Auf die letzte Bemerkung zu
Aristoteles zurückkommend stellen wir die Frage, wo denn bei ihm die Grenze
zwischen Wissenschaft im Sinne von Einzelwissenschaft und Philosophie zu finden
sein könnte – und zwar im Sinn der modernen Wortbedeutungen. Es darf
vorausgesetzt werden, daß bei Aristoteles – wie bei uns - der Begriff der
Wissenschaft eine größere Bedeutung hat als der der Philosophie, jedenfalls im
quantitativen Sinn. Alles, was er selber macht, ist Wissenschaft, ist einer
bestimmten Wissenschaft zuzuordnen. „Wissenschaft“ ist ein eher technischer
Begriff. „Philosophie“ meint wie schon vor Aristoteles eine sehr qualifizierte
Seelenhaltung und Seelenleistung, die zu Wissenschaft befähigt. Unter
bestimmten Voraussetzungen erhalten bestimmte Wissenschaften den Ehrentitel
„Philosophie“. So wird die Physik auch „Zweite Philosophie von den beweglichen
Gegenständen“ genannt (Met. VII 1037a 14ff.), Ethik und Politik werden einmal
als die „Philosophie der menschlichen Angelegenheiten“ zusammengefaßt (Nik.
Eth. X 1181b 15). Beide Male fallen also Wissenschaft und Philosophie zusammen,
also würde es sich beide Male um „empirische Philosophie“ handeln.
Nehmen wir als konkretes
Beispiel die Poetik und stellen die Frage, ob sich an ihr bzw. in ihr
die Unterscheidung von Literaturwissenschaft und Literaturphilosophie doch
durchführen ließe. Eine Frage, die jetzt dadurch nahegelegt wird, daß Friedrich
Kittlers Philosophien der Literatur erschienen sind (Berlin 2013) und
ihr erster Abschnitt der aristotelischen Poetik gewidmet ist. Kittler
subsumiert das Buch einfachhin unter Philosophie und indem er das Werk nicht
auseinanderdividiert, tut er ihm natürlich nicht Unrecht. Er analysiert
hauptsächlich die direkte mediale Umwelt derjenigen Dichtung, die Aristoteles
zum Gegenstand macht – also die Sprech- und Musikarten zwischen denen, in denen
die Tragödie sich realisiert hat. An mindestens einem Punkt wird aber
auffällig, daß Kittler gut daran getan hätte, den aristotelischen Text nach
literatur-, besser gesagt nach dichtungswissenschaftlichen Kategorien zu
befragen: dann hätte er kaum den aristotelischen Terminus mythos mit den
griechischen Mythen verwechselt (die Aristoteles dem Tragödiendichter als
Vorlage empfiehlt – aber nicht unter dieser Benennung).
Auf zwei Punkte sei
hingewiesen, wo die Poetik deutlich die Ebene von Literaturwissenschaft
übersteigt – beide Male, indem sie die Ursachenerkundung darüberhinaustreibt.
Dichtung ist Nachahmung –
und was ist die Ursache für diese Tätigkeit? Daß der Mensch „das nachahmendste
von allen Tieren“ ist (Poetik 1448b 7): damit erfindet Aristoteles hier
eine dritte Definition des Menschen (nach „Tier mit Logos“, „Tier in Polis“).
Also ein Beitrag zur Philosophischen Anthropologie. Und zum anderen die Stelle,
wonach die Tragödie irgendwann – nach ihren doch eher primitiven Anfängen und
einigen Phasen von Verbesserung - ihre „Natur“ erreicht habe (1449a 15). So
wird der Tragödie ein Wesen zugeschrieben – auch das eine Ursachensorte bei
Aristoteles. Aber anstatt des neutralen Wesensbegriffes ousia (der an
anderer Stelle verwendet wird) wird hier gerade dasjenige Synonym (siehe 18.
April 2013) eingesetzt, das für das Artefakt Tragödie am wenigsten geeignet
erscheint: physis (Natur). Indem Aristoteles so mit seiner ontologischen
Terminologie „spielt“, ordnet er seine Dichtungswissenschaft in eine Ontologie
ein, die im engeren Sinn „philosophisch“ genannt werden kann.
In unserem Text referiert
dann Aristoteles den vorsokratischen Philosophen Empedokles mit folgender
Kausalitätsordung:
Gott = Eines = Freundschaft
Streit
Bäume, Tiere, Menschen,
Götter
In der ersten Zeile steht
die erste (fernste) Ursache, in der zweiten die mittlere, in der dritten stehen
die Wirkungen, die ihrerseits auch jeweils die letzten (nächsten) Ursachen (für
ihre Nachkommen) sind.
Walter Seitter