τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 29. Januar 2015

In der Metaphysik lesen (1015a 3 - 1015a 19)


Im letzten Protokoll habe ich angedeutet, dass die Ontologie (im aristotelischen Sinn) mit der Metawissenschaft (im modernen Sinn) zusammenhängt, obwohl sie eher als Objektwissenschaft zu gelten hat. Allerdings als Objektwissenschaft auf einer höheren Ebene – im Vergleich zu Physik, auch zu Poetik oder Politik. Die Ebene der Metawissenschaft wird von Aristoteles in den logischen Schriften betreten bzw. realisiert: beginnend mit der Lehre von den Kategorien. Sein Buch Metaphysik beginnt aber auch metawissenschaftlich: Stufen der Erkenntnis – ungefähr Erkenntnistheorie im modernen Sinn – und entwirft ein Programm einer Objektwissenschaft, die sachlich über die schon bekannten Objektwissenschaften hinausgeht: durch Erweiterung des Gegenstandsbereiches in Richtung Gesamtheit bzw. Erstheit. Doch im Buch IV schiebt er eine neue Betrachtungsart ein: Betrachtung des Seienden als Seienden mit dazugehöriger Vielfältigkeit – welche aber nicht zusätzliche Realitätsbereiche erschließen will sondern nur immanente Allgemeinheiten: Kategorienvielfalt und Konvertibilität von Transzendentalien. Diese Bestimmungen ergeben sich aus der Metawissenschaft namens Logik, indem deren formale Bestimmungen „materialisiert“ bzw. direkt „referenzialiert“ werden: Gegenstandsbestimmungen von größter Allgemeinheit oder Formalität. Von anderer Art als „Natur“, „Geist“, „materiell“, „immateriell“.
Die eben genannten Bestimmungen liegen im Feld, das nach Gattungen und Arten gegliedert wird, und sie werden von den Objektwissenschaften erforscht, zu denen wohl auch die aristotelische Metaphysik (im engeren Sinn gehört). Darüber liegt die Ebene der Metawissenschaften: Linguistik, Logik, Erkenntnistheorie. Und noch einmal darüber die Ontologie, welche die Metawissenschaften selber mit Realität auflädt – oder die Logik mit Ontik.
Das kann man theoretisch konstruieren – so oder so ähnlich. Man kann dazu aber auch auf andere Weise gelangen: „okkasionelle“ Ontologie. Indem man im Laufe irgendeiner Sachuntersuchung (Objektwissenschaft) merkt, dass die Ordnung der Kategorien oder der Transzendentalien (von der man schon gehört hat) da nicht stimmt, nicht greift oder anders formuliert werden muß: neue oder „revisionäre“ Ontologie. So etwas haben wir in der Poetik bei Aristoteles selber beobachtet: Auflösung der Hierarchie von Substanz und Akzidenzien. Oder bei Heidegger, der die herkömmliche philosophische (das heißt griechische) Objektwissenschaft für „den Menschen“ als unzulänglich eingeschätzt hat und daher auf die dritte Ebene gesprungen ist: Fundamentalontologie als Anthropologie (doch dieses Wort müsste man jetzt durchstreichen (was mein Computer nicht kann (wenn ich mich nicht täusche))). Oder bei mir in den Menschenfassungen, wo ich die Polarität von Unbestimmtheit und Bestimmungszwang als „Wesen“ eingesetzt habe (und den traditionellen Wesensbegriff zurückstellte); ähnlich Friedrich Balke in seinem Nachwort. Die Gegenwartsphilosophie neigt durchaus zu einer „Ontologisierung“ in diesem Sinn (und unabhängig von dem Begriff): so geht die „Intensität“ von Deleuze und Guattari in eine solche Richtung oder aber der Kult der „Abwesenheit“ bei Derrida - und überhaupt die Distanzierung gegenüber allem „Essenzialismus“. Das heißt, dass der von mir etwas künstlich rekonstruierte Ontologie-Begriff heute eine gewisse philosophische Aktualität besitzt.
Im Kapitel über die „Natur“ bewegt sich Aristoteles natürlich wieder fest auf dem Boden der Objektwissenschaft, wenn er den Wasser-Materialismus des Thales über den Vorgang der Schmelzung plausibilisiert. Was der aristotelischen Lehre von der Ineinander-Verwandlung der vier (oder fünf) Elemente entspricht. Allerdings kann daraus der Schluß gezogen werden, dass die Elemente die eine Urmaterie bilden und diese folglich eine Transzendentalie überhaupt, sodaß man sagen könnte „ens et elementa convertuntur“ oder sogar „ens et aqua convertuntur“ – womit die Elementenlehre in den Rang der Ontologie gehoben würde. Das heißt die Ordnung der Dinge, ja die Ordnung der Wissenschaften ist nicht ganz so sicher, wie diese Ordnungen zunächst suggerieren. Doch das kann man erst feststellen, wenn man die Ordnungen konstruiert hat.

Walter Seitter


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Sitzung vom 28. Jänner 2015 

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