τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 11. Dezember 2014

"Was ist Substanz?"


Mit dem sehr weiten aristotelischen Ursachen-Begriff (der vor allem auch immanente Bestandteile usw. umfasst und der sich dank dem generischen Begriff der arche noch weiter ausdehnen lässt) kann man sagen, dass alle „Sachen“ (sowohl Dinge wie auch Akzidenzien und andere Seinsmodalitäten) als „Ursachen“ vorkommen und wirken können.
Einen – allerdings zentralen – Ausschnitt aus dieser Thematik behandelt Donald Morrison in „Substance as Cause: Metaphysics Z 17“, in Chr. Rapp (Hg.): Aristoteles Metaphysik Substanzbücher (Z, H, Θ (Berlin 1996): 193-207.
Der Aufsatz bezieht sich auf Buch VII der Metaphysik, speziell Kap. 17. Dessen Fragen lauten „Was ist Substanz?“ und „Wie beschaffen ist Substanz?“ – Substanz als Übersetzung für ousia. Doppelte Antwort: „Substanz ist Form“,  „Substanz ist ein Prinzip des Seienden.“ Zusammenfassend  gesagt heißt hier Substanz die Formursache des Seienden, wobei sich Aristoteles auf die materiellen Dinge bezieht, die auch aus einer Materialursache bzw. aus Elementen bestehen, die erhalten bleiben, wenn das Seiende aufhört zu bestehen.
Die Formursache ist die Wesenheit, die etwas hat, und die verteilt Aristoteles sehr großzügig: so hat er bei der Definition der Trägödie von deren ousia  gesprochen und den mathematischen Gebilden würde er sie selbstverständlich zusprechen – oder den musikalischen Erscheinungen mathematische Formursachen. Formursache oder Wesenheit.
Der andere ousia-Begriff meint die selbständig existierenden Wesen: Wesen, das man ist. Und diesen Rang spricht Aristoteles den mathematischen Gebilden ab. Im Grunde genommen spricht er ihn pauschal einer einzigen Gattung zu – nämlich der Gattung, von der der logische Begriff „Gattung“ entlehnt ist: den Lebewesen. Wer zu dieser Gattung gehört, hat ganz natürlich ein Anrecht auf den ontologischen Ehrentitel ousia. Insofern der Mensch dazugehört, ist er ein „Wesen“, eine „Substanz“. Daher ist die einfachste Antwort auf die Frage, was oder wer denn eine aristotelische Substanz sei, diese: „Ich!“. Allerdings nur wenn ich mich in die Gleichartigkeit der Spezies „Mensch“ einreihe und ebenso selbstverständlich in die große Gattungsmenge „Lebewesen, Tiere ....“. In diesem Sinn ist Aristoteles Darwinist. Und mit der Zugehörigkeit aller Leute zur Menschenspezies bejaht Aristoteles auch den Essenzialismus, der eine theoretische Voraussetzung für „Menschenrechte“ bildet (auch wenn er es da an politischer Folgerichtigkeit hat fehlen lassen).
Die Frage, ob es Substanzen auch jenseits der animalischen Gattung gibt, hat Aristoteles sicherlich im allgemeinen bejaht, doch in den Details hat er geschwankt.

Sind nur natürliche Dinge Substanzen? Ja: Met.VIII 1043a 4-5, 1043b 21-22). Nein, auch Artefakte können Substanzen sein: Met. XII 1070a 5. Im Hinblick auf die Tragödie haben wir die Frage genauer behandelt und sind zu einem positiven, aber nicht sicheren Ergebnis gelangt. Ein ähnliches Ergebnis würde sich wohl für ein „Musikstück“ erzielen lassen – aber nicht für ein bloßes Klangphänomen. 
Zweite Fragerichtung: sind nur lebende Dinge Substanzen (Met. VIII, 1043a, 1043b) oder auch Feuer, Erde, Erz, Fleisch (Met. VII)? Für diese Version spricht, dass nur sie vermeidet, dass es in der Welt Eigenschaften gibt, die frei flottieren und an keiner Substanz hängen. Wenn man die Erde als Lebewesen betrachtet, könnte man die anorganischen Eigenschaften diesem Großen Wesen zurechnen. Doch ob diese Ansicht Aristoteles – und damit dem wissenschaftlich eingestellten Denken (!) – zuzutrauen ist - ?
Halten wir uns an die aristotelische Kernthese, dass nämlich mit Sicherheit Lebewesen – und je höhere umso sicherer – „Wesen“ im ontologischen Sinn sind, dann müssen wir die aristotelische, d. h. griechisch-philosophische Sturheit, die ständig „das Seiende“ zum Objekt macht, relativieren und „nach oben“ entweder zum „Subjekt“ öffnen bzw. in Richtung der beiden animalischen Geschlechter und zum Fragepronomen „wer?“.
Die östliche Ikonenmalerei transformiert das parmenideisch-aristotelische to on in das o on, das sie in den Christus-Nimbus schreibt: der Seiende. 





In anderen Theo- oder Angelo- oder Anthropographien ist eben gegebenenfalls
η  ουσα

anzuschreiben. Das würde der aristotelischen Flexibilität „des Seienden“ entsprechen. Vor aller Ontologie geht es um Ontographie und die muss richtig, genau und womöglich schön sein. 





Walter Seitter



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Sitzung vom 10. Dezember 2014 

Sonntag, 7. Dezember 2014

In der Metaphysik lesen (1013b 17 – 1014a 7)

Nach den Einzelbeispielen für die Bedeutungen bzw. Verwendungen von „Ursache“ hat Aristoles ausdrücklich gesagt, dass dieser Begriff „vielfach ausgesagt“ wird. Insofern wird er mit dem Begriff des Seienden parallelisiert, was ja nicht sehr verwunderlich ist, denn „Ursachen“ sind nun einmal „Sachen“, denen eine besondere Kraft innewohnt: nämlich andere Sachen hervorzubringen oder zu ermöglichen. Die Ursachen sind eine Teilmenge der archai und ihre Ursächlichkeit lässt sich im Großen und Ganzen als physikalische verstehen, trotzdem umfassen sie mehr als dieser Begriff in unserer Sprache meint.

Die verschiedenen Ursächlichkeiten werden zunächst in vier „offensichtlichste“ Weisen unterschieden: Materialursachen (nicht nur Materialien, sondern auch auch Teile und Voraussetzungen), Formursachen (genannt das ti en einai oder die Art, aber auch das Ganze und die Zusammensetzung (zwei neue Bezeichnungen, die zu den früher aufgezählten dazukommen)), dann die Wirkursachen als Ursprung für Veränderung oder Zustand und schließlich das Weswegen, auch Gutes oder Bestes genannt. Dieser vierte Ursachentyp, der sich von unserem Gebrauch des Begriffs sehr weit entfernt, zeigt auch, dass die aristotelische Unterscheidung zwischen theoretischen Wissenschaften einerseits , poietischen oder praktischen Wissenschaften andererseits, doch nicht so strikt ist. Darüber hinaus unterscheiden sich die Ursachen (selbst die einer selben Weise zugehörigen) in logischer Hinsicht, wie eben die entsprechenden Sachen. Der Bildhauer Polykleitos als Ursache (wir würden eher sagen: Urheber) der von ihm hergestellten Statuen lässt sich „logisch“ aufteilen: er ist Gattung: Lebewesen; Art: Mensch; Individuum: Polykleitos. Und einige von denen können als „akzidenziell“ in bezug auf andere angesehen werden. Die logische Zersplitterung des Künstlers mag uns als Spielerei erscheinen; man kann sie aber auch als kunstwissenschaftliche Fragestellung auffassen: biographische oder psychologische oder soziologische oder rassische oder evolutionäre Betrachtung.
Für uns – wohl auch für Aristoteles – gehört Polykleitos (480-415) der Kunstgeschichte an, ist also möglicher Gegenstand einer historischen Betrachtung. Daher noch einmal die Frage, ob Aristoteles die Dimension der historischen Kausalität, die noch stärker vom Begriff arche – mit der Hauptbedeutung „Anfang“ – nahegelegt wird, tatsächlich vernachlässigt und wenn ja wieso. In der Poetik hat Aristoteles die Geschichtsschreibung erwähnt – allerdings mit einer Minderbewertung gegenüber der Dichtung, weil diese „philosophischer“ sei. Das ändert aber nichts daran, dass die Geschichtsschreibung in bezug auf ihre Gegenstände eine enge Kollegin der Dichtung ist. In dieser sollen die Ereignisse wahrscheinlich-notwendig aus den Ereignissen, nämlich den früheren, hervorgehen. Damit werden die jeweils früheren als Ursachen für die späteren postuliert – auch wenn der Begriff „Ursache“ gar nicht gebraucht wird. Handlungselemente sind grundsätzlich „Ursachen“ für Handlungselemente, pragmata für pragmata. Aristoteles hat das mit dem wahrscheinlich-notwendigen Hervorgehen, mit dem Hervorgehen der „Lösung“ aus der „Knüpfung“ ausgedrückt. Eine Art Automatik, die mit der Sukzession und Akkumulation der Ereignisse gegeben ist. Ursächlichkeitsfaktoren, die Aristoteles hier unter arche nennt und die in den Tragödien eine Rolle spielen sind: Eltern, Herrscher, Überlegungen, Entscheidungen. Unter den Entscheidungen spielen in der Tragödie solche eine Rolle, die „Fehler“ genannt worden sind.
Die historische Kausalität ist von Aristoteles in der Poetik abgehandelt worden. Dort hat er der Geschichtsschreibung vorgehalten, sie berichte vom Ablauf der Ereignisse, ohne eine stringente Ursächlichkeit aufzuzeigen. Heißt das, dass die reale Geschichte nur mit lückenhafter, mit akzidenzieller Ursächlichkeit abläuft? Während die Dichtung eine historische Ursächlichkeit künstlich herstellt, verdichtet?
Hier, in den Betrachtungen über die Ursachen, spielen die ethisch-politisch-historischen Ursachen doch eine geringere Rolle als die physischen. Stimmt das? Verweisen nicht auch die Zweckursachen auf die anthropische Kausalität? Wird nicht mit der Zersplitterung des Bildhauers Polyklet eine spezifisch menschliche Kausalität angedeutet – welche die animalische nicht ausschließt?

Walter Seitter


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Sitzung vom 3. Dezember 2014