τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Montag, 24. Februar 2014

In der Metaphysik lesen (1004b 18 –27)

Dank einigen Stimmen in unserer kleinen Runde haben wir die zehn Zeilen (1004b 18 – 27) nicht überlesen, die Aristoteles in die wissenschaftstheoretischen Überlegungen des Kapitels 2 (Buch IV) einschiebt. Es handelt sich um die höchst befremdlichen äußerst polemischen „Abrechnungen“ mit zwei Schulen, die sich als philosophische ausgeben, von Aristoteles jedoch aus der Philosophie ausgeschlossen werden. Aristoteles war schon vielfach – vor allem im Buch I, auch im Buch III – auf andere Philosophen eingegangen, insbesondere auf vorausliegende, die er einerseits als verdienstreiche, aber auch als unzureichende Vorläufer behandelt hatte. Wenige Zeilen nach den eben genannten wird er übrigens wieder in gewohnter Weise auf die Thesen jener Vorläufer ganz kurz eingehen.
Wen aber meint er mit den „Dialektikern“ und den „Sophisten“? Erstere waren in Buch I (987b 33) ganz kurz und indirekt erwähnt worden: es müssen wohl Platoniker sein – und zwar mit ihm zeitgenössische (also nicht Platon selber), welche er an die Pythagoräer annähert.[1] Neben diese zeitgenössischen Platoniker werden als weitere Nicht-Philosophen, explizit als Schein-Philosophen, die „Sophisten“ gestellt, die hier zum ersten Mal auftauchen: auch sie als Zeitgenossen. Sie sind uns aber einigermaßen „bekannt“ – denn sie waren schon von Sokrates-Platon als die großen Widersacher erkannt und bekämpft worden.[2] Aristoteles tut hier also nichts anderes als die zwei „historischen Feinde“ – platonische und sophistische „Philosophen“ – zu einem Doppelpaket zusammenschnüren und zu seinem aktuellen Feindbild aufbauen, ausbauen. Ein ansehnliches Doppel-Feind-Bild.

Wieso dieser neue Ton im Umgang mit „anderen“ Philosophen? Aristoteles deutet einen sachlichen Grund an: beide schlüpfen in die Gestalt des Philosophen, beide reden genau über die philosophischen Themen, das Thema, das allen gemeinsam ist, also Dialektikern, Sophisten und ihm selber, ist justament „das Seiende“. Aristoteles betont diese präzise Gemeinsamkeit. Und die hat nun gerade im Buch IV ihre engste Zuspitzung erfahren: jetzt hat Aristoteles die Bestimmung der „gesuchten Wissenschaft“ verschärft durch die Wiederholung, die tautologische Wiederholung „des Seienden“. Indem die Konkurrenten sich genau auf diesen sehr speziellen Gegenstand kaprizieren – ihn aber gleichwohl verfehlen, werden aus Kollegen, Konkurrenten, Gegnern nicht bloß Feinde. „Feinde“ das ist immerhin noch eine politische Kategorie. Es werden aus ihnen solche, die nur noch mit einem „ontologischen“ Negativ-Vorzeichen angeschrieben werden können: mit „Schein-“, oder „Un-“, oder „Nicht-“.[3] Im Ergebnis verfehlen sie den gemeinsam mit allen gesuchten Gegenstand. Sie verfehlen ihn aber nicht aufgrund zufälliger Fehlleistungen – wie das bei einem schwierigen Gegenstand eben vorkommen kann, weshalb ja auch die Philosophen gelegentlich in „Aporien“ verstrickt sind. Sie verfehlen ihn aufgrund habitueller Fehleinstellungen, die Aristoteles nur indirekt bezeichnet, indem er die richtigen Einstellungen, die sich bei den Philosophen finden, andeutet – aber nur knapp: nämlich „Wendung des Vermögens“ und „Entscheidung für die Lebensweise“.
Die zweite Formel bezeichnet den Unterschied des Philosophen gegenüber dem Sophisten und da kann man die „praktische“ Weichenstellung vermuten, die auch für eine theoretische Wissenschaft, jedenfalls die höchste theoretische Wissenschaft, notwendig oder sagen wir „entscheidend“ ist. Die andere Formel, die mit dem „Vermögen“ könnte in Richtung einer „poietischen“ oder „technischen“ Voraussetzung für Philosophie gedeutet werden. Gilt das auch für die „Wendung“ – oder liegt da eher ein praktisches Moment? Ist die „gesuchte Wissenschaft“ auch eine „praktische“ Leistung? Auch eine „poietisch-technische“?

Ein riesiger historischer Sprung. Anfang der Dreißigerjahre, wenige Jahre nach Sein und Zeit, hat Heidegger die „ontologische“ Fragerichtung weiterzutreiben versucht. Und da kam ihm von außen eine politisch-ethische Herausforderung entgegen – oder wie er zunächst meinte, sie kam ihm gerade recht. Derzeit, nämlich 2014,  erscheinen erstmalig private, von Heidegger lebenslänglich geheimgehaltene Schriften aus jener Zeit. Daraus einige Zitate, die zeigen, zu welchen Verrenkungen ontologisches Insistieren führen kann:

„Muß der große Alleingang  gewagt werden, schweigend – in das Dasein, wo das Seiende seiender wird?“. „Dem Seyn im Begriff eine Bahn brechen.“ „Ermächtigung des Seins – durch Abhandlungen? – Gewiß nicht – sondern allein durch das Geschehen, das sich im geworfenen Verstehen, das sie verlangen, zeitigt und einräumt.“ „Der Deutsche allein kann das Sein ursprünglich neu dichten und sagen – er allein wird das Wesen der Theorie neu erobern und endlich die Logik schaffen.“ (Zitate aus FAZ, 20. 2. 2014)


Walter Seitter
 



[1] Seine „antipythagoräische“ Platon-Kritik war uns ja bereits aufgefallen. In der Einleitung zur Loeb-Ausgabe wird die „fairness“ der aristotelischen Platon-Kritik in Zweifel gezogen: XXII.
[2] Michel Foucault macht den platonischen „Willen zur Wahrheit“ verantwortlich für eine neue Diskurs-Politik: die Vertreibung des Sophisten. Siehe Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses (München 1974): 12, 32. Ausführlich in ders.: Über den Willen zum Wissen (Berlin 2012)
[3] Hier darf angemerkt werden, daß die aristotelische Ontologie zwar vom Seienden hoch zwei ausgeht, aber dann verschiedene Modalitäten, auch mit den eben genannten Präfixen inkludiert. Ihr Insistieren auf dem Seienden inkludiert auch diverse Desistenzen. 

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