τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Montag, 4. Juni 2012

In der Metaphysik lesen (993b 12 – 23)


Der erste Satz von Buch II schien mir nicht recht verständlich, weil er den Eindruck erweckt, Gegenstand der gesuchten neuen (?) Wissenschaft sei die Wahrheit. Nun kann man zwar auch über die Wahrheit als solche Betrachtungen anstellen und sogenannte Wahrheitstheorien aufstellen, wie das im 20. Jahrhundert auch geschehen ist: Korrespondenztheorie, Konsenstheorie, Kohärenztheorie. Aber als Gegenstand einer Wissenschaft, die mehr sein soll als Logik, ist sie nicht gut denkbar. Die Behauptungen hingegen, mit denen Aristoteles jenen Vorschlag zu begründen scheint, sind durchaus plausibel und banal. Wobei er dann auch gewissermaßen Korrespondenzen zwischen verschiedenen menschlichen Erkenntnisniveaus und verschiedenen Gegenstandsniveaus (unter Einbeziehung einer Analogie aus dem Tierreich) behauptet.
Er setzt zu einem Kommentar über seinen historischen Vorläufer-Bericht an, indem er den schwächeren dieser Vorläufer (ohne Namensnennung) eine gewisse Notwendigkeit bescheinigt, sofern sie in bestimmten Genealogien bestimmte Ursachen-Rollen gespielt haben. Dazu eine Analogie aus dem Bereich der Dichter, wo ein vielleicht weniger bedeutender Lyriker durch einen seiner Schüler in eine wichtige historische Rolle geraten ist.
Und dann eine ausdrückliche Bestätigung des Anfangssatzes: es sei richtig, die Philosopie (das ist nun keine neue Benennung) „Wissenschaft der Wahrheit“ zu nennen. Aber schon im nächsten Satz eine Klarstellung, die alles in die – aristotelische (um nicht zu sagen arendtsche) – Ordnung bringt: das Ziel der theoretischen Wissenschaft sei die Wahrheit, das der praktischen das Werk. Theoretische Wissenschaften gibt es drei: Physik, Mathematik, Erste Philosophie. Und für alle drei gilt diese Zielbestimmung. „Ziel“ impliziert Tätigkeit, auch die theoretischen Wissenschaften sind Tätigkeiten und was sie anstreben sind wahre Aussagen – sonst nichts. Das heißt nicht, daß die Wahrheit ihr Gegenstand ist. Gegenstand der Physik sind die veränderlichen Seienden, Gegenstand der Mathematik sind unveränderliche Formen oder Gesetze, Gegenstand der Ersten Philosophie unveränderliche Seiende. Die andere Bestimmung: Ziel der praktischen Wissenschaft sei das Werk, taugt als Kontrastprogramm, ist jedoch eine ungenaue Zusammenziehung der poietischen mit den praktischen Wissenschaften. Die praktischen Wissenschaften – Ethik, Ökonomik, Politik – haben als Ziel oder sagen wir Anliegen das Handeln, welches sich selber genügt; ihre Gegenstände sind das faktische Verhalten von Menschen in kleineren oder größeren Zusamenhängen; hingegen haben die poietischen Wissenschaften zum Ziel die Werke, die sich aus verschiedenen Herstellungstätigkeiten ergeben.
So läßt sich „Wahrheit als Gegenstand der neuen Wissenschaft“ zurecht- oder vielmehr wegrücken (obwohl der Engländer diese irreführende Auffassung bekräftigt). Als Wissenschaftler schauen die praktischen Wissenschaftler, wie sich etwas verhält (Ethiker als Ethologen), sie betrachten aber nicht das Ewige, sondern das Bezügliche und das Jetzt. Also zwei Akzidenzien – was immerhin dem Grundsatz widerspricht, es gebe keine Wissenschaft von den Akzidenzien. Allerdings die Wissenschaft von der Ursache machen sie nicht, denn es geht ihnen nicht um das Wahre. Es geht ihnen um das Gutsein, das als Möglichkeit in den Verhaltensweisen liegt. Bei alledem machen sie doch Aussagen, die wahr sein sollen.  

Walter Seitter


Die nächste Sitzung findet am 13. Juni statt! Wer will geht anschließend zur Präsentation von "Reaktionäre Romanik" in der Akademie der Bildenden Künste. 


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