τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 27. Dezember 2012

Lebende Münze Geld kaputt (brut-Protokoll)

Zum Thementag Thementag WACHSTUM am 15. Dezember 2012 im Wiener brut gab Elisabeth von Samsonow die Lecture / Performance Geld Kaputt/Geohör Pracht Echo.
 
Gemeinsam mit ihr auf der Bühne waren Madonna, Orpheus, Baubo und Momus, keine bloßen Instrumente, wie Samsonow versicherte, sondern – quasi-göttliche – Figuren oder „Persönlichkeiten, Gewachsene, Erwachsene“ aus Lindenholz, die geduldig darauf warteten, dass sich die Rednerin zwischenzeitlich vom Pult weg und auf sie zu, ja in sie hineinbewegt, um sie zum Erklingen zu bringen. Die vier Skulpturen wurden einzeln abgenommen und elektrisch verstärkt, sodass selbst feinste Streichel- oder Klopfbewegungen als Sound vernehmbar wurden; zudem sind sie mit je vier Saiten bespannt, die mal gezupft und mal gestrichen wurden. Diese vielseitige Nutzung der einzigartigen Klangkörper versetzte das Publikum in eine besondere Stimmung und das Gesagte traf auf offene Ohren. 

Ausgangspunkt ist ein Konflikt zwischen Geld und Leben. Das eine werde gegen das andere ausgespielt, wie bei einem Raubüberfall muss man sich entscheiden: „Geld oder Leben!?“ Dieser Konflikt basiert auf dem Anspruch auf eine Leistung, um deren Zuschreibung die beiden konkurrieren, eben Wachstum.
Samsonow erinnert an das blanke Entsetzen mittelalterlicher Antizinsaktivisten, das diese bei der bloßen Vorstellung von sich selbst vermehrendem Geld ergriff; man befürchtete, alles Wirkliche würde von der Scheinwelt verschluckt werden. Jedem Kind sei damals einsichtig gewesen, dass nur was lebt, wachsen oder sich vermehren könne. Heute hingegen hätten sich die Verhältnisse umgekehrt und neues Leben, vor allem auch die Kinder selbst, erscheinen zunächst als Kosten oder Unkosten, jedenfalls als etwas das man sich kaum mehr leisten kann. 
Wenn heute von Wachstum die Rede ist, denkt man vor allem an Wirtschaft und kaum mehr an das was wirklich wächst. Dies sei das „perfekte Verbrechen“ – die schenkende Natur ist dem Geld ins Netz gegangen. Die „Gesellschaft der Freunde des Verbrechens“ hätte die Oberhand gewonnen und die eigentlich produktiven Faktoren seien entwertet, besonders die Figur des Mädchens. Dieses wird einzig in seiner Opferrolle wahrgenommen, als industrielle Sklavin missbraucht, ohne dabei zu bedenken, dass gerade sie das Wachstum verkörpert. Zum einen da sie selber noch im Wachsen ist, zum anderen auch, insofern das Mädchen exklusiv im Besitz der Produktionsmittel sei – und von daher immer auch schon Mutter ist, zumindest potentiell. Um diese Tatsache wieder zu ihrem Recht kommen zu lassen, empfiehlt Samsonow die Installierung einer symbolischen Ordnung der Mutter oder, allgemeiner, eine symbolische Ordnung der Körpers.  
Momentan verließen wir uns zu sehr auf die Zeichen: in der Theorie kann man sich einzig darauf einigen, dass das Bezeichnende (die Signifikanten) Bedeutung und somit einen Wert haben; das Bezeichnete bleibt dabei auf der Strecke, dem (theoretischen) Zugriff entzogen. Dementsprechend vertraut man praktisch nur mehr auf die Wirkmächtigkeit des Geldes, alles andere, zum Beispiel eben auch „Leben“, ist allenfalls zweitrangig. 
Aber als bloßem Zeichen fehlt dem Geld die Deckung, denn der eigentliche Wert kann nur im Bezeichneten liegen. Über die genauen Ursprünge des Geldes wird man sich wohl nicht so schnell einigen können (obwohl die Geschichte mit dem Opfer sehr plausibel erscheint), aber klar ist jedenfalls, dass das Geld seit jeher für irgendetwas anderes gestanden ist, da es für sich genommen nicht imstande ist, Wert zu verkörpern. Das Geld war indirekt „Zeichen an der Erde“, ein Pfand für Boden, Gold oder was auch immer.


In diesem Sinne kann auch Klossowskis „Lebendes Geld“ verstanden werden: es geht um die Zusammenführung von Geld mit Menschenkörpern, wobei letztere als Garant für den Wert selbst einstehen sollen: entweder indem sie das gängige Geld überhaupt obsolet machen und man somit direkt in Männern oder Frauen bezahlt werden würde, oder, in der schwächeren Variante, als neuer, besserer, weil nicht nur phantasmatischer, Goldstandard. Dieses Szenario sollte man sich besser im fourieristischen Geiste vorstellen: nur so kann man der Verrücktheit Klossowskis gerecht werden. In der bloßen Verlängerung der vorherrschenden Tendenzen wäre das Lebende Geld dazu verdammt verbraucht zu werden, aber das Lebende Geld kann als solches nur infolge einer Umwertung enstehen, nach welcher der Wert des Menschen über dem des Geldes steht.  

Ivo Gurschler

Samstag, 15. Dezember 2012

In der Metaphysik lesen (996a 5ff.)


Nachtrag zum Berliner Protokoll

Mit Peter Berz komme ich auf meinen Wiener Vortrag zu La monnaie vivante zu sprechen und erwähne, daß ich Klossowskis Weglass-Operation als „Beschneidung“ oder „Zirkumzision“ bezeichne. Und nicht mit dem modischen psychoanalytischen brutalen Begriff „Kastration“; es gibt viele Arten von Schneiden, Zuschneiden, Wegschneiden ... In der Filmproduktion ist das Schnittwesen eine wesentliche Produktionsphase. Oder man denke an die wichtige Funktion „Ausschneiden“ im Word-Programm, mit dem dieses hier geschrieben wird.

Am Dienstag im Deutschen Historischen Museum eine riesige Informationen-Aufstellung zur Geschichte Deutschlands vom Jahre 0 bis zum Jahre jetzt. Die wenigen Jahre der DDR sind natürlich inkludiert, die vielen Jahrhunderte Österreichs ebenso. Aus dem Jahr 1594 stammt die Deutschland-Karte von Mercator. Die heute als „Hallein“ bekannte salzburgische Stadt heißt dort „Hellel“ – abgesehen vom ersten e entspricht das der seinerzeitigen Aussprache (die ich in der Nachkriegszeit noch gehört habe). Mit dem Filmemacher Manfred Hulverscheidt besuche ich das Tieranatomische Theater aus dem Jahre 1794. Dieser palladianische Zentral- und Kuppelbau, auch „Zootomie“ genannt, diente der Präsentierung von frisch geschlachteten Tieren, hauptsächlich Pferden, auf einem großen runden Tisch, der aus dem Untergeschoß in den Hörsaal hinaufgehoben wurde. Luxus für die Wissenschaft. Anatomie: Aufschneidung, Auseinanderschneidung, Auseinanderfaltung. Anschließend noch ein Treffen mit Christian Bertram im Literaturhaus. Nächtlicher Flug nach Wien.

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Zu den letzten Protokollen, die sich von Aristoteles etwas entfernen und den Spannungsbogen zwischen Heidegger und dem Wien des frühen 20. Jahrhunderts thematisieren.

Die große Philosophie-Verweigerung Österreichs, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts konsequent durchgehalten worden ist, dürfte ihren Hauptgrund darin haben, daß in Österreich die intellektuelle Energie hauptsächlich in Richtung Kunst geleitet worden ist: Theater, Musik, Oper. Daneben gab es immer wieder Perioden mit funktionierender Naturwissenschaft, die aber nie zu einer stabilen Wissenschaftskultur führten. Das Fach Philosophie mußte aus traditionellen Gründen unterrichtet werden, was die Jesuiten so besorgten, daß die Philosophie als „reine Philosophie“ den Status leeren Geredes innehatte. Eine Änderung trat zunächst in der Mitte des 18. Jahrhunderts ein: Einführung der Medizin außerhalb der Universität: von da an war Wien eine Hauptstadt dieser Disziplin – mit der Psychologie als Anhängsel. Erst im 19. Jahrhundert berief man angesehene Philosophieprofessoren aus Deutschland, zuletzt Franz Brentano (1838-1917) (in Wien bis 1895) (seine Richtung konnte sich mit Alexius Meinong (1853-1920) in Graz besser halten).

Der große Umschwung wurde dadurch eingeleitet, daß Österreich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts den Anschluß an die internationale Wissenschaftskultur, und zwar in allen Disziplinen, fand, womit der Grund für eine bodenständige Genese von Philosophie bereitet wurde. Die hatte zwar auch dann noch mit Schwierigkeiten zu kämpfen – doch auch diese gehörten zum Milieu eines sozusagen „ersten Philosophie-Anfangs“ – der immer nur aus Wissenschaftskultur hervorgehen kann. Siehe Physik als „Grundbuch“ der abendländischen Philosophie.

Diese Bemerkungen eröffnen nicht nur einen „Sprung“ von Aristoteles zum Schicksal der Philosophie in Österreich, also bei uns, also zu uns, denn es geht ja darum, daß wir selber, hier und jetzt philosophieren. Was allerdings ohne Umsicht auf die Geschichte der Philosophie (und Nicht-Philosophie) nicht möglich erscheint und da ist jetzt endlich auch die Dimension der Geographie der Philosophie einzuziehen. Wozu wir keine neuen Lehrstuhlbezeichnungen wie „Europäische Philosophie“ und „Interkulturelle Philosophie“ brauchen. Die Geographie beginnt mit kleinen topographischen Differenzierungen wie: zwischen Universität Wien und Universität für angewandte Kunst, zwischen Wien und Linz, zwischen Österreich und Deutschland usw.

Philosophiegeschichtlich ist das Gefälle zwischen Deutschland und Österreich (das politisch bis 1866 zu Deutschland gehört hat) enorm – deswegen hat Heidegger das zeitgenössische Österreich überhaupt nicht wahrgenommen. Der Abstand wirkt bis heute nach. So bekommt der Wiener Philosoph Wolfgang Pircher zu seinem 65. Geburtstag eine Festschrift, die in einem deutschen Verlag erscheint und von deren drei Herausgebern zwei Deutsche sind. Der Abstand kann also auch überbrückt werden. So weit so gut.

Die Gründung des „Arbeitskreises österreichische Philosophie“ können wir dann im nächsten Jahr erörtern, das den etwas widerspenstigen, also passenden Namen „2013“ trägt.

Jetzt zurück zur Aristoteles-Lektüre. Die 11. Aporie bekommt einen immanenten Superlativ zugesprochen, sie ist nämlich die aporetischste: ob nämlich das Eine und das Seiende nicht Unterschiedenes sind (so Platon und die Pythagoräer), daß sie vielmehr das Wesen der Seienden sind – oder ob das Substrat der Dinge etwas anderes ist: Liebe/Freundschaft (so Empedokles) oder Feuer, Wasser, Luft (wie jemand anderer meint)?

Den Anfang dieses Fragesatzes haben wir unrichtigerweise als eigene Frage aufgefaßt und als solche diskutiert; das war gegenüber dem griechischen Text eine etwas zu fleißige Fleißaufgabe – was aber nicht schadet, weil es ja darum geht, daß wir selber denken, auch wenn der gelesene Autor es nicht unbedingt verlangt. Hier werden also das Eine und das Seiende als selbig vorausgesetzt und die Frage geht dahin, ob dieses sehr formalistische Selbe in den Rang einer ontologischen Ursache, hier Wesenheit, der Seienden, also wohl aller Seienden, zu setzen ist. Oder ob eine andere Ontologie vorzuziehen ist, wonach qualitative oder stoffliche Größen als Substrat anzusetzen sind, und zwar als Substrat aller Dinge. Diese Alternative erscheint doch einigermaßen verständlich, behandelt wird sie erst später. Warum aber gilt sie als die schwierigste und aporetischste?

WALTER SEITTER

 

Freitag, 14. Dezember 2012

Berliner Protokoll (WS)


Mein jüngster Berlin-Aufenthalt sollte nicht ungeschrieben und unkommentiert in die Vergangenheit entschwinden. Daher hier ein paar tagebuchartige Bemerkungen.

Donnerstag, 6. Dezember

Um 9 Uhr früh Ankunft in Berlin. Schnee und Schneetreiben. Sofort ins Literaturhaus in der Fasanenstraße, einen der schönsten Orte in Berlin, den ich vor allem vom sommerlichen Garten her kenne. Heute Ausblick in den verschneiten Garten, mit etwas Sonnenschein. Gespräch mit Christian Bertram und Horst Ebener über La monnaie vivante, vor allem das seinerzeitige Zustandekommen des Buches, die Anteile von Pierre Klossowski und Pierre Zucca. Erholung vom Frühflug, bis 14 Uhr.

Ausstellung „Schinkel: Geschichte und Poesie“ im Kupferstichkabinett (neben der heiß umkämpften Gemäldegalerie). Karl Friedrich Schinkel (1781-1841), ein „Gesamtkünstler“, der mit seinem überwiegend klassizistischen (aber auch romantischen und „nationalen“) Profil wesentlich zum modernen Preußen beigetragen hat, in einer Zeit, in der sich Österreich kulturell eher zurückgehalten hat. Immerhin war seine Entdeckerlust so groß, daß er auch unsere Gegenden aufgesucht hat: 1803 Fußmarsch nach Schöngrabern und Wien (dann weiter bis Süditalien); 1811 nachgeholte Hochzeitsreise nach Salzburg und Berchtesgaden. Sein Philhellenismus gipfelte in einem Entwurf für einen gigantischen, ja megalomanischen Königspalast auf der Athener Akropolis, der dort oben das gesamte Gelände zwischen den Tempeln mit Palast und Gärten ausgefüllt und den Anblick von unten stark verändert hätte. Wie ist dieser – nicht ausgeführte - Entwurf einzuschätzen? Soweit wir wissen, war die Akropolis in „klassischer“ Zeit nur Tempelbezirk (allerdings von hohen Festungsmauern umgeben). Irgendwann in vorklassischer Zeit muß aber auch diese Akropolis vornehmlich Palast und Festung getragen haben. Insofern hätte Schinkels Entwurf eine archäologische Berechtigung gehabt, aber .... Den Königspalast hat dann der Münchener Leo Klenze (1784-1864) herunten in der Stadt gebaut: heute Parlamentsgebäude und Zielpunkt der griechischen Klagen und Anklagen, Demonstrationen und Ausschreitungen.

Abends zur Großveranstaltung „Bonds: Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten“ im Haus der Kulturen der Welt. Gespräch über Korruption, gegen die alle sind und die munter fortlebt. Aber was ist Korruption?

Später Abend Abendessen in der Paris Bar, die ich aus den Siebziger- und Achtzigerjahren, also aus Jacob-Taubes-Zeiten kenne. Dort meine elementare Typologie der Wirtschaftsformen: Mutterwirtschaft und Marktwirtschaft. In der ersten gibt A den b, c, d das, was diese brauchen. In der zweiten geben und nehmen A, B, C usw. voneinander und miteinander. Die zwei Typen („Idealtypen“ im Sinne von Max Weber) unterscheiden sich radikal voneinander – und zwar nicht kontradiktorisch sondern konträr. Folglich kann es auch verschiedene Mischtypen geben. Etwas Logik schadet nicht beim Reden über die Realität. Vermutlich „muß“ es beide Typen geben und man muß nicht den einen im Namen des andern verteufeln.

Freitag, 7. Dezember

Mit Horst Ebner besuche ich die Ausstellung „Mythos Olympia. Kult und Spiele“. Eine gigantische und sozusagen vollständige Ausstellung – auch für jemanden wie mich, der vor zweieinhalb Jahren zwei Wochen lang in Olympia war und „alles“ gesehen hat. Wiederum das merkwürdige Phänomen, daß das regelmäßige Stattfinden von „Frauenspielen“ zwar erwähnt, aber in keinster Weise näher geschildert wird. Die tatsächlichen Verhältnisse scheinen also einigermaßen symmetrisch (zwischen den Geschlechtern) gewesen sein, aber die Verkündigung, das Prestige war recht einseitig verteilt.

Am Nachmittag auf der Schulden-Konferenz ein vierstündiger „Staffellauf“ mit 15 Theoretikern (jeweils in der Doppelrolle von Interviewer und Interviewtem). Am Abend eine dramatische Aufführung nach einem Theorie-Buch: Die Ökonomie von Gut und Böse (München 2012) von dem Ökonomie-Professor Tomáš Sedláček. Seine Methodik: ökonomische Bücher religiös lesen, religiöse Bücher ökonomisch lesen.

Samstag, 8. Dezember

Vormittag ein kleiner Bataille-Workshop. Ich treffe Rita Bischof, der ich meinen Wiener Vortrag über La monnaie vivante zugeleitet hatte. Zu den dort wiedergegebenen Passagen aus Klossowskis Nachlaß sagt sie: das Beste, was Klossowski geschrieben hat. Auf der Schulden-Konferenz Lesung von Aris Fioretos aus seinem neuen Roman Halbe Sonne. Eine Auseinandersetzung zwischen Sohn und Vater mit dem scherzhaften Hauptbegriff „Repaparatur“, d. h. Vater-Reparatur. Vielleicht eine Alternative zu „Ödipus“ (Vatermord) – aber auch zu „Anti-Ödipus“ (und dessen Aggressivität). Anschließend Vortrag von Sigrid Weigel, die der 68-er Generation (zu der auch sie gerade noch gehört) einen moralischen Reinheits-Totalitarismus vorhält. Daraufhin Diskussion zwischen ihr und Fioretos – auch über die deutsch-griechischen Schuld(en)-Schiebungen. Ich melde mich zu Wort und skizziere eine Diagnose der griechischen Situation: in Griechenland vor dreißig Jahren mit Brüsseler Hilfe Stillegung einer funktionierenden altmodischen Wirtschaft (mit Rosinen-, Tabakfabriken ...), Bau von Autobahnen, Import von Luxuslimousinen. Was dazu führt, daß in Griechenland (wo seinerzeit die abendländische Begriffskultur erfunden worden ist) die soziologischen Begriffe „postindustrielle Gesellschaft“, „Konsumgesellschaft“ in voller Reinheit verwirklicht sind (was sich zunächst recht gut angefühlt hat). Fioretos zu mir: ich teile Ihre Analyse.

Am Abend Vortrag von Marcel Hénaff: „Kosmische, symbolische und finanzielle Schulden“. Drei Stadien: Antike mit prekärer Balance, Neuzeit mit Grenzenlosigkeit, Moderne mit Thermodynamik, d. h. irreversibler Entropie. Ich: wir leben immer noch in der „Antike“: es gibt auch die Kräfte der Negentropie, die Differenz, Information steigern, z. B. animalisches Wachstum, kulturelle Leistungen. Jedenfalls „bei uns“ hängt es von uns ab, ob diese Kräfte immer wieder erstarken. Hénaff gibt mir grundsätzlich recht. Zum Abendessen suchen wir zunächst ein Lokal auf, in dem ein echter Klossowski hängt. Folgeerscheinung: es gibt dort nur ein Menü; der Preis steht kleingedruckt ganz unten .... Wir wechseln in die „Trattoria Maria“ mit herrlicher Pizza. Funktionierende Marktwirtschaft. Weder Mutter- noch Vater-Zwang.

Ich habe auf der Schulden-Konferenz keineswegs alle Veranstaltungen, Vorträge usw. besucht, kann also kein Gesamturteil abgeben, will das auch gar nicht. Stattdessen meine Formulierung für die vermutete Wurzel der Krise (die sich keineswegs auf Griechenland beschränkt). Die Wurzel heißt „Zuviel Geld“ (was leider auch zur Folge hat, daß es manchenorts  zu wenig Geld gibt). Die Formel „Zuviel Geld“ paßt auch zur Entropie-Dominanz. Denn zuviel von einer Realitätssorte oder Qualität (ob Geld, Wasser, Wärme ...) bedeutet automatisch eine Differenz-Schwächung. In Delphi war auch die Inschrift „Nichts zuviel!“ angebracht. Die Mißachtung dieses Gebots steigert die Entropie. Im übrigen scheint mir die Empfehlung „Abschaffung des Geldes“ keineswegs eine Lösung zu versprechen (sie würde wohl zu zuviel Gefühl und dergleichen führen).

Sonntag, 9. Dezember

Den ganzen Tag heftiges Schneetreiben. Neues Museum: Echnaton und Nofretete und Sonne: neue (oder erste?) Dreifaltigkeit, bald abgeschafft. Alte Nationalgalerie: schon wieder Schinkel: auch Gotiker, Romantiker, Maler ... Ephraim-Palais: Johannes Grützke: ein Berliner Kraft-Maler.

Montag, 10. Dezember

Im Merve Verlag Gespräch mit Tom Lamberty: Klossowski-Edition mittelgroß oder ganz groß? Akzidentien oder Akzidenzien? In der Villa Einstein Treffen mit Peter Berz, der vor kurzem in Linz einen Vortrag hielt, in dem er seine Aristoteles-Heidegger-Lektüre in Richtung „Sachen“ und Naturwissenschaften vorantrieb. Inzwischen hat er auch unsere letzten Protokolle gelesen und freut sich über die Konvergenz der Denkbewegungen. Wobei er in seine Philosophie der Biologie auch Helmuth Plessner einbezieht, vor allem dessen einschlägiges Hauptwerk, die 1928 erschienenen Stufen des Organischen und der Mensch. Wir sprechen darüber, daß dieses Buch zunächst im Schatten eines Scheler-Plagiat-Vorwurfs stand; viel wichtiger aber die Tatsache, daß es auf Dauer in den Schatten von Heideggers Sein und Zeit geraten ist. Auch Peter Berz meint, daß man heute Heidegger mit Plessner parallel-lesen muß, um Heidegger aus dem Raunen herauszubringen und „jetzig“ lesen zu können. Das ist auch die Richtung, die mit dem Wien des frühen 20. Jahrhunderts angezeigt ist.

Wieder im Literaturhaus, wo Claudia Schmölders einen Literaturtreff organisiert. Ich habe sie im September auf der Tagung der Plessner-Gesellschaft in Wiesbaden näher kennengelernt, wo wir beide versucht haben, den Plessnerianern die Sache mit dem Griechentum näherzubringen.

WALTER SEITTER


Donnerstag, 6. Dezember 2012

Die Anfänger (996a)


Das ganze Dilemma der Philosophie beginnt an ihrem Anfang. Denn die Philosophie ist eine Verfallsgeschichte, die kurz nach ihrer Entstehung einsetzt. Der Absturz beginnt mit der Idee des Guten. Erreicht eine ungeahnte Tiefe in der Scholastik, wo von Substanz gesprochen wird. Descartes palavert vom Subjekt, was die Dekadenz nur noch steigert. Dekadenz, das Stichwort der PhilosophInnen. Man könnte folgerichtig überhaupt das Wort Philosophie durch Dekadenz ersetzen. Die Technik und die Naturwissenschaft ein Verhängnis. Ein Machwerk. Einzig das Gespräch im Philosophenhimmel auf Erden zwischen Heidegger, dessen Gedanken wir bisher folgen, und den großen griechischen Denkern bringen die Sache weiter. Die Sache, das nächste Stichwort. Die Sachen nämlich sind die Welt. Und mit ihr beginnt der Heideggersche Anfang. Endlich Schluss mit Platon und dem ganzen Unsinn. Zurück zum Grundthema der Philosophie: physis und ousia. Das wussten sie vor Platon eben noch. Vor Sokrates. Und damit ihr es wisst: Alle vor Ihm und nach Ihm und neben Ihm, nämlich Heidegger, sind Nichternstzunehmende.

Tatsächlich höre ich persönlich seit geraumer Zeit bei diversen philosophischen Sitzungen immer wieder „Ja ist das nicht beim späten Wittgenstein und bei Heidegger so und so.“ Es heißt in Wien schon lange: Wittgenstein und Heidegger und die Sprache wären die vollendete Lösung. Jedenfalls ereignete sich um 1900 ein anderer Anfang der Philosophie doch tatsächlich im bis dahin konsequent und hartnäckig nicht philosophierenden Wien. Einer von Wittgenstein, Ernst Mach und Ludwig Boltzmann geradezu vorsokratisch von Physik inspirierten Philosophie. Dem widerspricht Michael Benedikt, der in seiner Geschichte der österreichischen Philosophie (Verdrängter Humanismus – verzögerte Aufklärung. Österreichische Philosophie von 1400 bis zur Gegenwart. Ludwigsburg, Klausen-Klausenburg, Wien. 1992- 2000) Leibniz als den bedeutendsten österreichischen Philosophen nennt und auch Peter Kampits, der von Marc Aurel als dem ersten österreichischen Philosophen spricht. (Zwischen Schein und Wirklichkeit, Eine kleine Geschichte der österreichischen Philosophie, Wien 1984)  Schließlich lag Carnuntum ja immer schon in Österreich und auch Leibniz, war durch seinen kläglich gescheiterten Versuch eine Akademie der Wissenschaften in der Hauptstadt des Heiligen Römischen Reichs zu gründen, eindeutig ein Österreicher. Was ist den österreichischer bitt´ schön, als mit dem Versuch eine Akademie zu gründen, zu scheitern. Man könnte fast sagen, erst wenn man eine Akademie gründen will und damit scheitert, ist man ein echter Österreicher.

Man möge die historische Ursachenforschung aber nicht überspannen. Man möge den Vergleich der österreichischen Philosophie aus dem Geiste der Naturwissenschaften mit dem Denken der Vorsokratiker metaphorisch, oder sogar allegorisch nennen, selbst wenn genau an dieser Stelle die Mediziner Freud, Adler, Breuer et cetera, nicht unter den Tisch fallen.      
                                             
Die ewigen Sachen. Als das, worüber eine ahistorische Debatte zwischen allen Philosophen aller Epochen stattfinden kann, sind bei Aristoteles zehn an der Zahl. Um einige zu nennen. Die Welt, die Formprinzipien, die Himmelskörper, die Bewegung der Himmelskörper, die zwei Kreisbewegungen der Erde. Was für mich persönlich zur notwendigen Frage führt: dreht sich das Verfallenste aller verfallender Geschichte, der vergängliche Mensch, auch ständig nur um sich selbst, so wie die Erde um die eigene Achse? Denn im Streben unvergänglich zu sein, ist der Mensch wohl den beiden anderen sterblichen Sachen, den Tieren und den Pflanzen, überlegen.

Man sollte halt hin und wieder mal Jazzmusik hören und die Männer Vogue lesen. Hätte allen Anfängern sicher ganz gut getan.              

MATHIAS ILLIGEN