τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 2. November 2012

In der Metaphysik lesen (995b 5 – 995b 17)


Nachdem Aristoteles am Anfang von Buch III eindringlich empfohlen ja eingeschärft hat, dass die „gesuchte Wissenschaft“ – dies die erste bzw. nullte Bezeichnung für die Untersuchungsrichtung des Gesamtwerks (an der doch erkennbar festgehalten wird) – dass also die gesuchte Wissenschaft in Angriff zu nehmen ist, indem man ihre bereits vorliegenden bzw. überlieferten „Aporien“ (Unwegsamkeiten, Schwierigkeiten) sich vornimmt und durcharbeitet. Der Ausdruck „durcharbeiten“ scheint geeignet, um diese Art von „Arbeit“ näher zu bezeichnen. Ich übernehme ihn von Sigmund Freud, der damit eine entscheidende Phase in der „Arbeit“ des Kranken, des Analysierten meint: „Dieses Durcharbeiten der Widerstände mag in der Praxis zu einer beschwerlichen Aufgabe für den Analysierten ... werden.“

Wie wir gesehen haben, haben auch die von Aristoteles gemeinten „Aporien“ etwas von Blockaden, in welche sogar der Philosophierende selber verstrickt ist – auch wenn die Aporien in gewissem Sinn viel „objektiver“ ausgerichtet sind.

Die aristotelischen Aporien werden nun der Reihe nach genannt und es zeigt sich, dass sie die Form von sehr theoretischen Entweder-Oder-Fragen haben. Diese Fragen werden zunächst aneinander gereiht, ohne behandelt oder beantwortet zu werden. Sie werden aber nicht irgendwie aneinander gereiht, sondern logisch aneinander gekettet, nämlich so, dass die jeweils nächste Frage eine bestimmte Antwort auf die vorhergehende voraussetzt. So jedenfalls die ersten vier Fragen, womit die ersten drei Fragen also doch schon beantwortet werden – aber vielleicht nur „spontan“ und hypothetisch.

Die Aneinanderreihung der ersten vier „Aporien“ folgt also dem Schema:

1 oder 2? – 2.1 oder 2.2? – 2.1.1 oder 2.1.2? – 2.1.2.1 oder 2.1.2.2?

Sachlich geht es erstens für die Betrachtung der Ursachen um Einzahl oder Mehrzahl der zuständigen Wissenschaft(en). Zweitens um ontische oder logische Prinzipien. Drittens neuerlich  - aber mit spezifizierter Thematik - um Einzahl oder Mehrzahl der zuständigen Wissenschaft(en). Und viertens um egalitäre oder hierarchische Ordnung der Wissenschaften, wobei als Hierarchisierungskriterium die „Weisheit“ genannt wird, welche im Buch als erste Bezeichnung für die gesuchte Wissenschaft aufgetaucht war. Würde die vierte Frage in Richtung 2 beantwortet, käme eine hierarchische Stufung der Wissenschaften zustande: Wissenschaften, die zur Weisheit gehören, und andere. Das wäre die einfachere Form der Hierarchisierung, die impliziert, dass die Weisheit nicht so sehr eine Wissenschaft ist als vielmehr eine Gruppe von Wissenschaften. Eine innere Pluralisierung, die eigentlich der bisherigen Suche nach „der gesuchten Wissenschaft“ widerspricht.

Die nachfolgenden Fragen sind nicht so eng an die bisherigen geknüpft, aber vielleicht setzen sie doch die Fragerichtung von Aporie 4 fort: gibt es nur die wahrnehmbaren Wesen oder auch andere? Dass es die ersteren gibt, versteht sich von selbst, denn die gibt es für alle und allezeit und überall, wie wir sagen würden. Während die zweiteren, die „anderen“ wohl doch nur spezieller zugänglich und erfassbar, nämlich nicht-sinnlich, erscheinen. Aristoteles entscheidet sich anscheinend rasch dafür, dass es auch die anderen gibt, und bezieht seine nächste Frage anscheinend auf die anderen, aber doch sehr unklar, denn er bezieht sich auf solche (Theoretiker), welche den Formen und den Mathematika (vermutlich zwei Arten von Nicht-Sinnlichen) einen Platz anweisen, der zwischen den Sinnlichen und den, na was, wohl doch den Nicht-Sinnlichen liegt. Das ist doch reichlich konfus, eigentlich kontradiktorisch, jedenfalls aporetisch. Eine echte Aporie und nicht bloß eine Frage, eine aporetische These, die irgendwelchen Leuten unterschoben wird. Insofern haben wir es hier mit einer Fortsetzung von Buch I zu tun, aber eine Fortsetzung, die nicht formell als Theoriehistorie auftritt.


Walter Seitter


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