τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Sonntag, 11. Januar 2015

Ontologie (mit Uwe Meixner)

Die Ontologie ist eine Richtung des Philosophierens, die mit empirischen Sachuntersuchungen zunächst einmal wenig zu tun hat. Jedenfalls gilt das für die theoretische Ontologie, welche die allgemeinen und grundlegenden Seinsmodalitäten aufstellt und ordnet, wobei sie sich vor allem an die Sprache anlehnt, die mit ihrer Unterscheidung von Substantiven, Verben, Adjektiven usw. die Kategorien vorgibt und weitere Seinsmodalitäten wie Möglichkeit, Notwendigkeit, Entstehung und Vergehung und Negation vorzeichnet. Außer den Seinsmodalitäten, die jeweils alternativ einzusetzen sind, gibt es die allgemeinsten Seinseigenschaften oder „Transzendentalien“, die jedem Seienden als solchen zukommen; bei Aristoteles heißen sie: ein, wißbar oder wahr, erkennbar oder gut; sie werden wie „seiend“ analog, also flexibel, je nach Eigenart der Sachen zugesprochen.
Damit ist bereits der Übergang von der theoretischen zur okkasionellen Ontologie nahegelegt. Sachuntersuchungen, die von der Erfahrung ausgehen und von anderen philosophischen (oder wissenschaftlichen) Disziplinen durchgeführt werden, können unerwartet und „plötzlich“ auf ontologische Fragestellungen stoßen – etwa, indem sie feststellen, daß die Vorgaben der theoretischen Ontologie nicht mehr zuzutreffen scheinen. So etwas haben wir in der Poetik erlebt, wo Aristoteles für den plot der Tragödie die Ordnung von Substanz und Akzidenzien umzustoßen scheint. Allerdings hat er das nicht eigens thematisiert, sondern wir haben das getan und haben daher explizit „okkasionelle“ Ontologie gemacht. Wir taten das auch mit der Fragestellung, ob denn die Tragödie, der Aristoteles eine Wesenheit zuspricht, auch ein selbständiges Wesen ist, also eine Substanz (ungefähr wie die Lebewesen). Auf jeden Fall schien uns die Tragödie eine unsichere Kandidatin für den ontologischen Ehrentitel „Substanz“. Da mussten wir überlegen, was denn die Kriterien für „Substanz“ sind und so haben wir Ontologie an einem konkreten Fall betrieben. Die okkasionelle Ontologie kann die theoretisch vorgegebene bestätigen, ergänzen, präzisieren – oder aber in Frage stellen, relativieren, vielleicht sogar umstoßen. Da könnte man dann eventuell von „Ontographie“ sprechen: wenn bestimmten Sachen bestimmte ontologische Prädikate innovativ zugeschrieben werden. Da könnte man auch von „revisionärer“ Ontologie sprechen, um den Sprachgebrauch aufzugreifen, den Uwe Meixner von Peter Strawson übernimmt, der zwischen deskriptiver und revisionärer Metaphysik unterscheidet.[1] Da nach Meixner die Ontologie grundsätzlich „nur“ deskripitiv ist und weder kausale noch finale Erklärungen liefert, wird man eine „revisionäre“ Ontologie wohl besser der „traditionellen“ gegenüberstellen. Beispiel für eine – allerdings auch schon seit langem bestehende – revisionäre, in diesem Fall wohl eher „minoritäre“ Ontologie: diejenige von David Hume, der Eigenschaftsindividuen wie „perception“ oder „impression“, die traditionell als Akzidenzien gelten, für Substanzen hält, die sich zu Komplexen wie „Körper“ oder „Ich“ fügen. Wenn ich mich zu einer eigenen Ontologie entschließen würde, würde ich wohl in eine ähnliche Richtung gehen, die ich ja mit der „Philosophie der Erscheinungen“ schon eingeschlagen habe, und würde sie „Akzidenzialismus“ nennen. Wobei ich Ansätze dazu auch bei Aristoteles aufsuchen würde (beim „protagoräischen“ Aristoteles).[2]
Uwe Meixner versteht unter „Ontologie“ genau das, was auch ich gemäß dem Buch IV der aristotelischen Metaphysik so nenne, umschreibt sie aber auch als Darstellung der „Grundstrukturen des Wirklichen und Nichtwirklichen“ und obwohl seine Terminologie eher von der neueren Analytischen Philosophie herkommt, greift er auch öfter auf die aristotelische und scholastische Begrifflichkeit zurück und unterscheidet wie erwähnt zwischen den Kategorien und den Transzendentalien.
Die traditionelle Kategorien-Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidens engt er auf Individuen ein, wobei die Substanzen als unabhängige, die Akzidenzien als abhängige Individuen definiert sind. Als Hauptbeispiele für Substanzen dienen ihm menschliche Personen, deren Unabhängigkeit jedoch nur durch sorgfältige Unterscheidungen bzw. Ausschließungen gesichert werden kann: eine Person, z. B. Otto, ist nur von solchen Individuen unabhängig, die weder ein Teil von ihr sind (Gehirn) noch von denen sie ein Teil ist (Weltraum).[3]
Ein Akzidens ist z. B. das Lächeln von Otto, also eine vorübergehende Modifikation an ihm: ein Vorgang. Vorgänge, Grenzen sind Akzidenzien. Oder aber Schatten, Spiegelbilder, Löcher, Eigenschaften. Dasjenige Individuum, ohne das ein Akzidens nicht existieren kann, nennt Meixner dessen „Träger“. Ein Akzidens kann auch mehrere Träger haben: das Spiegelbild hat zwei: das gespiegelte Individuum sowie dasjenige, auf dem das Spiegelbild erscheint. Beispiel dafür, dass die ontologische Betrachtungsweise auch zu ganz bestimmten Sachen treffende Feststellungen machen kann (obwohl das nicht ihre erstes Ziel ist). Eine Ehescheidung ist ein Vorgang, der ebenfalls ein mehrträgerisches Akzidens ist.[4]
Meixner setzt als höchsten Begriff der Ontologie den der „Entität“ an, nicht den des „Seienden“. Statt „Kategorien“ sagt er auch „oberste Seinsarten“, und die höchsten sind für ihn „Objekt“ und „Funktion“. Objekte sind „gesättigte“ Entitäten, Funktionen sind „ungesättigte“ Entitäten. Unter den Objekten stehen nicht nur die Individuen (z. B. Uwe Meixner, Regensburg), sondern auch die Typenobjekte (Buchstabe A, Homo sapiens sapiens, Platonische Ideen) sowie die Sachverhalte (z. B.: Regensburg liegt an der Donau) – in deren Einführung besteht wohl die einschneidendste Differenz zur antiken Ontologie. Unter den Funktionen: die Eigenschaften und die Relationen.
Mit dem eben genannten Begriff „Vorgang“ ist Meixner ganz in die Nähe des Begriffes „Ereignis“ gerückt: eigentlich zwei Synonyme. Wie gesehen kann er den Begriff „Vorgang“ als Akzidens in einer aristotelischen Ontologie unterbringen. Einige seiner früheren Publikationen situieren jedoch diesen Begriff als ontologischen oder ontologiehistorischen Gegenbegriff zu Substanz und in diesem Sinn sind auch wir schon auf ihn zu sprechen gekommen.[5] In seiner durchgeführten Ontologie kommt jedoch Meixner zu dem verblüffenden Ergebnis, dass Ereignisse, an deren Existenz gar kein Zweifel besteht (Beispiel: Untergang der Titanik, Zweiter Weltkrieg) unverstandene Entitäten sind, über deren präzise logische Charakterisierung keine Einigkeit besteht, und dass sie jedenfalls bis jetzt als „kategorial heimatlose“ Entitäten zu gelten haben.[6] Nach dem derzeitigen Stand der ontologischen Diskussion sei unklar, ob sie den Objekten oder den Funktionen zuzurechnen seien oder einen Platz neben ihnen einnehmen. Im übrigen behauptet Meixner eine ähnliche kategoriale Heimatlosigkeit auch für Zahlen und Mengen (die doch in der Mathematik zu den meistgebrauchten Entitäten gehören).
Historisch unterscheidet Meixner zwei Tendenzen in Sachen Ontologie: nach Platon habe sich eine Bevorzugung der Individuen, besonders der physischen Individuen, abgezeichnet, welche Tendenz bis heute anhalte. Doch seit dem 19. Jahrhundert mache sich eine andere Tendenz bemerkbar: eine Bevorzugung der Sachverhalte und Ereignisse – wobei die Ereignisse mit Sachverhalten eng verbunden seien, weil ihr Gehalt stets in Sachverhalte zerlegbar sei, auch wenn sie selber keine Sachverhalte seien.[7]

Die Feststellung solcher historischer Tendenzen führt Meixner zur Frage, ob sich ein ontologischer Vorrang zwischen den oberen Kategorien behaupten lasse, speziell innerhalb eines sogenannten „ontologischen Dreiecks“ aus Individuen, Typen, Sachverhalten. Er meint, es lassen sich Argumente für jede der drei Kategorien finden, vor allem für die Sachverhalte. Aber keine derartige Argumentation sei schlüssig.[8]
Wie vor allem aus der kategorialen Heimatlosigkeit wichtiger Entitäten hervorgeht, ist für Meixner die Ontologie, gerade weil sie sich strengen Kriterien unterwirft, von hartnäckigen Erkenntnisperplexitäten gezeichnet und wohl unaufhebbar ein unvollständiges Unternehmen – in dem gleichwohl Erkenntnisfortschritte möglich und sogar wirklich sind.



Walter Seitter


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Sitzung vom 7. Jänner 2015 



[1] Siehe Uwe Meixner: Einführung in die Ontologie (Darmstadt 2011): 44
[2] Siehe Walter Seitter: Physik des Daseins. Bausteine zu einer Philosophie der Erscheinungen (Wien 1997). Meine Philosophische Physik versteht sich nicht in erster Linie als Ontologie, hat aber mir ihr die deskriptive Vorgangsweise gemeinsam.
[3] Siehe Uwe Meixner: op. cit: 38ff.
[4] Siehe Uwe Meixner: op. cit.: 43.
[5] Siehe Uwe Meixner: Ereignis und Substanz. Die Metaphysik von Realität und Realisation (Paderborn 1997); ders.: Die Ersetzung der Substanzontologie durch die Ereignisontologie und deren Folgen für das Selbstverständnis des Menschen, in: R. Hüntelmann (Hg.): Wirklichkeit und Sinnerfahrung (Dettelbach 1998)
[6] Siehe Uwe Meixner: Einführung in die Ontologie (Darmstadt 2011): 167ff.
[7] Siehe Uwe Meixner: op. cit.: 199ff.
[8] Siehe Uwe Meixner: op. cit.: 203ff. 

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