Der amerikanische Literaturwissenschaftler
Franco Moretti hat der Methode des close reading (wort-wörtliches Lesen)
eine sogenanntes distant reading entgegengesetzt, das dazu befähigen
soll, „über Bücher zu reden, ohne sie gelesen zu haben“. Unsere Poetik-Lektüre
versuchte sich in der erstgenannten Richtung. Unser Lesen „In der Metaphysik“
unterscheidet sich nicht nur dadurch, daß wir Sekundärliteratur nicht
heranziehen, sondern womöglich auch dadurch, daß wir das Lesen durch ein
„Sehen“ ergänzen wollen, das im Text eine Aktion sieht, in der verschiedene
Vorgangsweisen auffallen und benannt werden können. Nicht Nicht-Lesen, sondern
Lesen und Sehen. Schauen, was in diesem Text gemacht wird, um was für
ein Unternehmen es sich handelt: Unternehmensanalyse, Betriebsspionage (BWL).
Zuletzt lasen wir den
erstaunlichen Satz, daß jeder Gattung (von Seienden) eine bestimmte
Wissenschaft zugeordnet ist und jeder Wissenschaft eine Sinneswahrnehmung
(1003b 20). Und als Beispiel nannte Aristoteles die Grammatik mit den Lauten
als sinnlichem Gegenstand. Zunächst dürfen wir darüber erstaunen, daß er der
Grammatik als Schreibkunde (Wie schreibt man richtig?), also der
Sichtbarmachung von Sprache die Laute zuordnet, die ja akustisch wahrgenommen
werden. Schrift und Sprache werden da irgendwie identifiziert. Sodann können
wir fragen, ob er mit den Lauten nur die Einzellaute meint oder auch die
Zusammensetzungen, die Lautfolgen wie Wörter, Sätze. Wir dürfen letzteres
annehmen, weil damit die Verbindung zum heutigen Sinn von „Grammatik“ möglich
wird.
Aus der allgemeinen Aussage
über Gegenstand, Wissenschaft, Sinneswahrnehmung scheint indessen die
Schlußfolgerung möglich, daß auch der Ontologie als Wissenschaft vom Seienden
als Seienden eine bestimmte Sinneswahrnehmung zugeordnet sein müßte. Welche mag
das sein? Das Denken? Ist das Denken eine Sinneswahrnehmung? Am ehesten fällt
einem die alte griechische Vorliebe fürs Sehen ein, die anscheinend auch bei
der Erfindung der Philosophie (einer ausgezeichneten Form von „Denken“)
mitgewirkt hat, als sie mit der „Theorie“ gleichgesetzt worden ist und als ihre
vornehmsten Gegenstände die „Ideen“ („Sichten“) aufgestellt worden sind. Sollen
wir also die der Ontologie entsprechende sinnliche Wahrnehmung in einer Art von
Sehen suchen, in einem platonischen Mehr-Sehen? Dagegen spricht immerhin, daß
Aristoteles bei der als Beispiel eingeführten Grammatik auf die hörbaren Laute
setzt. Können wir das Denken selber als „Wahrnehmen“ betrachten? Wir kommen auf
Bestimmungen des Denkens als Erstaunen, Zweifeln – das sind gewissermaßen
Selbstempfindungen. Denken als Fragen, als Selbstgespräch – wir kommen in die
Nähe des Sprechens. Ist Sprechen eine Wahrnehmung? Eher eine Wahrgebung. Andere
Wahrgebungen: singen, zeigen, zeichnen, malen, schreiben, musizieren,
publizieren (aus dem Publizistik-Seminar ging seinerzeit das Klossowski-Seminar
hervor). Das griechische Wort, das häufig mit „denken“ wiedergegeben wird,
heißt noein – und das heißt eigentlich so etwas wie wahrnehmen (laut
Motto der Hermesgruppe); denn es hängt etymologisch mit Nase, folglich
semantisch mit riechen, spüren zusammen.
Wir verschieben die Frage auf
diejenige, ob es bei Jacques Derrida oder Michel Foucault so etwas wie eine
„Ontologie der Sprache“ gibt: also eine Regionalontologie zur
Einzelwissenschaft der Grammatik (Linguistik).
Aristoteles scheint nun so in
die Ontologie einzusteigen, daß er behauptet die Bestimmungen „seiend“ und
„ein“ seien zwar begrifflich unterschieden, der Sache nach aber ein und
dieselbe – allerdings nicht nur diese beiden sondern auch das Fehlen solcher
Bestimmungen sei der Sache nach eine selbe Bestimmung (!). Das heißt nicht, daß
„seiend“ dasselbe ist wie „nicht-seiend“ oder „ein“ dasselbe wie „kein“ – sie
bedeuten nur dasselbe wie . Dies
aber auch nur in ganz bestimmten Kontexten wie demjenigen, den er mit
„Mensch“ konstruiert.
Walter Seitter
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Sitzung vom 22. Jänner 2014
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