In den vergangenen Wochen sind
wir öfter auf eine Thematik gestoßen, die ich mit dem Wort „Erkenntnispolitik“
umschrieben habe – das nun ganz gewiß bei Aristoteles nicht vorkommt. Es
handelt sich um eine Begriffserfindung, die ich im Jahre 1981 in den Untertitel
meiner Arbeit Menschenfassungen. Studien zur Erkenntnispolitik gesetzt
habe (welche 1985 und dann wieder 2012) erschienen ist)[1].
Ich verstehe darunter menschliche (individuelle oder kollektive) Einstellungen,
Eingriffe, Entscheidungen, Machenschaften, die sich auf epistemische Leistungen
beziehen, obwohl diese von jenen „aktionistischen“ Einflüssen frei zu sein
beanspruchen.
Derjenige aristotelische
Begriff, der uns auf diese Spur geführt hat, war der „tropos tes dynameos“
(1004b 25), also die Wendung der Fähigkeit, vielleicht dürfen wir sagen die
Wendung der Erkenntnisfähigkeit, mit der sich der Philosoph, also der Suchende
nach der „gesuchten Wissenschaft“, vom Sophisten absetzt, welcher sich mit
derselben Sache beschäftigt – aber nicht wirklich sondern scheinbar. Auch das
Unterscheidungsmerkmal des Philosophen gegenüber dem Dialektiker, nämlich die
„Entscheidung für die Lebensweise“, könnte hier genannt sein, obwohl sie sich
schon deutlich aufs Praktische bezieht. Das Interessante an der „Wendung der
Fähigkeit“ ist ja eine „praktische“ Schaltung oder Umschaltung des
Theoretischen: also eine Umschaltung innerhalb des Theoretischen mit dem
Ergebnis einer bestimmten Theorie-Einstellung. Einstellung oder Schaltung
bezeichnen also eine bestimmte Erkenntnis-Disposition, Umstellung oder Umschaltung
eine Änderung von einer zu einer anderen.[2]
Das Wort „Wendung“ haben wir
dann in der Archäologie des Wissens gefunden, wo Michel Foucault eine
„Wendung des Blicks und der Haltung“ für erforderlich hält, damit man zu so
einer diffizilen Forschung wie der „Aussagen-Analyse“ gelangt (der ich einen
ähnlichen „ontologischen“ Charakter zuspreche wie Aristoteles der
Untersuchungsrichtung, die er im Buch IV vorschlägt (und die vom Dialektiker
und vom Sophisten nur scheinbar eingeschlagen wird)).
Erkenntnis-Einstellung,
Erkenntnis-Richtung wären zwei Bezeichnungen für mehr oder weniger statische
Dispositionen. Auf etwas anderen Ebenen habe ich dafür auch die
aristotelischen, kantischen, lacanischen Wissenseinstellugen namhaft gemacht,
die bei diesen Autoren in großen Klassifikationen auftauchen und sozusagen zur
Auswahl bereit stehen.
Für den Moment der
Einstellungs-Änderung hat Platon den Begriff der metanoia geprägt:
Umdenken, Umdenkung – und hat damit eine ganz drastische Änderung gemeint: eine
auch körperliche Umdrehung, einen physischen Aufbruch, einen zunächst
schmerzhaften Umbruch. So etwas hat dann Foucault auch mit der sogenannten
Spiritualität im Auge: einer Unterordnung unter die Wahrheit, die sogar Opfer
verlangen kann.
Diesen foucaldischen Moment
erwähnen Armen Avanessian und Anke Hennig in „Metanoia. Spekulative
Ontologie der Sprache (Berlin 2014) in ihrer Einleitung, dem besten Teil
ihres Buches, und im Epilog illustrieren sie einen solchen Moment mit einer
wohl autobiographischen Erinnerung an Thomas Bernhard-Lektüre.
Daß bei Platon und erst recht
im Christentum metanoia eine tendenziell religiöse Bedeutung hat, ist
offensichtlich. Immerhin verwendet ja auch Foucault den Begriff „Konversion“.
Die Parallelität zwischen der griechisch-wissenschaftlichen und der
christlich-religiösen Bedeutung von metanoia bildet ein Hauptthema in
dem neuen Buch von Paolo Zennini und Marco Vannini: La rivelazione greca di
Simone Weil (Milano 2014), wobei sie die Seite der griechischen
Wissenschaft wohlgemerkt von religiösen Aspekten freihalten.
Das früher einmal genannte
Buch von Bruno Delorme: De la tragédie aux évangiles (Montrouge 2009)
spricht ja von einem Einfluß sowohl der Poetik wie auch der Rhetorik,
also von „religionsfreien“ Disziplinen der griechischen Wissenschaft, auf das
Zustandekommen der neutestamentlichen Texte.
Es geht also nicht darum, die
Problematik der „Erkenntnispolitik“ automatisch mit religiösen Qualitäten zu
überhöhen. Ich selber verbinde sie, wie der Begriff zeigt, mit politischen Aspekten
(aber nicht mit solchen der Tagespolitik).
Wenn Aristoteles die Leistung
der „Ontologie“ an erkenntnispolitische Bedingungen wie „Wendung der Fähigkeit“
und „Entscheidung für die Lebensweise“ knüpft, so handelt es sich doch bei
dieser seiner „Ontologie“ – soweit wir bisher sehen – um eine strikt
immanentistische Untersuchungsrichtung, für welche Logik und Physik die beiden
Vorschulen bilden. Nichts deutet darauf hin, daß seine „Ontologie“ mit der von
Heidegger unterstellten „Ontotheologie“ etwas zu tun habe.
Ich persönlich habe mich so
einer Ontologie bisher auf die Weise genähert, daß ich Philosophische Physik
getrieben habe. Die entspricht ziemlich genau dem, was Aristoteles Physik nennt,
welche er als „Zweite Philosophie“ bezeichnet. Und was die zu leisten hat?
Viele oder sehr viele Wesenheiten von irdischen Dingen und Vorkommnissen genau
bestimmen.[3] Ich würde sagen: ich habe
bisher ca. fünfzig Dinge – vom Buch bis zum Berg – genau „definiert“.
Daß andere zeitgenössische
Philosophen, die allerdings gern mit „Spekulation“ kokettieren, eine solche Art
von Physik lieber „Metaphysik“ nennen, mag gute Gründe haben. Oder aber eher
nicht so gute. Denn der amerikanische Philosoph, dessen winziges Büchlein Der
dritte Tisch ich sehr empfehle, spricht lieber und sehr passend von
„objekt-orientierter Philosophie“.[4]
Walter Seitter
[1] Siehe Menschenfassungen.
Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft. Mit einem Vorwort des Autors zur
Neuausgabe 2012 und einem Essay von Friedrich Balke: Tychonta, Zustöße. Walter
Seitters surrealistische Entgründung der Politik und ihrer Wissenschaft
(Weilerswist 2012)
[2] Eine allererste
„erkenntnispolitische“ These findet sich im bekannten ersten Satz der Metaphysik. Aber dabei handelt es sich
um eine anthropologische These mit Allgemeingültigkeitsanspruch.
[3] So bestimmt
Aristoteles in der Metaphysik die
Aufgabe der Physik: Met. VII 1037a.
[4] Siehe Graham Harman:
Der dritte Tisch (Stuttgart 2012)