τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 4. April 2013

In der Metaphysik lesen (998a 20 – 998b 4)

Die Überlegungen auf unserer letzten Sitzung am 13. März 2013 werden in den beiden Protokollen von Gesche Heumann und Mathias Illigen auf erwünschte, nämlich sehr unterschiedliche Weise festgehalten bzw. fortgesetzt. Damals vor drei Wochen fand unmittelbar darauf – an anderem Ort in Wien – die Präsentierung meines Buches statt: Menschenfassungen. Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft, das im Vorjahr - mit einem Vorwort des Autors zur Neuausgabe 2012 und einem Essay von Friedrich Balke: ‚Tychonta, Zustöße. Walter Seitters surrealistische Entgründung der Politik und ihrer Wissenschaft’ – neu herausgekommen  ist. Zu unserer Aristoteles-Lektüre hat dieses Buch einerseits einen direkten Bezug, der von Friedrich Balke in seinem Nachwort hergestellt worden ist, da er unsere Poetik-Lektüre auf die seinerzeitige Substanz-Akzidenzien-Problematisierung bezogen hat. Sowie einen zweiten indirekten, ebenfalls von Friedrich Balke hergestellten. Und zwar hat er es als eine intellektuelle Leistung des – 1980-1981 geschriebenen – Buches dargestellt, daß eine Begründung der Politikwissenschaft nicht Platon oder Aristoteles herbeizitiert, bei denen es solche Begründung bestimmt gibt, sondern historisch und systematisch ganz woanders ansetzt.

Sich auf Platon oder Aristoteles berufen und sie zur Begründung von etwas verwenden. Diese sehr konventionelle Verfahrensweise vereinigt zwei Verhalten: bestimmte Autoren verwenden, benützen, um selber eine bestimmte Leistung vorweisen zu können, und zwar mit der Voraussetzung, daß die benützten Autoren anerkannte Autoritäten, genau genommen unerreichbare Hochleister sind, denen man keine auch nur gleichrangige selbständige Leistung gegenüberstellen kann. Die Unterwerfung unter Autoritäten kompensiert sich mit dem Gestus des freien Verfügens, Verwendens, ja des Entscheidens darüber, wer die großen Autoritäten sind.

Unsere Aristoteles-Lektüre vermeidet diese gewissermaßen schizophrene Annäherung. Wir machen Aristoteles zum Objekt – unserer Neugierde, unserer Betrachtung, vielleicht unserer Verwunderung, vielleicht unseres Kopfschüttelns. Wir versuchen, zu sehen, was da vorliegt. Lesen – ja. Aber über das Lesen hinaus oder durch das Lesen hindurch sehen. Sehen, was er sich vornimmt; sehen, wie er sein Vorhaben in Angriff nimmt; sehen, was er tatsächlich macht; sehen, was ihm unterläuft; sehen, was da geschieht. Und natürlich immer wieder: sagen, was man da sieht. 

Dieses Sagen, was da geschieht, kann nur dann irgend gelingen, wenn es auch Wörter verwendet, die im Gesehenen, das ja aus Wörtern besteht, gar nicht vorkommen. Wörter, die auch nicht bloß jene Wörter irgendwie abwandeln oder übersetzen. Ohne die geht’s natürlich auch nicht. Aber es müssen andere Wörter dazukommen, die jenen Wörtern ganz andere Seiten abgewinnen. Nämlich solche Seiten, die ausgerechnet wir da, an diesem Ort und in dieser Zeit, in dieser Entfernung oder aber in dieser Nähe finden können. Unsere Lektüre sollte zumindest in einigen Punkten eine erste sein, eine nie dagewesene, eine nur uns mögliche – aber dennoch von anderen nachvollziehbare.

Lektüre auf Augenhöhe, idiosynkratische Lektüre, ortsbedingte oder topogene (vindobonogene).

Darin sehe ich die Leistung von Friedrich Balke, daß er an meinem Buch den erwähnten Aspekt (nämlich die Nicht-Unterwerfung unter die Klassiker), und ein paar andere Aspekte (zum Beispiel die Nähe zum Surrealismus) gesehen und gesagt hat, obwohl weder das Buch noch sein Verfasser so etwas gewußt oder gar gewollt haben.

Dazu gibt es andere Blicke, daß sie an etwas etwas sehen, was jenem Etwas gar nicht bewußt war. Dieses Etwas wiederum kann man das „Unbewußte“ nennen – aber  vielleicht gibt es bessere Begriffe dafür: das Profil, die Stoßrichtung, den Charakter, die Sehnsucht, die Wunde ...

Wohl dem, den solche Blicke und Worte treffen, die ihm ihn enthüllen. Wir versuchen, Aristoteles diese Chance zu gewähren.

998a 20 – 998b 4

Aristoteles wendet sich der Aporie Nr. 6 zu und definiert allgemein den Ausweg aus einer Aporie als „aletheias tychein“: mit der Wahrheit Glück gehabt haben. Die Aporie besteht in der Frage, ob die Prinzipien und Elemente in den immanenten Bestandteilen einer einzelnen Sache liegen – oder in der Gattung, also im Gemeinsamen. Als Beispiel nennt er den Laut. Zumindest beim Vokal scheint uns die Suche nach Bestandteilen (im Plural) unmöglich, so nehmen wir uns als Beispiel den visuellen Druckbuchstaben a (oder A) und da finden wir – visuelle – Bestandteile. Die Gattung würde lauten: Buchstabe oder aber Figur oder dergleichen.

Deutlicher sein zweites Beispiel: geometrische Zeichnungen (diagrammata) haben Elemente, die in allen oder in den meisten Figuren vorkommen (z. B. Linie); aber da nennt er die alternative Fragestellung, die nach der Gattung, nicht; die würde wohl auf „Figur“ hinauslaufen.

Sein drittes Beispiel entnimmt Aristoteles dem Empedokles: alle Körper bestehen alternativ oder inklusiv aus vier Elementen (Wasser, Erde, Luft, Feuer); doch die alternative Fragerichtung gibt es bei Empedokles nicht: die würde auf den Allgemeinbegriff „Körper“, oder den noch allgemeineren Gattungsbegriff „Seiendes“ hinauslaufen.

Die zweite Fragerichtung kann nur Allgemeinbegriffe nennen, im besten Fall Allgemeinstbegriffe. Da bewegt man sich im reinen Raum der Klassifikation und steigt in die Höhen der Logik. Die erste Fragerichtung geht in Richtung Physik, wir wir ja schon in der Poetik anhand der Wörter, Silben und Laute gesehen haben.

Die Alternative, die Aristoteles hier aufmacht, ist also die zwischen Physik und Logik. Welche der beiden Disziplinen hat mehr Chancen, zur „gesuchten Wissenschaft“ zu gehören? Es fragt sich, was denn das Eigene der „gesuchten Wissenschaft“ sein soll. Sein nächster Satz verbindet die Bestandteile einer Sache mit ihrer „Natur“ (physis) – das sieht nach eindeutigem Plädoyer für die Physik aus. Abschließend: die Gattungen können nicht die Prinzipien der Dinge sein. „Metaphysik“ also doch eher Physik als Logik.

Aber dann ein: Doch für die Gattungen. 


Walter Seitter

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