τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 10. Januar 2013

In der Metaphysik lesen (996a 10 – 21)


Die Aporien Nr. 12 bis 15 bilden die letzten in der Aufzählung. Im Schlußsatz wird ähnlich wie am Anfang von Buch III das Wort „Aporie“ in die eher „positiven“ Verben „diaporein“ und „euporein“ gewendet – nämlich so, daß das Durcharbeiten der Aporien zur Bedingung ihrer Lösung, ihrer Überwindung erklärt wird. Kein Ausweg ohne Nachvollzug der „Inwege“, ohne Durchgang durch die Suchbewegungen, als welche sich die „Unwegsamkeiten“ darstellen. Immerhin besteht das Wort „Aporie“ überwiegend, ja fast ausschließlich aus „porie“ also Wegsamkeit. Zwar sind jene Wege steckengeblieben, haben sich im Kreis gedreht oder sind sonstwie zu Sackgassen geworden. Aber man muß sie nachgehen, nachvollziehen, um sie gangbarer zu machen.

Auf diese Weise postuliert Aristoteles ein sorgfältiges, intensives, arbeitsames Sich-Einlassen auf die Tradition, auf die Vorgeschichte der von ihm „gesuchten“ Wissenschaft. Er spielt nicht den ersten Anfang, den „ersten Philosophen“ im chronologischen Sinn. Er weiß, daß er in der dritten oder vierten Generation philosophiert. Meint allerdings auch, daß die vorausgehenden Generationen jedenfalls für diese Wissenschaft den sicheren, den erfolgreichen Weg noch nicht gefunden haben. Gleichzeitig nimmt er an, daß sie Wege zu dieser Wissenschaft versucht haben.

Im Buch I hat er selber einen anderen Zugang zu dieser Tradition versucht. Einen, den wir „historisch“ im üblichen Sinn nennen würden: Nennen von Namen, kurzes Referieren der Positionen, abwägendes, manchmal auch polemisches Kritisieren jener Thesen als unzureichend. Obwohl er selber von Anfang an die „Wissenschaft“, die Suche nach „Ursachen“, in den Vordergrund gestellt hat, hat er da auch „theologische“, wir würden sagen „mythologische“ Antworten einbezogen. Außerdem hat er sogar die gesuchte Wissenschaft selber als „Weisheit“ bezeichnet. Wohl wissend, daß „Weisheit“ in seiner Kultur ein längst etablierter Begriff war, daß die „Weisen“ eine angesehene soziale Position innehatten. Zu ihnen gehörten eher Staatsmänner, Redner, Verfassungsgeber (im 20. Jahrhundert hat dann der russisch-französische Philosoph Alexandre Kojève den Titel des Weisen dem des Philosophen vorgezogen). Allerdings die genaue Definition dieser Art von Weisheit stand nicht fest. Aristoteles gibt ungefähr drei verschiedene Definitionen der Weisheit – womit er bereits den Anspruch der Wissenschaft über sie drüberstülpt.

Er möchte die Philosophie mit dem sozialen Prestige der Weisheit ausstatten – und absichern. Und dazu hatte er einigen Grund. Denn die Philosophen galten zu seiner Zeit, obwohl es solche doch schon seit 200 Jahren gab, immer noch als unsichere Kantonisten, verdächtige Neuerer, gefährliche Avantgardisten, aggressive Aporetiker. Bekanntester und bekanntlich athenischer Fall: Sokrates.

Mit dem Buch III schlägt Aristoteles einen anderen Zugang zur Tradition „seiner“ gesuchten Wissenschaft ein: theoretische Reduzierung auf 15 Sachfragen, die aber nicht einfach als Fragen oder Schwierigkeiten aufgelistet werden, sondern zu gescheiterten Versuchen, Verrennungen, Sackgassen und Labyrinthen minidramatisiert werden. Auflistung von Verrennungen. Und Aufforderung, eben diese Verrennungen wieder und wieder nachzuvollziehen, zu modifizieren. Modern gesagt: sie produktiv zu erneuern.

Also Fortsetzung des Avantgardismus in der Bearbeitung bisher vorliegender Avantgarden.

In der Bearbeitung bisher vorliegender philosophischer Avantgarden?

Oder in der Bearbeitung bisher geleisteter – auch von ihm selber geleisteter – und heterogener Erkenntnisse?

Abkehr von der Vorstellung, alle Prinzipien, auch die heterogensten, könnten von einer Wissenschaft gesucht und gefunden werden?

Hat das etwas mit philosophischer Traditionslosigkeit zu tun, aus welcher in Österreich nach 1900 zum ersten Mal so etwas wie Philosophie entstand, neu entstand? Und in verkleinertem Maßstab bei dem aus dem  zentraldeutschen kommunistisch gewordenen Jena geflüchteten Max Bense (1910-1990) ab 1949 an der Technischen Hochschule Stuttgart? Der neben seiner Nähe zu Mathematik, Naturwissenschaft und Technik auch diejenige zur Kunstavantgarde pflegte (wie zum französischen Dichter Francis Ponge (1899-1988) (der als Sechzigjähriger zur Gründung des Pariser Avantgarde-Organs Tel Quel beigezogen wurde)).

Walter Seitter

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