τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Dienstag, 23. Juni 2015

In der Metaphysik lesen (1018a 20 – 22)

In der letzten Stunde sind wir zunächst noch einmal auf das Thema des Vortrags von Erisman eingegangen. Dabei handelt es sich um eine Aristoteles-Rezeption im Byzantinischen Bilderstreit am Anfang des 9. Jahrhunderts. Um die Verwendung eines aristotelischen Theoriestücks in der christlichen Theologie: so etwas hat es bereits im Zuge der Dogmatisierungen seit dem 4. Jahrhundert und dann etwa in der lateinischen Scholastik seit dem 13. Jahrhundert gegeben. Das Besondere in dieser Angelegenheit liegt nun darin, dass  Aristoteles in eine der berühmtesten bildpolitischen Episoden der Weltgeschichte eingeführt worden ist. In der ging es nicht um die Frage, ob Bilder so oder so beschaffen sein sollen, sondern ob bestimmte Bildtypen, und zwar wichtige oder prominente Bilder, überhaupt hergestellt, angebracht, verehrt werden dürfen – oder ob sie gänzlich zerstört, abgeschafft und nie mehr hergestellt werden sollen.

Und die (post)aristotelische Argumentation, die sich gar nicht auf  Bilder  bezog, sondern auf einen prominenten Bildgegenstand (von dem allerdings Aristoteles nie etwas gewusst hatte), wurde in die Richtung eingebracht, dass der Streit für die Bilderverehrer (Ikonodoulen) entschieden worden ist.

Jede Aristoteles-Rezeption ist eine Kollegin jeder anderen Aristoteles-Rezeption – auch hier gilt die Logik von Spezies und Individuum. Daher ist auch unsere hiesige Aristoteles-Rezeption eine Kollegin jener, die vor 1200 Jahren stattgefunden hat. Die unsrige dauert nun schon ungefähr acht Jahre, daher nenne ich sie jetzt „Immerwährendes Aristoteles-Seminar“.


Der Abschnitt 10 des Buches V schließt thematisch direkt an den vorigen an.

„Entgegengesetzte“ werden genannt: „Widerspruch“ ..... Ich setze das Wort in Anführungszeichen, weil es sehr missverständlich ist. Im Buch IV ist über mehr als zehn Seiten hinweg der sogenannte „Satz vom (ausgeschlossenen) Widerspruch“ vorgeführt und geradezu erbittert verteidigt worden. Dort gab es aber gar kein Wort mit der Bedeutung „Widerspruch“. Sondern in vielen Anläufen legt Aristoteles dar, dass, wer von etwas etwas aussagt und gleichzeitig das Gegenteil, dass der nichts sagt, weil er sich selber widerspricht. Und so ein „Selbstwiderspruch“ soll ausgeschlossen sein – weil es mit ihm keine Rede gibt. Rede aber spielt sich häufig in Form von Rede und Gegenrede ab. Die Gegenrede wird hier als ein Fall von „Entgegengesetztem“ bezeichnet.

Und die Gegenrede soll nicht ausgeschlossen oder etwa verboten werden. Ist das selbstverständlich? Es gibt genug Eltern, Lehrer, Vorgesetzte, Autoritäten oder dergleichen, die Gegenrede für ausgeschlossen, verboten erklären. So eine Autorität ist natürlich Aristoteles nicht. Als Philosoph muß er Diskussion, also Rede und Gegenrede, für geboten erklären – denn das ist Philosophie. Lyotard nannte das „Widerstreit“.

Im Wort „Widerspruch“ geraten Gegenrede und Selbstwiderspruch höchst unklar zusammen. 

Andere „Entgegengesetzte“ sind solche, die in den folgenden Abschnitten behandelt werden. Außerdem: die Extreme, aus denen die Entstehungen hervorgehen und in die die Vergehungen übergehen. Was sind diese Extreme? Anfang und Ende? Nichts und nichts?

Postskriptum:

Am 18., 19., 20. Juni fand in Wien eine Foucault-Tagung statt, der Anlaß hieß „40 Jahre Überwachen und Strafen“.

Ich referierte über „Menschenformen. Unterschiedliche Menschenunterscheidungen (Foucault, Weininger).“

Der österreichische Philosoph Otto Weininger (1880-1903) hat in seinem Buch Geschlecht und Charakter einen Antifeminismus formuliert, den er selber indirekt als „ontologischen“ qualifiziert hat, und zwar zurecht. Denn er läuft darauf hinaus, dass er eine wichtige akzidenzielle Dimension des Menschen, die Sexualität mit ihren zwei exklusiven oder auch inklusiven Polen „männlich“ und „weiblich“, dermaßen mit dem Wesen des Menschen identifiziert, dass dieses seine Eigenständigkeit, das heißt seine durchgängige Präsenz verliert. Es wird von der sexuellen Polarisierung ergriffen und zerteilt. Mit dem Ergebnis, dass Wesensbestandteile des Menschen wie Seele oder Geist bei einer disjunktiv-exklusiven Verteilung der Sexualcharaktere den weiblichen Exemplaren, jedenfalls den meisten, eventuell auch gewissen männlichen Exemplaren, wenn bei ihnen der weibliche Sexualcharakter überwiegt, abgesprochen werden. Ergebnis: Das Wesen des Menschen wird disjungiert und es gibt Menschen ohne Seele.

Wir könnten überlegen, ob die sexuellen Charaktere der Menschen unter die aristotelischen Begriffe „entgegengesetzt“ und „Gegenteil“, die im Abschnitt 10 behandelt werden, subsumiert werden können.

Walter Seitter


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Sitzung vom 17. Juni 2015 

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