τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Samstag, 28. Januar 2012

In der Metaphysik lesen (PS "Wahrheit")


Nachdem das Protokoll der letzten Woche auf die Stelle 988a 20 Bezug genommen hat, wo Aristoteles Theoriegeschichte resümierend von denen spricht, „die über die Prinzipien und die Wahrheit geredet haben“, beschäftigen wir uns noch einmal mit der Frage, was es mit der Und-Verbindung zwischen „Prinzipien“ und „Wahrheit“ auf sich haben könnte. Wir gehen davon aus, daß „Prinzipien“ hier als Sammelbegriff für Prinzipien und Ursachen gebraucht wird, und diese Untersuchungsrichtung war ja nun tatsächlich die bisher historisch referierte. Das Bindewort „und“ verbindet in der Regel nicht-identische Glieder, d. h. die Wahrheit ist nicht eines der „Prinzipien“ sondern etwas anderes. Aber was? Wir schauen in Wörterbüchern zur antiken und zur aristotelischen Philosophie nach und sehen, daß Aristoteles „Wahrheit“ hauptsächlich als Aussagewahrheit versteht – worin er mit heutigen nüchternen Philosophen, vor allem den sogenannten analytischen, übereinstimmt: Wahrheit als eine mögliche – und erwünschte – Eigenschaft von Aussagen, sogenannte logische (oder epistemologische) Wahrheit. Allerdings spricht wenig dafür, daß in unserer Stelle dieser Wahrheitsbegriff eingesetzt wird, denn der würde von den „Prinzipien“ allzuweit entfernt erscheinen. Die früheren Theoretiker mögen zwar auch epistemologische Gedanken geäußert haben, aber hier sind sie doch so eingeführt worden, daß sie sich über „Gegenständliches“ geäußert haben: über die Prinzipien der Natur, der Welt, der Dinge, der Seienden. Daher sollte auch die Wahrheit etwas auf dieser „Seite“ sein, aber doch wiederum kein Prinzip, keine Ursache.

Nun hat der Begriff der Wahrheit bei Aristoteles auch eine andere Schlagseite, eine die man ontologisch oder ontisch oder sonstwie „gegenständlich“ nennen kann: das „Wahre“ als Zusatzbestimmung des Seienden, sofern von ihm wahre Aussagen gemacht werden (können): Met. V 1017a 31ff. In diesem Sinn spricht man von einem „wahren“ Menschen Sokrates – nicht etwa in einem überschwenglichen Sinn, sondern in dem banalen Sinn, daß die Aussage, Sokrates ist ein Mensch, wahr ist. Die früheren Theoretiker hätten sich also nicht nur über die Ursachen der Dinge geäußert – sondern auch über diese selber, über ihr Wahrsein, womit aber nichts anderes gemeint sein kann als ihr Eigensein. Nicht nur über die Ursachen der Sachen sondern über diese selber, über die Sachlichkeit der Sachen.
Welche Aussagen genau Aristoteles damit den früheren Theoretikern zuschreibt, ist nicht leicht zu erkennen. Jedenfalls gehen sie aus seinem bisherigen Bericht kaum hervor, der doch nur von Ursachen- und Prinzipienfeststellungen spricht. Meine These geht nun dahin, daß Aristoteles mit der Untersuchungsrichtung zur „Wahrheit“ hin auf einen Richtungswechsel in seiner eigenen Untersuchung vordeutet, den es tatsächlich geben wird, und zwar im Buch IV der sogenannten Metaphysik: „Es gibt eine Wissenschaft, die das Seiende als Seiendes betrachtet sowie die Bestimmungen, die diesem an ihm selber zukommen.“ (1003a 20)

Nicht Ursprünge sondern Eigentlichkeit wird hier zum Thema, was einerseits mit der Als-Verdoppelung des Partizip Präsens von „sein“, andererseits mit dem Partizip Präsens von „hyparchein“, einem Ersatzwort für „sein“ mitsamt dativischer Zuordnung zum „selben“ und gleichzeitig mit einer bestimmten Streuung ins Pluralische sehr ausdrücklich und ausführlich formuliert wird. Kann dieses Abrücken von der Ursachenforschung hin zum Insistieren auf Selbigkeit wirklich mit dem Begriff „Wahrheit“ angekündigt werden? Die Frage ist nicht leicht zu entscheiden, auf jeden Fall müßte mit „Wahrheit“ hier die sogenannte ont(olog)ische gemeint sein, die aber ihrerseits nur eine Art Reflex oder Abkömmling der logischen Wahrheit ist.
Die Vermutung, daß mit „Wahrheit“ hier die Selbigkeit des Seienden, nicht das Fortschreiten zu den Ursachen, sondern die Hineindrehung ins Eigene des Seienden gemeint ist, stützt sich auf die von Aristoteles zunächst gewählte (und dann öfter wiederholte) Als-Verdoppelung. Denn die leistet nichts anderes als eine nicht-verbale, eine nicht propositionale, eine rein nominale Transformation einer Aussage zu einem bloßen Nominalausdruck. Die Als-Verdoppelung resümiert eine Aussage, die allein Träger von Wahrheit im formellen Sinn sein kann. Deswegen kündigt Aristoteles seine zweite Untersuchungsrichtung mit „Wahrheit“ an, nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, mit Einheit oder Selbigkeit (obwohl die dann auch gleich dazukommt). Die Aussage, welche durch die Als-Verdoppelung ersetzt wird, lautet „Das Seiende ist das Seiende“ oder „Das Seiende ist“: zweifellos wahre, da tautologische, Aussagen. Zur Bezeichnung des Gegenstandes einer Untersuchung taugt die Als-Verdoppelung wohl besser als eine tautologische Aussage: sie legt der Untersuchung nahe, sich in den Gegenstand hineinzuverbohren und in seinem Inneren die „wesentlichen“, die „notwendigen“ Aspekte, Merkmale ausfindig zu machen, die ihn zu einem Seienden machen. Diese „innere“ Pluralisierung oder analytische Streuung hat Aristoteles selber an die Als-Verdoppelung angefügt.
Für die Drehung in die Immanenz erscheint der von Aristoteles zunächst gewählte Disziplin-Titel „Weisheit“ kaum geeignet; noch weniger jedoch der Titel „Metaphysik“, der bekanntlich von Aristoteles überhaupt nicht verwendet worden ist. Viel besser scheint der Titel „Ontologie“ zu passen, der auch nicht von Aristoteles stammt, sondern erst im 16. Jahrhundert erfunden worden ist. Er baut ja das Partizip Präsens in sich selber ein.

Mit diesen kurzen Ausführungen möchte ich meine Vermutung zur Einführung des Begriffs „Wahrheit“ in 988a 20 abschließen. Ihre Plausibilität läßt sich ohnehin erst nach weiterem Vorrücken in der Lektüre beurteilen.

Allerdings möchte ich auf eine Parallelaktion eingehen, die sich in weiter Entfernung von Aristoteles und seiner Philosophie beobachten läßt und zwar an vielen griechisch-orthodoxen Kirchen, die – zumeist in Mosaik – Christus-Büsten zeigen. Der Nimbus um das Haupt Christi ist in drei Zonen unterteilt, die links, oben und rechts platziert sind. In jeder Zone ein kleiner Buchstabe – nämlich ο | ϖ | ν. Die drei weit auseinander und auf gewölbter Linie angeordneten Buchstaben können zusammengelesen werden als zwei Wörter mit der Bedeutung „der Seiende“.[1] Das aristotelische Seiende ist auf diese Weise personalisiert, maskulinisiert. Und dieser Nominalausdruck transformiert ins Nominale, sozusagen ins Griechisch-Philosophische, einen richigen Satz, eine Ich-Aussage, die ihre Wahrheit man könnte sagen durch tautologische Verdoppelung rechtfertig oder erschleicht: es ist der Satz, den Moses aus dem Brennenden Dornbusch vernahm, dann aufschrieb und so der Welt kundtat: „Ich bin, der ich bin“ (Ex. 3,14). Dieser Satz, der mit der tautologischen Verdoppelung operiert, in der ersten Person ausgesprochen, ist in die griechische Kirchensprache, die griechische Kirchenschrift „übersetzt“ worden, die ihrerseits von der Philosophensprache geprägt ist: eine nominale Partizipialkonstruktion, die auf eine „dritte Person“ gemünzt ist – allerdings auf die „zweite Person“ der Trinität, die im Alten Testament mit der „ersten Person“, dem Schöpfer- und Vatergott, grundgelegt worden war.

In Wien kann man den so beschrifteten Christus-Nimbus, kann man diese Inskription in den Christus-Nimbus an der Griechisch-Orthodoxen Kirche in der Griechengasse sehen. Ebenso über dem Portal einer Kirche im Zentrum Thessalonikis, wo darunter die Inschrift angebracht ist, welche übersetzt besagt: „Das Land der Lebenden“ (Ps. 27,13 et passim). Auch in dieser Formel, die aber schon im Alten Testament so heißt, dominiert das Partizip Präsens; sie könnte in einen vollständigen Satz so übersetzt werden: sie alle oder wir alle, wir leben. Im Griechischen evoziert der Ausdruck wohl auch den Genitiv Plural von το ζωον – also einem aristotelischen Hauptwort.

Walter Seitter


[1] In größeren Mosaiken, z. B. Dreifaltigkeitsdarstellungen, kommen dazu noch weitere Gottesnamen wie der Adonaï, der Sabaoth usw.

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