Vor einigen Wochen haben wir
uns die Frage gestellt, wieso Aristoteles wohl das Unvergängliche höher
einschätzt als das Vergängliche. Eine historische Antwort gibt Helmut Kohlenberger,
der heute unser Gast ist: dies sei ein Erbe Platons, dessen „Ideen“ als ewig
angenommen werden. Die platonischen Ideen habe ich einmal zu veranschaulichen
gesucht, indem ich sie als diamantene Skulpturen bezeichnet habe. Ist es
erlaubt, jene Ideen, die unsichtbar sein sollen, zu veranschaulichen? Das
glaube ich sehr wohl, denn immerhin hat Platon für sie das Wort idea eingesetzt
und das heißt „Sicht“, „Gestalt“.
Im Heft 6/2013 der Zeitschrift
Sinn und Form hat jetzt Peter Sloterdijk zwei empirische Anlässe für die
platonischen „Ideen“ namhaft gemacht: erstens die Statuen, die in Athen und in
anderen Städten herumstanden, hauptsächlich Männerstatuen, die, wenn sie Götter
oder Helden darstellten, etwas größer waren; und zweitens, die Wörter für die
verschiedenen Dinge, die in der griechischen Schrift erstmals vollständig – mit
Konsonanten und Vokalen – visualisiert waren; setzen wir dafür unser deutsches
Wort „Reh“ ein, so wird es mit der
alphabetischen Schrift schon durch ca. zwei Buchstaben reproduziert und auf
Dauer gestellt; eine Dauer, die länger währen kann, als das Leben eines
einzelnen Rehs, und vor allem länger als das Auftreten eines Rehs, das doch
beinahe mehr flüchtet als verweilt.
Zur vor allem griechischen
Wertschätzung des Unvergänglichen erinnere ich an das Kapitel „Vom Barock“ in
Jacques Lacans Seminar XX. Encore, wo Lacan zwei Denklinien oder –arten
auseinanderhält: den Klassizismus, der auf das Denken und die Seele setzt, und
den Barockismus, der das Sprechen und den Körper dagegenhält. Der erste wird
durch Judentum und Christentum, Heraklit und Freud repräsentiert, der zweite
durch Parmenides, Aristoteles, Hegel und Behaviorimus – hier überwiegen also
die Philosophen.
Beide Denkformen konzipieren
die Katastrophe unterschiedlich: die eine als Apokalypse, nach der das Leben
nicht mehr in gleicher Weise weitergehen kann, die andere als Tragödie, nach
der es sehr wohl weitergeht. Helmut Kohlenberger, dessen Buch Prozess,
Spiel. Fragmente zum 2. Jahrtausend gestern vorgestellt worden ist, hält
die erste Denkweise für die heute angemessene, obwohl sie gleichzeitig
„unmöglich“ ist.
Ivo Gurschler bringt den
Gegensatz auf die Formel „Jerusalem versus Athen“ und erinnert an den
britischen Linguisten John Marco Allegro (1923-1988), der zu den ersten
Erforschern der Schriftrollen von Qumran gehörte und daraus eigenwillige
Konsequenzen zog, mit denen er sich von der Wissenschaftlergemeinschaft
trennte. Nach ihm sei die sumerische Kultur die gemeinsame Basis für die
jüdische und die griechische gewesen, wobei der Genuß bestimmter Drogen immer
schon die Voraussetzung für ekstatische Erfahrungen und Lehren gewesen sei. Die
Person Jesu sei nur eine spätere Erfindung, mit der halluzinogene Pilze
bezeichnet-überdeckt worden sein sollen. Anscheinend will Allegro die
Denkformen, die Lacan als „barockistische“ bezeichnet, disqualifizieren.
Wir lesen weiter im
Aporien-Buch der Metaphysik, wo Aristoteles eben die parmenideische
Konstruktion des einen und einzig existierenden Seienden abgewiesen hatte (er
ist also kein „radikaler“ Klassizist im Sinne Lacans). Ähnlich verfährt er mit
dem einzig existierenden Einen – und schließt daraus, daß die Zahl nicht Wesen
sein kann. Am Beginn der europäischen Neuzeit bildete denn auch der Aristotelismus
eine Barriere gegen die überhandnehmende Mathematisierung der
Naturwissenschaften. Dann aber läßt er sich auf die Elemente der Geometrie ein
und fragt nach dem Verhältnis von geometrischer und arithemischer Quantität.
Anschließend geht Aristoteles
von den geometrischen – sagen wir – Elementen zu anderen Akzidenzien (pathos,
Relation, Qualität, ... ) über, spricht ihnen die Wesenheit ab, die er den
Grundkörpern und den zusammengesetzten Körpern zuspricht. In schroffem
Gegensatz dazu dann die Erklärung, der Körper sei weniger Wesen als die Fläche,
diese weniger als die Linie, diese weniger als der Punkt und das Eine. Denn die
Körper können ohne diese abstrakten Größen nicht existieren, wohl aber
umgekehrt – woraus sich wieder die platonische Position ergibt. So stehen
einander zwei konträre Positionen gegenüber.
In unserer alltäglichen
empirischen Realität gibt es ein Phänomen, in dem Fläche und Körper einander zu
ex- und inkludieren scheinen: das Blatt, welches ein „Molekül“ des Buches ist.
Andererseits bezeichnet das Wort "Phallus" die radikale Inkonsistenz
des Körpers namens „Penis“. Beide paradoxen Phänomene werden in dem Buch Phallus-Collage
von Suzy Kirsch (und Walter Pamminger) exhibiert.
Walter Seitter
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