik gegen Euripides (die nur bereits formulierte Bedenken zusammenfassen würde), sondern erkenntnistheoretischen Vorbereitungen von Nietzsches Position (bei Leibniz, Baumgarten, Kant, Schopenhauer ...). Immerhin erwähnte er kurz das Überhandnehmen der Charakterzeichnungen bei Euripides, welche den dionysischen Urgrund zersetzten – um dann gleich zu einem erkenntnistheoretischen Punkt in der Metaphysik überzugehen.

In der Diskussion wies ich ihn darauf hin, dass nach meiner Wahrnehmung Aristoteles und Nietzsche in vergleichbarer Weise Mythos und Charakter gegeneinander polarisieren, wobei die Unterschiede nicht zu übersehen seien: während Nietzsche mit der Vorsokratik kokettiere, entwickle Aristoteles eine entschieden postsokratische Perspektive. Schmitt nahm das zunächst erstaunt zur Kenntnis, um dann gleich zu replizieren, der aristotelische mythos und der nietzscheanische Mythus hätten miteinander nichts zu tun. Ich: sie seien wohl zu unterscheiden, aber zu tun hätten sie schon miteinander. An dem aristotelischen mythos=plot hänge ein eigener Handlungsbegriff, nämlich der literarische, der vom ethischen zu unterscheiden sei. Ich sagte dann noch dazu, dass sein Poetik-Kommentar dies ignoriere. Schmitt: dass in einem Text ein und dasselbe Wort zwei verschiedene Begriffe enthalte, und zwar ohne explizite Kennzeichnung, sei nicht zu akzeptieren.

Nach seinem Vortrag setzte er sich gleich zu mir, um weiter zu diskutieren; er verteidigte die Alleinstellung des ethischen Handlungsbegriffs ... Ich empfahl ihm, Seitters Poetik lesen zu lesen. Das ganze war ein kurzer und scharfer, im übrigen sehr freundlich geführter Meinungsaustausch. So weit so gut, gut vielleicht für die Wissenschaft. Jedenfalls für mich.

Aus der Menge der Anwesenden keine Äußerung dazu.

Walter Seitter


[1] Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872), in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Band 1 (München 1980): 113ff.    


Donnerstag, 15. Oktober 2015

In der Metaphysik lesen (1019a 15 – 1020a 6)

Der nächste Begriff in dem „Wörterbuch“ ist immerhin ein ordentlicher Begriff und in seiner Grundbedeutung entspricht er einem Begriff, der dank Michel Foucault zu einem Hauptbegriff in Philosophie und Humanwissenschaften aufgestiegen ist: Macht.

Doch die Übersetzungen, die sich auf die aristotelische Begriffsverwendung beziehen, reduzieren die Bedeutung auf „Vermögen“ (nicht im ökonomischen Sinn, sondern im Sinn von „Fähigkeit“). Eine Fähigkeit, die etwas (oder jemand) hat, um etwas zu bewegen oder zu verändern, und zwar bei einem anderen. Also eine transitive Fähigkeit. Sie kann zwar faktisch auch reflexiv wirken, aber selbst in diesem Fall besteht Aristoteles darauf, dass sie theoretisch bei einem anderen wirkt: bei einem selber als einem anderen, weil das Vermögen, bewegt oder verändert zu werden, zwar auch ein Vermögen ist, aber ein anderes.

In einer Kaskade von Unterscheidungen geht Aristoteles vom aktiven Vermögen zum passiven, vom positiven zum negativen über. Die Unterscheidungsfolge wirkt reduzierend, minimalisierend, negierend, jedenfalls absteigend und somit in der Gegenrichtung zum Aufstieg, der sich im Abendland lang durchgesetzt hat und zu dem geführt hat, was Heidegger „Onto-Theologie“ genannt hat: Aufstieg zum summum ens oder Gott. Hier hingegen Abstieg zum Minimum oder Minimalontologie.  

„Ontologisch“ können diese Vermögen nur in einem vagen Sinn genannt werden: genauer sind sie als „kinetisch“ oder „metabolisch“ zu bezeichnen, denn sie wirken bewegend oder verändernd.

Dieser Abstieg landet schließlich beim Vermögen, nicht verändert oder zerstört zu werden. Was denn doch als beachtliche Fähigkeit oder Stärke oder Mächtigkeit gelten kann. Jedenfalls wurde es von den Stoikern so eingeschätzt und zum Prinzip ihrer Ethik erhoben. Aristoteles verwendet selber das Wort „apathisch“ (1019a 27). Für Aristoteles war die Apathie ein Extrem - folglich keine Tugend; er nennt sie sogar „nicht menschlich“ (NE 1119a 7). Foucault greift die logische Form der Apathie auf und bezeichnet mit der nicht ganz synonymen Formel von der „Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden“ eine Empfehlung oder Tugend.[1]

Aber die sogenannte Metaphysik bemüht sich nur, alle Möglichkeiten von Vermögen zu nennen und zu ordnen. Wobei die Ordnungstätigkeit hier eindeutig die Richtung nach „unten“ einschlägt – in krassem Gegensatz zu aller Helden- und Göttersteigerung sowie zu jedem sogenannten „metaphysischen“ Transzendieren.

Wir können sogar sagen, dass dieses Wörterbuch durchaus den Duktus der „Ontologie“ einhält, in welcher die Substanzbegriffe wie Wesen oder Natur zwar auch irgendwo genannt werden und keineswegs an erster Stelle, aber die eher niedrigeren Seinsmodalitäten, Akzidenzien und dergleichen, unaufhörlich herbeigenannt werden, um eindeutig und beinahe endlos die Überzahl zu bilden. Die Ontologie ist wesenhaft multipel - ihre Multiplizität ist zwar grundsätzlich hierarchisch, doch erscheint sie kaum eingrenzbar, strikt ordenbar, streng systematisierbar. Deduziert ist sie überhaupt nicht und daher trifft Kants Charakterisierung der aristotelischen Kategorienaufstellung als „rhapsodistisch“ erst recht zu, wenn man die vielen „superakzidenziellen“ Modalitäten, von denen das Vermögen eines ist, auch noch einbezieht.

Im Falle des Vermögens verläuft die Reihung der unterschiedlichen Aspekte vom Substantiv zum Adjektiv und dann auch noch vom Kinetischen zum Logischen. Die logischen Modalitäten „möglich“ und „unmöglich“, die mit „notwendig“ und „kontingent“ logisch verknüpft sind, haben uns bei der Poetik-Lektüre beschäftigt (wo dann auch noch wahrscheinlich und unwahrscheinlich dazugekommen sind) und sie sind zweifellos ontologisch schwächer als die kinetischen Möglichkeits- bzw. Mächtigkeitsbegriffe.

Übrigens stammt das deutsche Wortfeld von dem Verb mögen ab – das in der heutigen Sprache so etwas wie „wollen“ bedeutet. Früher jedoch bedeutete es „können“ – und das ist die semantische Wurzel für Vermögen und Möglichkeit. In Österreich gibt es noch Dialekte, wo mögen „können“ bedeutet.

PS.: Philosophisches Café am 17. Oktober 2015 um 16 Uhr im Café Korb
          Thema: Metaphysik


Walter Seitter
 
Sitzung vom 7. Oktober 2015



[1] Siehe Michel Foucault: Was ist Kritik? (Berlin 1992): 14

Freitag, 9. Oktober 2015

In der Metaphysik lesen (1018b 9 – 1019a 14)

Das Frühere und Spätere – jedoch nicht nur in zeitlicher, sondern auch in mehreren anderen Hinsichten: örtlich, bewegungsmäßig, rangmäßig, machtmäßig, erkenntnismäßig, seinsmäßig .... Also das Frühere, Ehere, das Nähere, das Grundlegendere, das Primäre, das Anfänglichere. Alle diese Komparative, deren Bezugspunkt vom ersten Stichwort dieses „Wörterbuches“ bezeichnet wird: arche. Die beiden modernen Formeln „a priori“ und „a posteriori“ sind (mit falschem Latein) als Übersetzungen von proteron und hysteron in die moderne Philosophiesprache eingeführt worden.

In der zeitlichen Hinsicht bedeutet dieses Primäre immer das Frühere und doch gibt Aristoteles zwei verschiedene Bezugspunkte an – je nachdem, ob es sich um mehrere vergangene Ereignisse handelt oder um künftige. Während die vergangenen an einem unbestimmten Uranfang (?) gemessen werden, werden die zukünftigen vom Jetzt des Sprechens an gerechnet. Die beiden Bezugspunkte unterscheiden sich so ähnlich wie die beiden im Protokoll vom 1. Juli genannten, welche im Raum angesiedelt waren. Sie verstärken den Eindruck, dass Aristoteles keine Schwierigkeit damit hat, innerhalb einer Fragestellung von einem Bezugspunkt auf einen ganz anderen umzuschalten. Flexibilität.

Ein Halbsatz, ein kausaler Nebensatz, noch dazu ein elliptischer, denn es fehlt das estin, verdient Aufmerksamkeit: epei de to einai pollachos (1019a 5). Er variiert die häufiger vorkommende Wendung to on legetai pollachos, die wir auch im Buch IV angetroffen haben (1003  33), einfach durch die Einsetzung des Infinitivs Präsens für das Partizip Präsens.

Meine Wahrnehmung folgt offensichtlich derjenigen von Martin Heidegger, die mir jetzt durch ein älteres Buch von Jean Greisch bekannt wird, wo angedeutet wird, dass Heidegger, dem die Sache mit dem on pollachos legomenon längst bekannt war, durch das einai pollachos den „Schock einer initialen Begegnung“ erfahren habe.[1]

Es scheint, dass diese Formulierung bei Aristoteles selber ohne große Absicht gewählt worden ist. Nichts deutet darauf hin, dass er – wie dann Heidegger – aus dem Unterschied zwischen dem on und dem einai eine sogenannte „ontologische Differenz“ machen wollte.

Heidegger hat mit der „ontologischen Differenz“ einen „höheren Standpunkt“ (im Sinne Hegels) gewinnen wollen, den er mit Antisemitismus aufgeladen hat, welchen er sogar gegen seinen Lehrer Husserl gerichtet hat. Auf Husserl ist nämlich der Satz in den Schwarzen Heften gemünzt: „Der Angriff gründet einen geschichtlichen Augenblick der höchsten Entscheidung zwischen dem Vorrang des Seienden und der Gründung der Wahrheit des Seyns.“[2] Husserl und die Juden werden dem „Vorrang des Seienden“ zugerechnet.

Gegenüber einer so verstandenen „ontologischen Differenz“ handelt es sich bei Aristoteles um eine „ontologische Multiplizität“, innerhalb derer dem Wesen viele andere Seinsmodalitäten hinzugefügt werden, welche sich nicht auf die Akzidenzien beschränken. Zu denen kommen dann noch die fünf „Postprädikamente“ sowie die diversen Modalitäten, die im Buch IV genannt werden (1003b 7ff.) – im Buch V werden sie einzeln angeführt und erläutert. Vom Wesen gibt es zwei Versionen und die übrigen Modalitäten vermehren sich sozusagen jedes Mal, wenn Aristoteles auf das Thema zu sprechen kommt. Insofern hat Kant nicht ganz unrecht, wenn er in der Kritik der reinen Vernunft die aristotelische Kategorienaufstellung als „rhapsodistisch“ kritisiert. Mein Lehrer Max Müller (München) hat Aristoteles eben deswegen gelobt.

  
Walter Seitter
 
Sitzung vom 7. Oktober 2015


Postskriptum:

Euripides-Tagung an der Universität Wien
Marietta-Blau-Saal
Donnerstag 15. Oktober, 15.15–16.00
Stefan Büttner: Euripides – Tragischster aller Dichter oder Zerstörer der Tragödie?

Samstag 17. Oktober, 11-12.30
Arbogast Schmitt: Nietzsche contra Euripidem et Socratem
Über den Verstand als Totengräber der Kunst





[1] Siehe Jean Greisch: La parole heureuse. Martin Heidegger entre les choses et les mot (Paris  1987) 31ff.

[2] Martin Heidegger: Überlegungen XII-XV (Schwarze Hefte 1939-1941). GA 96 (Frankfurt 2014): 47.