τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 30. April 2015

In der Metaphysik lesen (1017a 23 – 31)

Von Ende März bis Ende April haben wir eine Reihe von menschlichen Nahrungsaufnahmen besprochen und jeweils mit aristotelischen Kategorien zu fassen gesucht. Es waren eher ungewöhnliche Beispiele – von einem krankmachenden Trinken über das "Jesus-Essen" der Christen bis zum „Mutter-Essen“ des Säuglings. Ich habe diese Vorgänge ziemlich drastisch in der deutschen Umgangssprache benannt – was aber nichts daran ändert, daß es sich mehr oder weniger um Sonderformen eines Vorgangs handelt, dessen substanzhafte Teilnehmer (Aktanten?) mit Allgemeinbegriffen wie „Nahrungsmittel“ und „Mensch“ benannt werden können. Wir haben versucht, die Kategorien „Substanz“ sowie diverse „Akzidenzien“ so einzuführen, dass deren überlieferte – aristotelische - Bedeutung gewahrt bleibt. Aber auch den Begriff „Transsubstantiation“, der von mittelalterlichen Theologen für den Sondervorgang Nummer 2 (beziehungsweise für das Vorspiel zu ihm) eingeführt worden ist – und der meines Erachtens auch auf den normalen Vorgang von Nahrungsaufnahme, Verdauung und so weiter angewendet werden kann.

Die Begriffsordnung, die von Gattungen über Arten zu den Individuen herabsteigt, kann höchst unterschiedliche, auch extreme Fälle, einordenbar machen, ohne dass ihre Besonderheiten reduziert werden. Sogar sogenannte „unvorstellbare“ Sachverhalte lassen sich einfügen: ihre Einordnung, Vergleichung und Unterscheidung entzieht sie einer eventuellen Unsagbarkeit. Es gibt ja nicht nur die Katastrophen, die in der Zeitung stehen, sondern auch solche, die darin bestehen, dass eine Ente getötet, weiter behandelt und dann von mir verspeist wird. Oder soll ich mir einbilden, dies sei eine Ehre für sie? Immerhin wird sie transsubstantiiert. 

Die Spitze der Philosophie liegt nicht darin, dass man zum Unterschied zwischen Platon und Aristoteles etwas sagt, und zwar etwas Zutreffendes sagt. Hie und da muß man auch zu den Dingen dieser Welt etwas sagen – und vielleicht drastisch etwas sagen, damit man merkt, dass da etwas gesagt wird.

Was ich jetzt „Drastik“ nenne, hat Gilles Deleuze im Jahr 1967 „Methode der Dramatisierung“ genannt: in den sokratischen Dialogen gebe es eine Zwietracht zwischen der Hauptfrage nach dem Was und den „minderen“ Fragen nach dem Wer und Wie, nach dem Wo und Wann.[1] Das Was entspricht der Wesenheit, das Wer dem individuellen Wesen, das Wie und Wo und Wann einigen Akzidentien. Das heißt: es ist hiermit das ontologische Spektrum ausgebreitet, das aus zwei Substanz-Aspekten sowie vielen Akzidenzien besteht, zu denen auch noch ein paar drastischere Seinsmodalitäten wie Entstehung und Vernichtung gehören (siehe Met. IV, 1003b 5ff.). Deleuze plädiert für die Hegemonie der Akzidenzien (und ich habe dieses Plädoyer für die Politikwissenschaft übernommen (Aristoteles übernimmt es für das Drama in der Tragödie)).

Neuerlich kommt Aristoteles auf die Erklärung von der mannigfachen Aussagung des Seienden (1003a 33) zurück, bezieht auch den Fachausdruck „Kategorien“ ein – und doch nimmt er eine sprachliche Modifizierung vor, indem er statt des Partizips jetzt den Infinitiv „sein“ einsetzt und den offensichtlich sogar in den Plural setzt (was nur an dem kath’auta erkennbar ist). Mit dem Übergang vom Partizip zum Infinitiv praktiziert Aristoteles so etwas Ähnliches wie das, was er dann in den Beispielen mit verschiedenen Wortformen vorführt. Der Wechsel vom „Seienden“ zum „Sein“ (zunächst zu „den Sein“) entspricht sprachlich immerhin dem von Heidegger geforderten oder betriebenen Übergang. Bei Aristoteles wird er hier wohl nicht mit seinsgeschichtlichem Pathos aufgeladen. Doch mit der Pluralisierung setzt Aristoteles - nur im ersten Halbsatz der Periode – einen eigenen Akzent, indem er das, was er sagen will, selber sprachlich performiert (allerdings wird der Plural von sächlichen Subjekten im Griechischen nicht so ernst genommen, dass auch das Prädikat pluralisiert würde: es sind Vielheiten, die mehr als Einheiten aufgefaßt werden (siehe 1015b 35 ff.)).

Mit dem kath’auta schließt Aristoteles an die kath’auto- Aussageweise an, die er oben von den akzidenziellen Aussageweisen unterschieden hat. Hier aber subsumiert er darunter das Wesen und ungefähr sieben Akzidenzien (von denen zwei mit Infinitiven benannt werden): schaltet er damit alle Kategorien gleich, hebt er die Akzidenzien in den Rang von Substanzen? Ein selbes Sein wird all diesen Seinsmodalitäten zugesprochen. Und als Beispiel dafür bringt er die Bedeutungsgleichheit zwischen verschiedenen Ausdrucksweisen, die sich darin unterscheiden, dass die einen mit dem – infiniten – Partizip Präsens und die anderen mit der finiten dritten Person Singular operieren.

Flexibilität der Ontologie.

Walter Seitter


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Sitzung vom 30. April 2015 



[1] Siehe Walter Seitter: Die Unvermeidlichkeit der Akzidentien, in: ders.: Menschenfassungen: 169ff.

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