τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

* * *

Dienstag, 27. November 2012

Exkurs: Physik II, 1

Für die Sitzung vom 14. November, auf der Peter Berz vorgetragen hat, wird ein von Peter Berz gestaltetes Protokoll eingefügt, das auf Texte von Aristoteles, Martin Heidegger und Peter Berz zurückgeht.


- Aristoteles Physik II, 1

- Martin Heidegger "Vom Wesen und Begiff der Physis. Arisoteles, Physik B,1" in: ders., Wegmarken (Klostermann Seminar 12), Frankfurt a. M. 2004, S. 239 – 301.


Einleitende Vorbemerkungen:

Was mich an Aristoteles‘ Abhandlung und ihrer Kommentierung durch Heidegger im Jahre 1939 interessiert:

1.   phýsis und téchneh: ihre Differenzen, Divergenzen, Konvergenzen, ihre Herkünfte und Übersetzungen, ihr Wissen, ihre Praxis, ihre Seinsweisen scheinen mir eine der brisantesten Herausforderungen unserer Epoche und ihrem „biological turn“, der langsam alle Diskurse ergreift.

2.   Morphologien und Morphogenesen: Sie sind ein gegen Darwinismus und Genetik fundamental anderer Einsatz im Wissen von den Lebewesen. Jean Petitot-Corda in seinem Buch „La morphogenèse du sens“ (1985) hat diesen Einsatz im Horizont einer Geschichte des Strukturalismus gedacht. (Aber schon in Deleuzes Différence et répétition finden sich eine Fülle morphogenetischer Theoreme und morphogenetischen Wissens.)

3.   Von Roger Caillois‘ surrealistischer Biologie her gesehen, die mich seit langem immer wieder heimsucht: Da gibt es im Hintergrund eine neoaristotelische Biologie, von der Caillois wesentliche Teile seiner Biologie bezieht. Es handelt sich um das Werk eines Philosophieprofessors und Entomologen am Institut Catholique in Paris: Paul Vignon.

Mir ist klar und Walter Seitter schrieb es mir noch einmal: Sie sind mehr in der Poetik zu Hause und in der Meta-Philosophie. Aber auch die Frage nach der phýsis, die Physik B 1 aufwirft, mündet an einem Punkt in die Poetik (Kommentar Zekl):

1449a 15 (S. 15): „… die Tragödie machte viele Veränderungen durch, pollás metobolás metaballousa, aber als sie ihre Natur erreicht hatte, epei ésche tèhs autéhs phýsin – da hörten die Veränderungen auf“.

Gestatten Sie mir zuerst, vor unserer Lektüre in Martin Heideggers Wort-für-Wort-Übersetzung und –Kommentierung dieses Kapitels der Physik, einen kursorischen, nur strukturierenden, gliedernden Durchgang durch den Text des Aristoteles.


Das Protokoll zur Sitzung (14. 11.)

A. Physik B 1:

(Die Einteilung des Textes in Abschnitte H1 bis H19 folgt, nur zur besseren Orientierung zwischen dem aristotelischen und dem heideggerschen Text, der Heideggerschen Einteilung.

# : Kommentare. )


H1 und H2:

phýsei und dià állas aitías : ta mén – ta de
mit dieser Differenz beginnt Aristoteles den Gedanken. Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was phýsei ist und dem, was nicht phýsei ist. Es ist also beileibe nicht alles phýsei. Das ist schon ein wichtiger Ausgangspunkt!

Und dann zählt er alles auf, was phýsei ist: Tiere, die Teile von Tieren und die Pflanzen und dann Erde Feuer Wasser Luft.

# Als was wäre das anzusprechen? Als Kosmos? Aber der Himmel ouranos und sphaira etwa fehlen? Gehören sie nicht zur Natur, obwohl sie sich von sich aus bewegen?

H 3:

Dann die erste von drei Bestimmungen dessen, was physei besagt

(Grammatikalisch ist phýsei ist ja die blanke Dativ-Form, gegen den Akkusativ von dia allas aitias -):

en autoo archèhn échei kinéhseoos kai stáseoos, den Anfang in sich selbst haben, von

kínehsis, Bewegung, und

stásis, Ruhe,

beide entweder als katà ton tópon, nach dem Ort,

oder als Vermehrung, Schwinden, sich Verändern

auxeh, phthisis, alloíoosis.

# Das ist freilich das allgemeine Programm des Aristoteles: Bewegung als Ausgangspunkt der Physik.

Näherhin: Selbst-Bewegung als Kennzeichnung der Lebewesen.

Darum auch ist der Himmel ein Lebewesen: er bewegt sich selbst.

Das geht fort bis zu Hegel, dessen erste Bestimmung der Tiere ist: sie haben „zufällige Selbstbewegung“, Negation des Ortes (im Unterschied zu den Pflanzen).

Bei Aristoteles ist das aber in umfassenden Sinn gemeint, die Bewegung, auch Veränderung und Entwicklung, usw.

H 4:

Gegen die Dinge, die physei sind, stehen Dinge, die apo téchnehs sind und er nennt gleich zwei Fälle:

He klíneh, die Liege; kommt auch im Griechischen von klinéoo ich liege, also die Liege hat ihren Namen von ihrer Bestimmung her: zum Liegen zu sein;

und to hemátion: das große Überkleid, rund oder viereckig, von links bis unter die rechte Schulter untergeschlagen.

Sie beide sind génos und es eignet ihnen katehgorías, sie sind benennbar.

# Sind sie benennbar, weil sie apo technehs sind? Die Liege etwa, weil ihre Bestimmung in sie auch als Name eingeschrieben ist?

Dann kommt eine negative Bestimmung: Liege und Kleid haben NICHT das, was die Dinge haben, die phýsei, von Natur aus sind. Hier folgt der zweite Versuch einer Bestimmung von physei:

horméhn échei metaboléhs émphyton

sie haben den Anstoß der Veränderung eingepflanzt.

heh horméh: einen Feldzug in Bewegung setzen, Anlauf, Anstoß, auch: horméh daimoníeh: übermenschlicher Anstoß, auch Angriff, Aufbruch zu einer Reise.

# FRAGE: Gibt es für horméh auch andere aristotelische Kontexte?

émphyton: einpflanzen, auch von den Göttern eingepflanzte Sehergabe, mantikéh.

# Hier schon wird physis auf phýoo bezogen, auf das Wachsen, auf die Pflanzen.

Metabolehs: Er setzt also zwei Begriffe: kínehsis und metaboléh an den Anfang.

Aber die apò téchnehs entstandenen Dinge:

Weil sie symbebekos, beiherspielend aus Stein oder Erde oder einer Mischung beider sind - darum sind sie tosouton ?

# Das verstehe ich gar nicht.

H 5:

Dem folgt  die dritte Version einer Bestimmung:

das Wesen, ousia, von physeoos archeh und aitia von Veränderung ist das, in dem der Anfang und die Ursache der Veränderung archéh hypárchei próotoos kath auto ist und nicht beiherspielend.

# archéh hypárchei: eine seltsame Verdopplung des Anfangs …

H 6:

Dann die Arzt-Geschichte, um das zu erklären (sie taucht dann zum Schluß nocheinmal zentral auf und ein drittes Mal einmal implizit):

Es kommt vor, daß ein Arzt sich selbst heilt. Aristoteles Arzt-Sohn.

Aber er ist Arzt, besitzt die Arztkunst, tèhn iatrikéhn échei.

Später wird die Rede sein von technikos – physikos wie hier von iatrikos, iatrikeh techne.

Er besitzt also diese Kunst nicht insofern er gesundet, kathò hygiázetai. Sondern nur beiherspielend symbebekós ist das Arztsein und das Gesunden zusammen. (Kommentator Meiner H. G. Zekl nennt das: autoreflexiv. Ich weiß nicht ... )

# symbebekos als Zufall und äußerlich … !?

# Historisch interessant wäre da etwa die Geschichte der Regenerations-Fähigkeit von Organismen als Hintergrund. Das ist schon für Kant wichtig. Später auch für Uexküll: eine „übermaschinelle Fähigkeit“. Selbstheilungskräfte.

H 7:

ABER: Was hergestellt ist, hekáston toon poiouménoon - in einer Berührung also von poiesis und techneh - hat einen andern Charakter: Es hat archeh nicht in sich, sondern in zwei Varianten:

1. Variante: die archeh der poiesis liegt

in einem anderen und außerhalb (nicht in sich also), griechisch: en állois kaì éxoothen

Fälle: Haus und Hand-Werks-Gegenstände, cheirokméhta.

2. Variante: Es hat archeh in sich, aber nicht kath autá, sondern beiherspielend – wie, das sagt er nicht explizit, beim Arzt, der sich selbst heilt.

# Andere Beispiele?

H 8:

Dann ein Neuansatz:

Etwas ist phýsis und etwas hat phýsis – eine wichtige zweifache Formulierung! - wenn es solchen Anfang hat, wie er gerade dreifach umspielt wurde, also in:

1. en autò archéhn échei kinéhseoos kai stáseoos
2. horméhn échei metaboléhs émphyton
3. hypárchei próotoos kath auto Anfang und Ursache von Bewegung und Ruhe.

Dann kommt ein rätselhafter Satz:

kaì éstin pánta taûta ousía ,

Alle die sind das „Wesen“. Ein Plural ist ein Singular.

(Ousia kommt im Plural nur vor, wenn ousia Vermögen heisst oder Barvermögen ousia aphanehs.)

Dann Einführung eines neuen Wortes: die physis ist das zugrunde Liegende, hypokeiménon.

Das macht er an einer wichtigen Konkretisierung klar: Am Feuer, also einem Element und nicht „Naturding“.

Am Feuer ist es natürlich, katà physin, daß es nach oben steigt.
Aber das heisst NICHT: daß das Feuer
physis ist, physis einai
physis hat, physin echei

# Es gibt also eine zentrale Differenz:

kata physin und physei

versus

physis einai und physin echein.

Es scheint mir, dass genau hier die physis als Pflanze und Tier ins Spiel kommt, im Unterschied zu den anderen Termen Aufzählung am Anfang: Feuer Wasser Erde Luft.

Es gäbe jetzt also eine zweifache Differenz:

Physei versus apo technehs vom Anfang und

Physei/kata physin versus physis einai, physin echein
H 9

Es ist offensichtlich, daß éstin heh physis, das es vieles gibt, was so ist.

H 10

„Für manche“ ist ... : jetzt kommen die Lehrmeinungen.

Die erste ist von dem Sophisten, Eleaten Antiphon:

Für ihn ist physis und physei das, was noch arrhýthmiston ist:

also das Holz der Liege, das Erz des Standbilds

# arrhýthmiston: Darüber könnte man vieles sagen - Rhythmus als Gestalt.

Jüngst hat Janina Wellmanns großartiges Buch: „Die Form des Werdens“ die Vorstellung des Rhythmus in der Entwicklungsbiologie vom 18. bis ins frühe 19. Jahrhundert analysiert.

Dann das schlagende Beispiel (das auch noch einmal vorkommt):
Die Liege fault auf dem Abfall. Aus der Fäulnis kann schon ein Sproß kommen, blastón. Aber dieser Spross wird nie und nimmer eine Liege, sondern allenfalls Holz.

# NB: blastón in der Biologie weite Verbreitung : in der Blastula etwa, frühe Stadien der Zellteilung: Blastula (Gastrula), in holoblastischer, meroblastischer Furchung, in Trophoblast, Blastozyte (nach der Morula), Embryoblast, usw.

Denn die Liege ist

katà ton nómon diáthesis kaì tèhn téchnehn

# Interessant hier: Wie nómos und téchne der gleichen Ordnung angehören!

Dann der Gedanke: Was sich durchhält, zusammenhält, synechôos das ist das Wesen

Erz und Gold: Wasser

Knochen und Holz: Erde

H 11:

An dieser Stelle die Lehrmeinungen der Vorsokratiker:

Feuer Erde Luft Wasser : DAS ist die phýsis, alles das ist die phýsis.

Was also jeder der Vorsokratiker von dem annimmt :

> ist dann heh hapása ousía : das ganze Sein

## ousía und phýsis

> alles andere ist patheh, hexis, diáthesis

> das erste ist ewig, das zweite entsteht und vergeht apeirákis, unendlich: komische Form im Griechischen !

[ Hier Verweis auf Empedokles, 187a 12, Kap 4 (S. 18 f.):

Empedokles denkt nicht Bestand, eine Entstehung, die nur einmal stattfindet, wie Anaxagoras, sondern er denkt einen Umlauf: periódon.

DAS hat Primavesi ausgebaut zu einem ganzen neuen empedokleischen System.

Und, so Aristoteles: Empedokles denkt nicht unendlich viele Stoffe und Gegensätze, sondern (jetzt wird’s kittlerianisch):

tà kalóumena stoicheîa, die sogenannten Elemente. Das denkt er als phýsis.

... die stoicheia.

Primavesi hat in Karlsruhe dargestellt, daß das Wort stoicheion bei Empedokles nie vorkommt, es ist ein jüngeres Kunstwort, was vielleicht noch Aristoteles‘ Zusatz ta kalóumena zeigt.]

H 12:

Jetzt erst kommt das Kernstück der Überlegung – und das ist auch der Einsatz Heideggers, mit Aristoteles etwas vor eidos und hyleh zu suchen (bei Heidegger ab Seite 273):

Die Vorsokratiker und Antiphon denken, so Aristoteles, physis nur als hyleh.

NUR als hyleh !

ABER es gibt eine andere Art, einen anderen trópos, die physis zu denken:

heh morphèh kaì tò eîdos tò katà tòn lógon.

Darauf läuft alles zu und jetzt wird’s zum ersten Mal konkret.

H 13:

Die erste aristotelische Konkretheit ist, wie immer, die Sprache: eine Sprachetüde über

techneh : to kata technehn kai to technikon.

physis : to kata physin kai to physikon.

Ein Parallelismus.

Technikos: kunstgemäß, kunstmässig.

Dann der Gedanke:

a) nur was aussieht wie eine Liege, eîdos klinèhs, ist eine Liege, als techneh:.

Nicht das, was der Möglichkeit nach, dynamei, eine Liege ist, ist eine Liege, die Technik einer Liege (dynamei und physei: die gleiche Form!)

DAS unterscheidet noch NICHT physis und techne. Da sind sie noch ganz zusammen.

b) Denn: nur wenn Fleisch und Knochen aussehen wie solche:

to eidos to kata ton logon haben

nur dann sind sie physis.

Kata ton logon: denn erst dann können wir sie auch abgrenzen in der Sprache und als solche ansprechen, als Fleisch und Knochen !

H 14:

So wäre also in diesem Sinn und überraschenderweise die physis der Dinge, die den Anfang in sich haben, gleich wie in den technischen Dingen, nämlich:

heh morphéh kaì tò eîdos

Zu trennen sind sie vom Ding nur in Worten: kata ton logon – ganz wie in den technischen Dingen.

H 15:

Aber dieses: DAS ist MEHR physis als die bloße hyleh!

Also grade deswegen, weil er die Technik in die physis einführt, sie mit ihr engführt, eben darum ist seine physis MEHR als NUR hyleh als physis!

Nur wenn es in Entelechie da ist – dann ist es mehr da als bloß dynámei.

H 16:

Jetzt also schön systematisch:

Was ist, wenn eidos und morpheh nicht von außen kommen, sondern innerer Anstoß sind.

Und jetzt ohne Übergang, etwas erratisch, Bruch im Text, im Duktus:

Es wird Mensch aus Mensch, aber nicht Liege aus Liege. Anspielung also auf Antiphon.

Das ist jetzt der zweite große Sprung: Eintritt in die Sphäre der Lebewesen!

H 16a:

Dann nochmal ein Umweg zu Antiphon – Argument von der Liege und dem Holz …

Wenn DAS physis: dann wird Holz aus Holz und nicht Liege aus Liege

Also: Dasselbe wird aus Demselben. Hier aber führt sich eine neue Dimension ein:

Génoit und gígnetai.

Das heißt aus diesem Gedanken des Desselben: phýsis ist morpheh.

H 17:

Jetzt der entscheidende Absatz: der Absatz über das Wachsen.

Das heißt, im Sinne des Vorherigen:

Wo die physis als *gen*, als génesis begriffen wird:

heh physis legoumeneh hoos génesis

da folgt der entscheidende Satz:

phýsis : hódos éstin eîs phýsin .

Die physis ist der Weg zur physis.

In diesem Sinn wird noch einmal der Arzt aufgerufen: Heilen geht nicht auf die Heilkunst zu, ist nicht ein Weg zur Heilkunst, sondern Heilen kommt von der Heilkunst her und geht auf die Gesundheit zu.

Dagegen die physis:

Was wächst, das wächst AUS etwas heraus und

kommt, geht in etwas hinein dadurch, daß es wächst

Es ist kein „aus etwas“, sondern ein „in etwas hinein“.

Tí oûn phýetai? Ouchì ex hoû, all’ eis hó.

Was wächst also? Nicht aus etwas, sondern in etwas hinein.

 H 18:

Dem folgt das kurze Resumée in einem Satz:

heh ára morphéh phýsis.

Erstes Resumée:

Die Frage ist, wie man von diesem, die morpheh so sehr ins Zentrum rückenden Denken der physis weitergehen könnte?

Man könnte versuchsweise direkt in das morphologische, morphogenetische Denken des 20. Jahrhunderts springen – etwa zu dem russischen Biologen Aleksandr Gavrilovic Gurvic, dem Erfinder der legendären „morphogenetischen Feldtheorie“. Gurvic denkt die Morphogenese mit einem hohen theoretischen Anspruch.




                                                                                 


Das morphogenetische Feld
(Vortragsauszug)


       Von den seienden Dingen, sagt die Physik des Aristoteles, sind die einen von Natur aus da, physei. Das sind die Tiere und ihre Teile und die Pflanzen und die „einfachen Körper“ dazu: Erde Feuer Luft und Wasser. Wir heute müßten hinzufügen: und die Pilze, die Protisten alias Protozoa und die Bakterien. Alle diese Wesen seien, so Aristoteles, dadurch bestimmt, daß sie den Anfang von Bewegung und Stabilisierung, von kinesis und stasis, in sich selbst haben. Veränderung oder Verwandlung ist ihnen eingepflanzt, emphyton. Anders dagegen die Liege oder das Kleid: sie haben den „Anstoß von Veränderung“ nicht in sich. Denn sie sind nicht physei, sondern apo téchnes. Aristoteles geht dann die Rede von der physis und alle ihre möglichen Formen durch: physis, physei, kata physin, physis sein, physis haben, to physikon sein oder pro ten physin.

Eine besondere Rede von der physis (nämlich die des Sophisten Antiphon) besage, daß es auch an den Dingen apo téchnes, also der Liege und dem Kleid physis gebe. Die physis der Liege sei das Holz, to xýlon. Und das darum, weil das Holz als Holz arrýthmiston ist, ohne Rhythmus, „ohne Verfassung“ (Heidegger). Beweis: Wenn man eine Liege in den Boden eingräbt und sie verrottet und in der Verrottung ein Keim, blastós, hervorbräche, dann entstünde daraus immer nur Holz, aber keine Liege. Dem Holz komme die Bestimmung, Liege zu werden, eben nur nebenbei zu und zwar nach Maßgabe gesetzmäßiger Anordnung und Technik, kata nómon diáthesin kai ten technen.

Dieser Rede, nach der die physis der „zugrundeliegende Stoff“, hypokeiméne hýle ist (wobei hyle selbst noch bei Homer nichts anders heißt als Holz) setzt Aristoteles eine andere entgegen. Eines nämlich gelte für die Dinge gemäß einer Technik und für die Dinge gemäß der physis gleichermaßen: Was nicht aussieht wie eine Liege, nicht den eidos einer Liege hat, sondern nur irgendwann mal eine Liege werden könnte, das ist eben keine Liege. Genau so können wir die Dinge, die von Natur aus sind, etwa Fleisch oder Knochen, nur als solche ansprechen, kata ton logon, wenn sie den eidos und – hier führt Aristoteles ein neues Wort ein - die morphé von Fleisch und Knochen haben, he morphe kai to eidos to kata ton lógon. Morphe und eidos to kata ton logon nun seien mehr physis, stärker physis als der Stoff, die hyle. Die Dinge, die den Anfang ihrer Bewegung aus sich haben, haben damit ihre morphé aus sich. Gerade darin besteht jetzt ihre physis. Aristoteles: „Ein Mensch entsteht aus einem Menschen, nicht aber eine Liege aus einer Liege.“

Begreift man die physis aus einer solchen Entstehung oder genesis der morphé dann ist die physis nichts anderes als ein Weg zur physis, hodos eis physin, nämlich ein Weg zur, modern gesprochen, physis als entwickelter morphé. Diese physis gilt nicht nur für Tiere, sondern auch für die Rede selbst. Als man, so die Poetik, in die Satyrspiele die Rede, lexis, eingeführt habe, hätte die „physis selbst, aute he physis, das dieser Rede eingeborene Metron gefunden“, nämlich den jambischen Trimeter.[1] In der Physik mündet Aristoteles' Nachdenken über die physis schließlich in ihre Etymologie, die ja in phyein, wachsen beschlossen liegt. Aristoteles: „Was wächst, geht von etwas her auf etwas zu, insofern es wächst. Was also wächst? Nicht von her, sondern zu hin.“ Und das gipfelt in dem Satz: „So also ist morphe physis.“, he ara morphe physis.

Martin Heidegger wird 1939 in Aristoteles' Gedankengang von der techne zur physis, von der physis zur morphe und von der morphe zur genesis – und zurück - die Möglichkeit aufblitzen sehen, für einen Moment den Anfang der abendländischen Philosophie zu berühren. Und „in diesem Anfang wird das Sein als physis gedacht ... “.[2] (Geschichtlich tritt dieser Moment von 1939 genau dann auf, als Heidegger die planetarischen Züge der Technik sichtbar werden: im „großen eiligen historischen Gestürze auf Rußland“.)

Ein Jahrzehnt früher, im gleichen Jahr als Heidegger in seiner Vorlesung über die „Grundbegriffe der Metaphysik“ eine wissensgeschichtliche Diagnose der zeitgenössischen Biologie liefert und dann am Begriff des Organismus zum ersten Mal von der handwerklichen Technik zur Maschinentechnik weiterdenkt, um schließlich bei der Welt eines konkreten Lebewesens zu landen: der Welt der Biene - diagnostiziert auch ein russischer Biologie, Aleksandr Gavrilovitsch Gurvic, die philosophische Lage seiner Wissenschaft.

Nach den „Histologischen Grundlagen der Biologie“, dem Summun Opus von zwanzig Jahren morphogenetischer Forschung, stehe die Biologie erstens unter dem Primat eines „anatomischen Bedürfnisses“ und zweitens unter dem der Physiologie. In beidem folge die „Naturbetrachtung“ (so Gurvics Wort) einem technischen Modell. Man zerlegt den Organismus, weil man es mit den „von menschlicher Hand geschaffenen Mechanismen“ so macht. Denn Physiologie heißt, die Lebewesen unter dem „Begriff der 'Funktion'“ zu untersuchen. Organe werden durch ihre „Abläufe“ oder „Verrichtungen“ beschrieben. Der Organismus als ganzer ist eine im Begriff seiner Funktionen aufgehende Maschine. Ein Kleinigkeit allerdings werde dabei, so Gurvic, „einfach übersehen“: „das eigentliche 'Sein' des Gebildes“. Es „fällt mit anderen Worten aus dem Rahmen der Betrachtung heraus.“[3] Im „bloßen Sein eines lebenden Systems“ aber liege das tiefste Problem der Biologie, das alle funktionale Betrachtung „im Schatten läßt oder lassen sollte“.[4]

Dieses Sein sei nur „dem eigentlich morphologischen Standpunkt“ nicht fremd: jede „Form ist eine Naturgegebenheit“.

Die Seinsfrage nach der morphé oder Form formuliert sich 1930 in anderen Konkretionen als bei Aristoteles. Sofort fragt sich: makroskopische oder mikroskopische Formenkunde? Die makroskopische leidet darunter, daß auch sie die Einheiten, deren Form sie beschreibt, letztlich funktionell definiert: ein Schädelknochen oder der Fühler eines Nachtfalters haben die und die Form. Die mikroskopische Formenkunde dagegen leidet darunter, daß je weiter sie, so Gurvics Worte, „in das Gebiet der kleinen Dimensionen“ vordringt, das, was da sichtbar ist und sich unaufhörlich verändert, nur sehr willkürlich als geschlossene Gebilde adressieren kann, sowohl räumlich wie zeitlich. Heißt: „Das morphologisch Elementare ist mithin auf morphologischem Wege gar nicht identifizierbar.“[5]  Der morphologische Standpunkt könne darum nur der sein, nicht von Formen auszugehen, sondern von „Formwandel“ und sich verändenden Formen. Alles, was das Mikroskop zeigt, muß „als Geschehnis aufgefaßt () werden“. Nur so sei zur „eigentlichen Realität“ einer morphogenetischen Wissenschaft vorzustoßen, das ist: „stabile und labile räumliche Konstellationen respektive ausbalanzierte und nichtausbalanzierte Stoffwandlungen“.[6]

Die Seinsfrage aber nach der Morphe, die Aleksandr Gurvics Theorie der Morphogenese in den zwei Jahrzehnten von 1910 bis 1930 entwickelt und durch die ich im folgenden einen kleinen Durchgang versuchen möchte, ist eine Frage nach dem Wissen von der Morphe. Genauer gesagt: wie alle morphogenetische Forschung seit d'Arcy Thompsons großem Werk über „Form and Growth“ eine Frage nach den Grenzen dreier Wissensformen: der Biologie und der Physik und der Mathematik. Antworten auf diese Frage scheinen mir, bescheiden gesagt, Wetten auf die Zukunft.

[A.1 Element]

Für das morpogenetische Denken des Aleksandr Gurvic gibt es zwei wissensgeschichtliche Voraussetzungen. Erstens die lange Geschichte des „Elementaren“ in der Biologie. Zweitens den epistemischen Raum des Ungefähren, der Abweichung, des Wahrscheinlichen, wie er sich um den Ersten Weltkrieg herum etabliert.

Das Elementare, dessen Geschichte seit Friedrich Kittler von den lateinisch: elementa, griechisch: stoicheia her lesbar geworden ist, also von den Buchstaben, wie sie im griechischen Vokalalphabet System werden: dieses Elementare ist im abendländischen Wissen nicht gleichmäßig verteilt. In Physik und Chemie von den antiken und modernen Atomen bis zu Mendeljews Periodensystem der Elemente hat es einen definierten Ort. Im Wissen von den Lebewesen ist es ständig und prinzipiell prekär.


Lektüren von Lektüren. Heideggers Aristoteles von 1939

Vorbemerkungen

1.     Zunächst geht es in Heideggers Kommentar um eine Übersetzung. Darum, im Übersetzen zu denken. Und die Geschichte der Philosophie als eine der Übersetzungen zu entfalten. Neu übersetzen heißt für Heidegger: eine neue Sprache erfinden. Nicht neue Begriffe setzen, sondern eine neue Sprache und Sprechweise. (Siehe das Ende von „Der Weg zur Sprache“.)

2.     Die Lage für eine Lektüre von Übersetzung und Kommentar ist also: Kommentar eines Kommentars. Eine Art Experimental-Anordnung. (Auch in der Psychoanalyse wären ja manchmal die Kommentare ebenso interessant wie der Urtext: also Ferenczi oder Lacan etwa.)

3.     Weil es um ein historisches Übersetzen geht, ist Heideggers Philosophie eine Sprachphilosophie und zwar eine „historische Sprachphilosophie“. Anders also als Wittgenstein oder die analytische Philosophie Sprachphilosophien sind.

4.     Die Grundfigur, die Heidegger an Aristoteles‘ Text heranbringt, ist: das „Vor“. Die Einsätze dieser Figur würde ich gerne durch Heideggers Text hindurch verfolgen. Was heißt hier „Vor“?

5.     Was er 1939, nicht vor, sondern zeitgleich (in „Echtzeit“) mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, zu denken versucht, ist: Der Rohstoff. Wo fängt das an? Als hyle? Mit der Natur als Rohstoff? Wie steht Aristoteles in dieser Geschichte? – Im Kontext von Band 69 der Gesamtausgabe: „Die Geschichte des Seyns“, der Notizen aus den Jahren 1938 bis 1940 enthält. In Abschnitt 106 mit dem Titel „Die einheitliche Zerreibung des Deutschtums und des Russentums durch die Machenschaft“ steht etwa zu lesen: „Ein großes, eiliges historisches Gestürze auf Rußland, ein grenzenloses betriebsames Ausbeuten der Roh-stoffe für die Feinheiten der ‚Maschine‘.“ (Kursivierungen im Text).

6.     Nach vorwärts und weiter gedacht: als Kraft-Stoff (Benjamin Steiningers Arbeiten über den Kraftstoff); oder als Stoff-Wechsel, Metabolismus (s. Heidegger: S. 298). Eine Wissensgeschichte des Stofflichen.

7.     Die in der „Einführung in die Metaphysik“ (S. 10 f.) supponierte etymologische Näherung von *pha* und *phy* , also von Erscheinen und Wachsen, Erscheinen auf Aufgehen (einer Rose etwa), wäre auch – in einer zukünftigen Perspektive - als Gegentheorie zur modernen Biologie des *gen* denkbar: Morphogenesen des Phänotyps.


                                                                                 

[1]      1449a, p 19.

[2]      Wegmarken: 300.

[3]      1930: 1.

[4]      Ebd.: 2

[5]      1930: 3.

[6]      Alles: 1930 1 bis 4.


….

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