τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 27. Dezember 2012

Lebende Münze Geld kaputt (brut-Protokoll)

Zum Thementag Thementag WACHSTUM am 15. Dezember 2012 im Wiener brut gab Elisabeth von Samsonow die Lecture / Performance Geld Kaputt/Geohör Pracht Echo.
 
Gemeinsam mit ihr auf der Bühne waren Madonna, Orpheus, Baubo und Momus, keine bloßen Instrumente, wie Samsonow versicherte, sondern – quasi-göttliche – Figuren oder „Persönlichkeiten, Gewachsene, Erwachsene“ aus Lindenholz, die geduldig darauf warteten, dass sich die Rednerin zwischenzeitlich vom Pult weg und auf sie zu, ja in sie hineinbewegt, um sie zum Erklingen zu bringen. Die vier Skulpturen wurden einzeln abgenommen und elektrisch verstärkt, sodass selbst feinste Streichel- oder Klopfbewegungen als Sound vernehmbar wurden; zudem sind sie mit je vier Saiten bespannt, die mal gezupft und mal gestrichen wurden. Diese vielseitige Nutzung der einzigartigen Klangkörper versetzte das Publikum in eine besondere Stimmung und das Gesagte traf auf offene Ohren. 

Ausgangspunkt ist ein Konflikt zwischen Geld und Leben. Das eine werde gegen das andere ausgespielt, wie bei einem Raubüberfall muss man sich entscheiden: „Geld oder Leben!?“ Dieser Konflikt basiert auf dem Anspruch auf eine Leistung, um deren Zuschreibung die beiden konkurrieren, eben Wachstum.
Samsonow erinnert an das blanke Entsetzen mittelalterlicher Antizinsaktivisten, das diese bei der bloßen Vorstellung von sich selbst vermehrendem Geld ergriff; man befürchtete, alles Wirkliche würde von der Scheinwelt verschluckt werden. Jedem Kind sei damals einsichtig gewesen, dass nur was lebt, wachsen oder sich vermehren könne. Heute hingegen hätten sich die Verhältnisse umgekehrt und neues Leben, vor allem auch die Kinder selbst, erscheinen zunächst als Kosten oder Unkosten, jedenfalls als etwas das man sich kaum mehr leisten kann. 
Wenn heute von Wachstum die Rede ist, denkt man vor allem an Wirtschaft und kaum mehr an das was wirklich wächst. Dies sei das „perfekte Verbrechen“ – die schenkende Natur ist dem Geld ins Netz gegangen. Die „Gesellschaft der Freunde des Verbrechens“ hätte die Oberhand gewonnen und die eigentlich produktiven Faktoren seien entwertet, besonders die Figur des Mädchens. Dieses wird einzig in seiner Opferrolle wahrgenommen, als industrielle Sklavin missbraucht, ohne dabei zu bedenken, dass gerade sie das Wachstum verkörpert. Zum einen da sie selber noch im Wachsen ist, zum anderen auch, insofern das Mädchen exklusiv im Besitz der Produktionsmittel sei – und von daher immer auch schon Mutter ist, zumindest potentiell. Um diese Tatsache wieder zu ihrem Recht kommen zu lassen, empfiehlt Samsonow die Installierung einer symbolischen Ordnung der Mutter oder, allgemeiner, eine symbolische Ordnung der Körpers.  
Momentan verließen wir uns zu sehr auf die Zeichen: in der Theorie kann man sich einzig darauf einigen, dass das Bezeichnende (die Signifikanten) Bedeutung und somit einen Wert haben; das Bezeichnete bleibt dabei auf der Strecke, dem (theoretischen) Zugriff entzogen. Dementsprechend vertraut man praktisch nur mehr auf die Wirkmächtigkeit des Geldes, alles andere, zum Beispiel eben auch „Leben“, ist allenfalls zweitrangig. 
Aber als bloßem Zeichen fehlt dem Geld die Deckung, denn der eigentliche Wert kann nur im Bezeichneten liegen. Über die genauen Ursprünge des Geldes wird man sich wohl nicht so schnell einigen können (obwohl die Geschichte mit dem Opfer sehr plausibel erscheint), aber klar ist jedenfalls, dass das Geld seit jeher für irgendetwas anderes gestanden ist, da es für sich genommen nicht imstande ist, Wert zu verkörpern. Das Geld war indirekt „Zeichen an der Erde“, ein Pfand für Boden, Gold oder was auch immer.


In diesem Sinne kann auch Klossowskis „Lebendes Geld“ verstanden werden: es geht um die Zusammenführung von Geld mit Menschenkörpern, wobei letztere als Garant für den Wert selbst einstehen sollen: entweder indem sie das gängige Geld überhaupt obsolet machen und man somit direkt in Männern oder Frauen bezahlt werden würde, oder, in der schwächeren Variante, als neuer, besserer, weil nicht nur phantasmatischer, Goldstandard. Dieses Szenario sollte man sich besser im fourieristischen Geiste vorstellen: nur so kann man der Verrücktheit Klossowskis gerecht werden. In der bloßen Verlängerung der vorherrschenden Tendenzen wäre das Lebende Geld dazu verdammt verbraucht zu werden, aber das Lebende Geld kann als solches nur infolge einer Umwertung enstehen, nach welcher der Wert des Menschen über dem des Geldes steht.  

Ivo Gurschler

Samstag, 15. Dezember 2012

In der Metaphysik lesen (996a 5ff.)


Nachtrag zum Berliner Protokoll

Mit Peter Berz komme ich auf meinen Wiener Vortrag zu La monnaie vivante zu sprechen und erwähne, daß ich Klossowskis Weglass-Operation als „Beschneidung“ oder „Zirkumzision“ bezeichne. Und nicht mit dem modischen psychoanalytischen brutalen Begriff „Kastration“; es gibt viele Arten von Schneiden, Zuschneiden, Wegschneiden ... In der Filmproduktion ist das Schnittwesen eine wesentliche Produktionsphase. Oder man denke an die wichtige Funktion „Ausschneiden“ im Word-Programm, mit dem dieses hier geschrieben wird.

Am Dienstag im Deutschen Historischen Museum eine riesige Informationen-Aufstellung zur Geschichte Deutschlands vom Jahre 0 bis zum Jahre jetzt. Die wenigen Jahre der DDR sind natürlich inkludiert, die vielen Jahrhunderte Österreichs ebenso. Aus dem Jahr 1594 stammt die Deutschland-Karte von Mercator. Die heute als „Hallein“ bekannte salzburgische Stadt heißt dort „Hellel“ – abgesehen vom ersten e entspricht das der seinerzeitigen Aussprache (die ich in der Nachkriegszeit noch gehört habe). Mit dem Filmemacher Manfred Hulverscheidt besuche ich das Tieranatomische Theater aus dem Jahre 1794. Dieser palladianische Zentral- und Kuppelbau, auch „Zootomie“ genannt, diente der Präsentierung von frisch geschlachteten Tieren, hauptsächlich Pferden, auf einem großen runden Tisch, der aus dem Untergeschoß in den Hörsaal hinaufgehoben wurde. Luxus für die Wissenschaft. Anatomie: Aufschneidung, Auseinanderschneidung, Auseinanderfaltung. Anschließend noch ein Treffen mit Christian Bertram im Literaturhaus. Nächtlicher Flug nach Wien.

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Zu den letzten Protokollen, die sich von Aristoteles etwas entfernen und den Spannungsbogen zwischen Heidegger und dem Wien des frühen 20. Jahrhunderts thematisieren.

Die große Philosophie-Verweigerung Österreichs, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts konsequent durchgehalten worden ist, dürfte ihren Hauptgrund darin haben, daß in Österreich die intellektuelle Energie hauptsächlich in Richtung Kunst geleitet worden ist: Theater, Musik, Oper. Daneben gab es immer wieder Perioden mit funktionierender Naturwissenschaft, die aber nie zu einer stabilen Wissenschaftskultur führten. Das Fach Philosophie mußte aus traditionellen Gründen unterrichtet werden, was die Jesuiten so besorgten, daß die Philosophie als „reine Philosophie“ den Status leeren Geredes innehatte. Eine Änderung trat zunächst in der Mitte des 18. Jahrhunderts ein: Einführung der Medizin außerhalb der Universität: von da an war Wien eine Hauptstadt dieser Disziplin – mit der Psychologie als Anhängsel. Erst im 19. Jahrhundert berief man angesehene Philosophieprofessoren aus Deutschland, zuletzt Franz Brentano (1838-1917) (in Wien bis 1895) (seine Richtung konnte sich mit Alexius Meinong (1853-1920) in Graz besser halten).

Der große Umschwung wurde dadurch eingeleitet, daß Österreich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts den Anschluß an die internationale Wissenschaftskultur, und zwar in allen Disziplinen, fand, womit der Grund für eine bodenständige Genese von Philosophie bereitet wurde. Die hatte zwar auch dann noch mit Schwierigkeiten zu kämpfen – doch auch diese gehörten zum Milieu eines sozusagen „ersten Philosophie-Anfangs“ – der immer nur aus Wissenschaftskultur hervorgehen kann. Siehe Physik als „Grundbuch“ der abendländischen Philosophie.

Diese Bemerkungen eröffnen nicht nur einen „Sprung“ von Aristoteles zum Schicksal der Philosophie in Österreich, also bei uns, also zu uns, denn es geht ja darum, daß wir selber, hier und jetzt philosophieren. Was allerdings ohne Umsicht auf die Geschichte der Philosophie (und Nicht-Philosophie) nicht möglich erscheint und da ist jetzt endlich auch die Dimension der Geographie der Philosophie einzuziehen. Wozu wir keine neuen Lehrstuhlbezeichnungen wie „Europäische Philosophie“ und „Interkulturelle Philosophie“ brauchen. Die Geographie beginnt mit kleinen topographischen Differenzierungen wie: zwischen Universität Wien und Universität für angewandte Kunst, zwischen Wien und Linz, zwischen Österreich und Deutschland usw.

Philosophiegeschichtlich ist das Gefälle zwischen Deutschland und Österreich (das politisch bis 1866 zu Deutschland gehört hat) enorm – deswegen hat Heidegger das zeitgenössische Österreich überhaupt nicht wahrgenommen. Der Abstand wirkt bis heute nach. So bekommt der Wiener Philosoph Wolfgang Pircher zu seinem 65. Geburtstag eine Festschrift, die in einem deutschen Verlag erscheint und von deren drei Herausgebern zwei Deutsche sind. Der Abstand kann also auch überbrückt werden. So weit so gut.

Die Gründung des „Arbeitskreises österreichische Philosophie“ können wir dann im nächsten Jahr erörtern, das den etwas widerspenstigen, also passenden Namen „2013“ trägt.

Jetzt zurück zur Aristoteles-Lektüre. Die 11. Aporie bekommt einen immanenten Superlativ zugesprochen, sie ist nämlich die aporetischste: ob nämlich das Eine und das Seiende nicht Unterschiedenes sind (so Platon und die Pythagoräer), daß sie vielmehr das Wesen der Seienden sind – oder ob das Substrat der Dinge etwas anderes ist: Liebe/Freundschaft (so Empedokles) oder Feuer, Wasser, Luft (wie jemand anderer meint)?

Den Anfang dieses Fragesatzes haben wir unrichtigerweise als eigene Frage aufgefaßt und als solche diskutiert; das war gegenüber dem griechischen Text eine etwas zu fleißige Fleißaufgabe – was aber nicht schadet, weil es ja darum geht, daß wir selber denken, auch wenn der gelesene Autor es nicht unbedingt verlangt. Hier werden also das Eine und das Seiende als selbig vorausgesetzt und die Frage geht dahin, ob dieses sehr formalistische Selbe in den Rang einer ontologischen Ursache, hier Wesenheit, der Seienden, also wohl aller Seienden, zu setzen ist. Oder ob eine andere Ontologie vorzuziehen ist, wonach qualitative oder stoffliche Größen als Substrat anzusetzen sind, und zwar als Substrat aller Dinge. Diese Alternative erscheint doch einigermaßen verständlich, behandelt wird sie erst später. Warum aber gilt sie als die schwierigste und aporetischste?

WALTER SEITTER

 

Freitag, 14. Dezember 2012

Berliner Protokoll (WS)


Mein jüngster Berlin-Aufenthalt sollte nicht ungeschrieben und unkommentiert in die Vergangenheit entschwinden. Daher hier ein paar tagebuchartige Bemerkungen.

Donnerstag, 6. Dezember

Um 9 Uhr früh Ankunft in Berlin. Schnee und Schneetreiben. Sofort ins Literaturhaus in der Fasanenstraße, einen der schönsten Orte in Berlin, den ich vor allem vom sommerlichen Garten her kenne. Heute Ausblick in den verschneiten Garten, mit etwas Sonnenschein. Gespräch mit Christian Bertram und Horst Ebener über La monnaie vivante, vor allem das seinerzeitige Zustandekommen des Buches, die Anteile von Pierre Klossowski und Pierre Zucca. Erholung vom Frühflug, bis 14 Uhr.

Ausstellung „Schinkel: Geschichte und Poesie“ im Kupferstichkabinett (neben der heiß umkämpften Gemäldegalerie). Karl Friedrich Schinkel (1781-1841), ein „Gesamtkünstler“, der mit seinem überwiegend klassizistischen (aber auch romantischen und „nationalen“) Profil wesentlich zum modernen Preußen beigetragen hat, in einer Zeit, in der sich Österreich kulturell eher zurückgehalten hat. Immerhin war seine Entdeckerlust so groß, daß er auch unsere Gegenden aufgesucht hat: 1803 Fußmarsch nach Schöngrabern und Wien (dann weiter bis Süditalien); 1811 nachgeholte Hochzeitsreise nach Salzburg und Berchtesgaden. Sein Philhellenismus gipfelte in einem Entwurf für einen gigantischen, ja megalomanischen Königspalast auf der Athener Akropolis, der dort oben das gesamte Gelände zwischen den Tempeln mit Palast und Gärten ausgefüllt und den Anblick von unten stark verändert hätte. Wie ist dieser – nicht ausgeführte - Entwurf einzuschätzen? Soweit wir wissen, war die Akropolis in „klassischer“ Zeit nur Tempelbezirk (allerdings von hohen Festungsmauern umgeben). Irgendwann in vorklassischer Zeit muß aber auch diese Akropolis vornehmlich Palast und Festung getragen haben. Insofern hätte Schinkels Entwurf eine archäologische Berechtigung gehabt, aber .... Den Königspalast hat dann der Münchener Leo Klenze (1784-1864) herunten in der Stadt gebaut: heute Parlamentsgebäude und Zielpunkt der griechischen Klagen und Anklagen, Demonstrationen und Ausschreitungen.

Abends zur Großveranstaltung „Bonds: Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten“ im Haus der Kulturen der Welt. Gespräch über Korruption, gegen die alle sind und die munter fortlebt. Aber was ist Korruption?

Später Abend Abendessen in der Paris Bar, die ich aus den Siebziger- und Achtzigerjahren, also aus Jacob-Taubes-Zeiten kenne. Dort meine elementare Typologie der Wirtschaftsformen: Mutterwirtschaft und Marktwirtschaft. In der ersten gibt A den b, c, d das, was diese brauchen. In der zweiten geben und nehmen A, B, C usw. voneinander und miteinander. Die zwei Typen („Idealtypen“ im Sinne von Max Weber) unterscheiden sich radikal voneinander – und zwar nicht kontradiktorisch sondern konträr. Folglich kann es auch verschiedene Mischtypen geben. Etwas Logik schadet nicht beim Reden über die Realität. Vermutlich „muß“ es beide Typen geben und man muß nicht den einen im Namen des andern verteufeln.

Freitag, 7. Dezember

Mit Horst Ebner besuche ich die Ausstellung „Mythos Olympia. Kult und Spiele“. Eine gigantische und sozusagen vollständige Ausstellung – auch für jemanden wie mich, der vor zweieinhalb Jahren zwei Wochen lang in Olympia war und „alles“ gesehen hat. Wiederum das merkwürdige Phänomen, daß das regelmäßige Stattfinden von „Frauenspielen“ zwar erwähnt, aber in keinster Weise näher geschildert wird. Die tatsächlichen Verhältnisse scheinen also einigermaßen symmetrisch (zwischen den Geschlechtern) gewesen sein, aber die Verkündigung, das Prestige war recht einseitig verteilt.

Am Nachmittag auf der Schulden-Konferenz ein vierstündiger „Staffellauf“ mit 15 Theoretikern (jeweils in der Doppelrolle von Interviewer und Interviewtem). Am Abend eine dramatische Aufführung nach einem Theorie-Buch: Die Ökonomie von Gut und Böse (München 2012) von dem Ökonomie-Professor Tomáš Sedláček. Seine Methodik: ökonomische Bücher religiös lesen, religiöse Bücher ökonomisch lesen.

Samstag, 8. Dezember

Vormittag ein kleiner Bataille-Workshop. Ich treffe Rita Bischof, der ich meinen Wiener Vortrag über La monnaie vivante zugeleitet hatte. Zu den dort wiedergegebenen Passagen aus Klossowskis Nachlaß sagt sie: das Beste, was Klossowski geschrieben hat. Auf der Schulden-Konferenz Lesung von Aris Fioretos aus seinem neuen Roman Halbe Sonne. Eine Auseinandersetzung zwischen Sohn und Vater mit dem scherzhaften Hauptbegriff „Repaparatur“, d. h. Vater-Reparatur. Vielleicht eine Alternative zu „Ödipus“ (Vatermord) – aber auch zu „Anti-Ödipus“ (und dessen Aggressivität). Anschließend Vortrag von Sigrid Weigel, die der 68-er Generation (zu der auch sie gerade noch gehört) einen moralischen Reinheits-Totalitarismus vorhält. Daraufhin Diskussion zwischen ihr und Fioretos – auch über die deutsch-griechischen Schuld(en)-Schiebungen. Ich melde mich zu Wort und skizziere eine Diagnose der griechischen Situation: in Griechenland vor dreißig Jahren mit Brüsseler Hilfe Stillegung einer funktionierenden altmodischen Wirtschaft (mit Rosinen-, Tabakfabriken ...), Bau von Autobahnen, Import von Luxuslimousinen. Was dazu führt, daß in Griechenland (wo seinerzeit die abendländische Begriffskultur erfunden worden ist) die soziologischen Begriffe „postindustrielle Gesellschaft“, „Konsumgesellschaft“ in voller Reinheit verwirklicht sind (was sich zunächst recht gut angefühlt hat). Fioretos zu mir: ich teile Ihre Analyse.

Am Abend Vortrag von Marcel Hénaff: „Kosmische, symbolische und finanzielle Schulden“. Drei Stadien: Antike mit prekärer Balance, Neuzeit mit Grenzenlosigkeit, Moderne mit Thermodynamik, d. h. irreversibler Entropie. Ich: wir leben immer noch in der „Antike“: es gibt auch die Kräfte der Negentropie, die Differenz, Information steigern, z. B. animalisches Wachstum, kulturelle Leistungen. Jedenfalls „bei uns“ hängt es von uns ab, ob diese Kräfte immer wieder erstarken. Hénaff gibt mir grundsätzlich recht. Zum Abendessen suchen wir zunächst ein Lokal auf, in dem ein echter Klossowski hängt. Folgeerscheinung: es gibt dort nur ein Menü; der Preis steht kleingedruckt ganz unten .... Wir wechseln in die „Trattoria Maria“ mit herrlicher Pizza. Funktionierende Marktwirtschaft. Weder Mutter- noch Vater-Zwang.

Ich habe auf der Schulden-Konferenz keineswegs alle Veranstaltungen, Vorträge usw. besucht, kann also kein Gesamturteil abgeben, will das auch gar nicht. Stattdessen meine Formulierung für die vermutete Wurzel der Krise (die sich keineswegs auf Griechenland beschränkt). Die Wurzel heißt „Zuviel Geld“ (was leider auch zur Folge hat, daß es manchenorts  zu wenig Geld gibt). Die Formel „Zuviel Geld“ paßt auch zur Entropie-Dominanz. Denn zuviel von einer Realitätssorte oder Qualität (ob Geld, Wasser, Wärme ...) bedeutet automatisch eine Differenz-Schwächung. In Delphi war auch die Inschrift „Nichts zuviel!“ angebracht. Die Mißachtung dieses Gebots steigert die Entropie. Im übrigen scheint mir die Empfehlung „Abschaffung des Geldes“ keineswegs eine Lösung zu versprechen (sie würde wohl zu zuviel Gefühl und dergleichen führen).

Sonntag, 9. Dezember

Den ganzen Tag heftiges Schneetreiben. Neues Museum: Echnaton und Nofretete und Sonne: neue (oder erste?) Dreifaltigkeit, bald abgeschafft. Alte Nationalgalerie: schon wieder Schinkel: auch Gotiker, Romantiker, Maler ... Ephraim-Palais: Johannes Grützke: ein Berliner Kraft-Maler.

Montag, 10. Dezember

Im Merve Verlag Gespräch mit Tom Lamberty: Klossowski-Edition mittelgroß oder ganz groß? Akzidentien oder Akzidenzien? In der Villa Einstein Treffen mit Peter Berz, der vor kurzem in Linz einen Vortrag hielt, in dem er seine Aristoteles-Heidegger-Lektüre in Richtung „Sachen“ und Naturwissenschaften vorantrieb. Inzwischen hat er auch unsere letzten Protokolle gelesen und freut sich über die Konvergenz der Denkbewegungen. Wobei er in seine Philosophie der Biologie auch Helmuth Plessner einbezieht, vor allem dessen einschlägiges Hauptwerk, die 1928 erschienenen Stufen des Organischen und der Mensch. Wir sprechen darüber, daß dieses Buch zunächst im Schatten eines Scheler-Plagiat-Vorwurfs stand; viel wichtiger aber die Tatsache, daß es auf Dauer in den Schatten von Heideggers Sein und Zeit geraten ist. Auch Peter Berz meint, daß man heute Heidegger mit Plessner parallel-lesen muß, um Heidegger aus dem Raunen herauszubringen und „jetzig“ lesen zu können. Das ist auch die Richtung, die mit dem Wien des frühen 20. Jahrhunderts angezeigt ist.

Wieder im Literaturhaus, wo Claudia Schmölders einen Literaturtreff organisiert. Ich habe sie im September auf der Tagung der Plessner-Gesellschaft in Wiesbaden näher kennengelernt, wo wir beide versucht haben, den Plessnerianern die Sache mit dem Griechentum näherzubringen.

WALTER SEITTER


Donnerstag, 6. Dezember 2012

Die Anfänger (996a)


Das ganze Dilemma der Philosophie beginnt an ihrem Anfang. Denn die Philosophie ist eine Verfallsgeschichte, die kurz nach ihrer Entstehung einsetzt. Der Absturz beginnt mit der Idee des Guten. Erreicht eine ungeahnte Tiefe in der Scholastik, wo von Substanz gesprochen wird. Descartes palavert vom Subjekt, was die Dekadenz nur noch steigert. Dekadenz, das Stichwort der PhilosophInnen. Man könnte folgerichtig überhaupt das Wort Philosophie durch Dekadenz ersetzen. Die Technik und die Naturwissenschaft ein Verhängnis. Ein Machwerk. Einzig das Gespräch im Philosophenhimmel auf Erden zwischen Heidegger, dessen Gedanken wir bisher folgen, und den großen griechischen Denkern bringen die Sache weiter. Die Sache, das nächste Stichwort. Die Sachen nämlich sind die Welt. Und mit ihr beginnt der Heideggersche Anfang. Endlich Schluss mit Platon und dem ganzen Unsinn. Zurück zum Grundthema der Philosophie: physis und ousia. Das wussten sie vor Platon eben noch. Vor Sokrates. Und damit ihr es wisst: Alle vor Ihm und nach Ihm und neben Ihm, nämlich Heidegger, sind Nichternstzunehmende.

Tatsächlich höre ich persönlich seit geraumer Zeit bei diversen philosophischen Sitzungen immer wieder „Ja ist das nicht beim späten Wittgenstein und bei Heidegger so und so.“ Es heißt in Wien schon lange: Wittgenstein und Heidegger und die Sprache wären die vollendete Lösung. Jedenfalls ereignete sich um 1900 ein anderer Anfang der Philosophie doch tatsächlich im bis dahin konsequent und hartnäckig nicht philosophierenden Wien. Einer von Wittgenstein, Ernst Mach und Ludwig Boltzmann geradezu vorsokratisch von Physik inspirierten Philosophie. Dem widerspricht Michael Benedikt, der in seiner Geschichte der österreichischen Philosophie (Verdrängter Humanismus – verzögerte Aufklärung. Österreichische Philosophie von 1400 bis zur Gegenwart. Ludwigsburg, Klausen-Klausenburg, Wien. 1992- 2000) Leibniz als den bedeutendsten österreichischen Philosophen nennt und auch Peter Kampits, der von Marc Aurel als dem ersten österreichischen Philosophen spricht. (Zwischen Schein und Wirklichkeit, Eine kleine Geschichte der österreichischen Philosophie, Wien 1984)  Schließlich lag Carnuntum ja immer schon in Österreich und auch Leibniz, war durch seinen kläglich gescheiterten Versuch eine Akademie der Wissenschaften in der Hauptstadt des Heiligen Römischen Reichs zu gründen, eindeutig ein Österreicher. Was ist den österreichischer bitt´ schön, als mit dem Versuch eine Akademie zu gründen, zu scheitern. Man könnte fast sagen, erst wenn man eine Akademie gründen will und damit scheitert, ist man ein echter Österreicher.

Man möge die historische Ursachenforschung aber nicht überspannen. Man möge den Vergleich der österreichischen Philosophie aus dem Geiste der Naturwissenschaften mit dem Denken der Vorsokratiker metaphorisch, oder sogar allegorisch nennen, selbst wenn genau an dieser Stelle die Mediziner Freud, Adler, Breuer et cetera, nicht unter den Tisch fallen.      
                                             
Die ewigen Sachen. Als das, worüber eine ahistorische Debatte zwischen allen Philosophen aller Epochen stattfinden kann, sind bei Aristoteles zehn an der Zahl. Um einige zu nennen. Die Welt, die Formprinzipien, die Himmelskörper, die Bewegung der Himmelskörper, die zwei Kreisbewegungen der Erde. Was für mich persönlich zur notwendigen Frage führt: dreht sich das Verfallenste aller verfallender Geschichte, der vergängliche Mensch, auch ständig nur um sich selbst, so wie die Erde um die eigene Achse? Denn im Streben unvergänglich zu sein, ist der Mensch wohl den beiden anderen sterblichen Sachen, den Tieren und den Pflanzen, überlegen.

Man sollte halt hin und wieder mal Jazzmusik hören und die Männer Vogue lesen. Hätte allen Anfängern sicher ganz gut getan.              

MATHIAS ILLIGEN

 

Freitag, 30. November 2012

In der Metaphysik lesen (995b 32 – 996a 4) III


Protokoll Teil 3

Wir sind immer noch bei der Nennung – der bloßen Nennung und nicht etwa Durcharbeitung – der „Aporien“. Diejenige, die als achte gezählt wird, wird immerhin superlativisch hervorgehoben: am meisten sei zu untersuchen, ob es neben dem Stoff noch etwas Ursächliches an sich gebe oder nicht .... und wieder wird daran eine kleine Kette von differenzierenden Fragen angehängt. Wir können assoziieren, daß mit dieser Frage der Punkt aufgegriffen wird, der in Physik II,1 im Vordergrund stand, dort aber unter dem Leitbegriff physis – und mit der Antwort: ja eidos, morphe .... Hier beantworten wir – aristotelisch – die Frage pluralistisch mit Hinweis auf Formursache und Bewegursache und Zweckursache (im Falle von Tisch liegt die beim Zweck also Gebrauch des Tisches und personalisiert sich beim Besteller, Käufer, Konsumenten, Gebraucher, Besitzer). Aporie 9: Sind die Prinzipien (also ein anderer Leitbegriff) in Zahl und Art begrenzt, und zwar sowohl die in den Begriffen und die im Substrat? Schon wieder diese Zweiteilung: für Formursache stehen die „Begriffe“; das bestätigt eigentlich meine Annahme, daß logos auf einer Ebene neben eidos und morphe steht. Aber warum im Plural? Kann eine Sache mehrere logoi haben – etwa Gattung und Art? Aporie 10: Haben die vergänglichen und die unvergänglichen Dinge dieselben oder je andere Prinzipien? Damit diese Frage für uns überhaupt nachvollziehbar wird,  müssen wir uns vergegenwärtigen, welche Dinge nach Aristoteles unvergänglich sind. Unvergänglich, ungeworden, ewig sind: der gesamte Kosmos, auch der sublunare; innerhalb der sublunaren Welt jedoch nur der nous poietikos, der für die menschliche Erkenntnis notwendig ist (umstritten ist, ob er für jeden Menschen extra, also individuell, existiert); unvergänglich sind, obwohl sinnlich wahrnehmbar, die Himmelskörper; ebenso die Kreisbewegung der Himmelskörper; ferner die immateriellen Beweger der Himmelskörper, insbesondere der erste Beweger; außerdem die Formprinzipien der sublunaren Körper (Pflanzen, Tiere); ebenso die mathematischen Objekte und Wahrheiten, die ebenfalls keine selbständig existierenden Substanzen sind.


Walter Seitter


Donnerstag, 29. November 2012

In der Metaphysik lesen (995b 32 – 996a 4) I - II


Protokoll Teil 1

Zunächst greifen wir einige Punkte aus der letzten Sitzung auf. In seinem Kommentar zu Physik II 1 schreibt Heidegger – mit gesperrten Buchstaben - einen längeren Satz, der die aristotelische Physik zum „Grundbuch“ der abendländischen Philosophie ernennt. Ein erstaunlicher Satz, erstens weil er sich auf Aristoteles bezieht, der nun ganz gewiß nicht zu den „ersten“ Philosophen (im zeitlichen Sinn) zählt. „Erste“ Philosophen sind eher Parmenides oder Platon bzw. vor diesem Sokrates, vielleicht noch andere. Aristoteles ist der typische zweite (oder dritte) Philosoph. Aber wenn ein Buch von ihm in die Rolle des „Grundbuches“ gelangt ist und zwar in den auf ihn folgenden Jahrhunderten oder Jahrtausenden, dann möchte man eher die Metaphysik nennen, die allein schon durch diese ihre postaristotelische Benennung in so einen Ruf gekommen ist.

Allerdings war die „Metaphysik“ als Bezeichnung für die höchste Disziplin innerhalb der Philosopie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schon in einen gewissen Verruf gekommen: als unsichere Angelegenheit, als ewiges Herumstreiten oder gar als Hort für Dunkelmännerei. Heidegger selber hat in einigen frühen Schriften versucht, aus dieser unsicheren Sache noch einige Funken zu schlagen. Tatsächlich zog er den neueren Begriff „Ontologie“ vor, dem er mit dem Ausdruck „Fundamentalontologie“ eine noch elementarere Bedeutung zu verleihen versuchte.

In die Richtung einer Tieferlegung, einer Vertiefung, bewegt sich auch der Satz über die Physik. Dem kann man zunächst einen banalen Sinn abgewinnen, wenn man meint, Aristoteles habe vor der Metaphysik die Vorlesung über die Physik gehalten und die Metaphysik beziehe sich ständig auf die „Physik“: ihre Geschichte, ihre Ergebnisse, ihre Fragen. Im aristotelischen Sinn ist seine Physik eine „Ursache“ seiner Metaphysik. Und die Analogie zu „Objektsprache“ und „Metasprache“ geht genau in diese Richtung.

Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war ja eine große Epoche der Physik. In Österreich konnte die Philosophie überhaupt zum ersten Mal im 20. Jahrhundert Fuß fassen – „eingeführt“ wurde sie bei uns durch die Physik. Ernst Mach, Ludwig Boltzmann, Ludwig Wittgenstein, Wiener Kreis (Einheitswissenschaft), Fritz Heider, Karl Popper haben die Sache je auf ihre Weise vorangetrieben. Österreich war der Ort – im Unterschied zu Deutschland, Frankreich und so weiter, wo die Philosophie tatsächlich „jetzt“ angefangen hat. Heideggers Sehnsucht nach einem „anderen Anfang“ (nämlich nach dem griechischen und nach den Traditionen im Mittelalter und so weiter und gegen sie) ging hier in Erfüllung. 800 km neben Heidegger, der das allerdings gar nicht so mitgekriegt hat, weil er sich ständig in den griechischen Anfang sowie in die folgenden Traditionen verbiß. Gleichwohl folgt der Satz von Martin Heidegger – erstaunlicherweise – diesem Paradigma, das man mehr oder weniger zurecht als „Positivismus“ bezeichnet. Der Satz von Heidegger ist verdammt (pardon!) „positivistisch“.

Es bleibt aber nicht nur bei diesem Satz – der ja nur so ein Reden über .... ist. Sein tatsächliches Philosophieren, könnte man sagen, besteht im Übersetzen, Neu-Übersetzen einiger griechischer Philosophie-Wörter: Physis, Phänomen, Logos, Vernunft, Wesen. Er übersetzt sie, indem er ihre Etymologie, ihre Grundbedeutungen aufsucht und in die deutschen Wörter faßt und da kommen dann lauter physische, materielle, naturhafte oder handwerkliche Phänomene oder Vorgänge zur Sprache. Das ist seine Philosophie: Rückgang aufs Materielle. Nicht Materialismus, sondern Materialistik: linguistische, kosmologische, technologische.


Protokoll Teil 2
  
In Phys. II 193a 31 wird nach dem Stoff die zweite Version von physis benannt mit der Formel „die Gestalt und das Ansehen gemäß dem Begriff“. Drei Substantive werden aufgeboten, um diese physis zu definieren. Warum drei, wie verhalten sie sich bedeutungsmäßig zueinander? Syntaktisch sind Gestalt und Ansehen gleichrangig; Begriff hingegen untergeordnet, wenn man die Präpositionalkonstruktion so auffaßt. Inhaltlich könnte mit „gemäß“ sogar eine Überordnung gemeint sein: also der Begriff als Maß. Waren nicht doch die Wörter wie „Tisch“ oder „Tugend“ die Katalysatoren für die Entdeckung des artgemäßen oder gattungsgemäßen „Allgemeinen“ – bei Sokrates, Platon? Oder nähern wir uns mit so einer Vermutung dem Nominalismus, der das Allgemeine nur als von den Wörtern erzeugte Illusion auffaßt? Oder war der Katalysator das eidos, von Platon idea, genannt, die Ansicht, der Anblick, das Modell, das Urbild. Platon doch ein Augenmensch? Und die morphe? Leider kenne ich die Etymologie des Wortes nicht. Aber ich „sehe“, ich „höre“ in diesem Wort die festkörperliche, harte, statuenhafte oder auch geschmeidige Pflanzen- oder Tiergestalt, die berührbare ...

Die bildhafte Ansicht, der taktile Körper: für Aristoteles sind eidos und morphe inhaltlich kaum unterscheidbar: vor allem sind sie  beide nicht „abgetrennt“ sondern „konkret“ mit dem Ding verwachsen, im Ding. Anders steht es mit dem Wort: vielen Dingen stehen ihre Bezeichnungen getrennt gegenüber, ja bei uns wird ein bestimmtes Ding so bezeichnet und ein gleichartiges, ja identisches in Frankreich ganz anders. Also „topisch“ unterscheidet sich logos sehr wohl von eidos und morphe.

Obwohl – wenn ich „ich“ sage, dann kommt das Wort aus dem Ding, das damit bezeichnet wird; ebenso wenn ich meinen Namen sage. Die sprechenden Dinge haben zu den Wörtern, zu einigen Wörtern, ein anderes Verhältnis. Die Wörter sind ihnen eingewachsen, eingeübt. Übrigens sind vielen Dingen die Wörter eingeschrieben, vor allem den Artefakten.

Wenn ich mit eidos und morphe den Unterschied zwischen Gesehenwerden und Berührtwerden meine und betone, dann kann ich logos auch in diese Reihe stellen und damit das Gesagtwerden meinen. Dann sind eidos, morphe, logos drei Aspekte der Dinge und ich nenne das die triadische Struktur der Dinge. Die drei lacanianischen Register – das Imaginäre, das Reale, das Symbolische – sind eine andere sprachliche Formulierung dieser Struktur.

Für mich als Augenmenschen bilden die kleinen Strandläufer an den echten Stränden – das sind nicht die mittelmeerischen – schöne Gleichnisse dafür. Bei richtigen Sand-, Wasser- und Sonnenverhältnissen, erscheinen die kleinen Vögel genau in den Momenten ihrer erfolgreichen Nahrungssuche so, daß sie von einer Stelle aus, nämlich von ihren Fußsohlen aus sowohl nach oben wie auch senkrecht nach unten wie auch auf der Sandfläche zu einer Seite hin also „dreifaltig“ sich ausdehnen oder vielmehr sich schnell bewegen.

Die triadische Auffächerung der drei Aspekte resümiert die aristotelische Auffassung von Wesen(heit), differenziert sie jedoch nach sinnlichen Dimensionen (in der Richtung lacanianischer oder plessnerischer Unterscheidungen). Das würde auch der heideggerschen Materialistik entgegenkommen. Außerdem eröffnet sie das Verständnis für „extremistische“ Lehren (platonischer oder nominalistischer Art).

Walter Seitter


Dienstag, 27. November 2012

Exkurs: Physik II, 1

Für die Sitzung vom 14. November, auf der Peter Berz vorgetragen hat, wird ein von Peter Berz gestaltetes Protokoll eingefügt, das auf Texte von Aristoteles, Martin Heidegger und Peter Berz zurückgeht.


- Aristoteles Physik II, 1

- Martin Heidegger "Vom Wesen und Begiff der Physis. Arisoteles, Physik B,1" in: ders., Wegmarken (Klostermann Seminar 12), Frankfurt a. M. 2004, S. 239 – 301.


Einleitende Vorbemerkungen:

Was mich an Aristoteles‘ Abhandlung und ihrer Kommentierung durch Heidegger im Jahre 1939 interessiert:

1.   phýsis und téchneh: ihre Differenzen, Divergenzen, Konvergenzen, ihre Herkünfte und Übersetzungen, ihr Wissen, ihre Praxis, ihre Seinsweisen scheinen mir eine der brisantesten Herausforderungen unserer Epoche und ihrem „biological turn“, der langsam alle Diskurse ergreift.

2.   Morphologien und Morphogenesen: Sie sind ein gegen Darwinismus und Genetik fundamental anderer Einsatz im Wissen von den Lebewesen. Jean Petitot-Corda in seinem Buch „La morphogenèse du sens“ (1985) hat diesen Einsatz im Horizont einer Geschichte des Strukturalismus gedacht. (Aber schon in Deleuzes Différence et répétition finden sich eine Fülle morphogenetischer Theoreme und morphogenetischen Wissens.)

3.   Von Roger Caillois‘ surrealistischer Biologie her gesehen, die mich seit langem immer wieder heimsucht: Da gibt es im Hintergrund eine neoaristotelische Biologie, von der Caillois wesentliche Teile seiner Biologie bezieht. Es handelt sich um das Werk eines Philosophieprofessors und Entomologen am Institut Catholique in Paris: Paul Vignon.

Mir ist klar und Walter Seitter schrieb es mir noch einmal: Sie sind mehr in der Poetik zu Hause und in der Meta-Philosophie. Aber auch die Frage nach der phýsis, die Physik B 1 aufwirft, mündet an einem Punkt in die Poetik (Kommentar Zekl):

1449a 15 (S. 15): „… die Tragödie machte viele Veränderungen durch, pollás metobolás metaballousa, aber als sie ihre Natur erreicht hatte, epei ésche tèhs autéhs phýsin – da hörten die Veränderungen auf“.

Gestatten Sie mir zuerst, vor unserer Lektüre in Martin Heideggers Wort-für-Wort-Übersetzung und –Kommentierung dieses Kapitels der Physik, einen kursorischen, nur strukturierenden, gliedernden Durchgang durch den Text des Aristoteles.


Das Protokoll zur Sitzung (14. 11.)

A. Physik B 1:

(Die Einteilung des Textes in Abschnitte H1 bis H19 folgt, nur zur besseren Orientierung zwischen dem aristotelischen und dem heideggerschen Text, der Heideggerschen Einteilung.

# : Kommentare. )


H1 und H2:

phýsei und dià állas aitías : ta mén – ta de
mit dieser Differenz beginnt Aristoteles den Gedanken. Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was phýsei ist und dem, was nicht phýsei ist. Es ist also beileibe nicht alles phýsei. Das ist schon ein wichtiger Ausgangspunkt!

Und dann zählt er alles auf, was phýsei ist: Tiere, die Teile von Tieren und die Pflanzen und dann Erde Feuer Wasser Luft.

# Als was wäre das anzusprechen? Als Kosmos? Aber der Himmel ouranos und sphaira etwa fehlen? Gehören sie nicht zur Natur, obwohl sie sich von sich aus bewegen?

H 3:

Dann die erste von drei Bestimmungen dessen, was physei besagt

(Grammatikalisch ist phýsei ist ja die blanke Dativ-Form, gegen den Akkusativ von dia allas aitias -):

en autoo archèhn échei kinéhseoos kai stáseoos, den Anfang in sich selbst haben, von

kínehsis, Bewegung, und

stásis, Ruhe,

beide entweder als katà ton tópon, nach dem Ort,

oder als Vermehrung, Schwinden, sich Verändern

auxeh, phthisis, alloíoosis.

# Das ist freilich das allgemeine Programm des Aristoteles: Bewegung als Ausgangspunkt der Physik.

Näherhin: Selbst-Bewegung als Kennzeichnung der Lebewesen.

Darum auch ist der Himmel ein Lebewesen: er bewegt sich selbst.

Das geht fort bis zu Hegel, dessen erste Bestimmung der Tiere ist: sie haben „zufällige Selbstbewegung“, Negation des Ortes (im Unterschied zu den Pflanzen).

Bei Aristoteles ist das aber in umfassenden Sinn gemeint, die Bewegung, auch Veränderung und Entwicklung, usw.

H 4:

Gegen die Dinge, die physei sind, stehen Dinge, die apo téchnehs sind und er nennt gleich zwei Fälle:

He klíneh, die Liege; kommt auch im Griechischen von klinéoo ich liege, also die Liege hat ihren Namen von ihrer Bestimmung her: zum Liegen zu sein;

und to hemátion: das große Überkleid, rund oder viereckig, von links bis unter die rechte Schulter untergeschlagen.

Sie beide sind génos und es eignet ihnen katehgorías, sie sind benennbar.

# Sind sie benennbar, weil sie apo technehs sind? Die Liege etwa, weil ihre Bestimmung in sie auch als Name eingeschrieben ist?

Dann kommt eine negative Bestimmung: Liege und Kleid haben NICHT das, was die Dinge haben, die phýsei, von Natur aus sind. Hier folgt der zweite Versuch einer Bestimmung von physei:

horméhn échei metaboléhs émphyton

sie haben den Anstoß der Veränderung eingepflanzt.

heh horméh: einen Feldzug in Bewegung setzen, Anlauf, Anstoß, auch: horméh daimoníeh: übermenschlicher Anstoß, auch Angriff, Aufbruch zu einer Reise.

# FRAGE: Gibt es für horméh auch andere aristotelische Kontexte?

émphyton: einpflanzen, auch von den Göttern eingepflanzte Sehergabe, mantikéh.

# Hier schon wird physis auf phýoo bezogen, auf das Wachsen, auf die Pflanzen.

Metabolehs: Er setzt also zwei Begriffe: kínehsis und metaboléh an den Anfang.

Aber die apò téchnehs entstandenen Dinge:

Weil sie symbebekos, beiherspielend aus Stein oder Erde oder einer Mischung beider sind - darum sind sie tosouton ?

# Das verstehe ich gar nicht.

H 5:

Dem folgt  die dritte Version einer Bestimmung:

das Wesen, ousia, von physeoos archeh und aitia von Veränderung ist das, in dem der Anfang und die Ursache der Veränderung archéh hypárchei próotoos kath auto ist und nicht beiherspielend.

# archéh hypárchei: eine seltsame Verdopplung des Anfangs …

H 6:

Dann die Arzt-Geschichte, um das zu erklären (sie taucht dann zum Schluß nocheinmal zentral auf und ein drittes Mal einmal implizit):

Es kommt vor, daß ein Arzt sich selbst heilt. Aristoteles Arzt-Sohn.

Aber er ist Arzt, besitzt die Arztkunst, tèhn iatrikéhn échei.

Später wird die Rede sein von technikos – physikos wie hier von iatrikos, iatrikeh techne.

Er besitzt also diese Kunst nicht insofern er gesundet, kathò hygiázetai. Sondern nur beiherspielend symbebekós ist das Arztsein und das Gesunden zusammen. (Kommentator Meiner H. G. Zekl nennt das: autoreflexiv. Ich weiß nicht ... )

# symbebekos als Zufall und äußerlich … !?

# Historisch interessant wäre da etwa die Geschichte der Regenerations-Fähigkeit von Organismen als Hintergrund. Das ist schon für Kant wichtig. Später auch für Uexküll: eine „übermaschinelle Fähigkeit“. Selbstheilungskräfte.

H 7:

ABER: Was hergestellt ist, hekáston toon poiouménoon - in einer Berührung also von poiesis und techneh - hat einen andern Charakter: Es hat archeh nicht in sich, sondern in zwei Varianten:

1. Variante: die archeh der poiesis liegt

in einem anderen und außerhalb (nicht in sich also), griechisch: en állois kaì éxoothen

Fälle: Haus und Hand-Werks-Gegenstände, cheirokméhta.

2. Variante: Es hat archeh in sich, aber nicht kath autá, sondern beiherspielend – wie, das sagt er nicht explizit, beim Arzt, der sich selbst heilt.

# Andere Beispiele?

H 8:

Dann ein Neuansatz:

Etwas ist phýsis und etwas hat phýsis – eine wichtige zweifache Formulierung! - wenn es solchen Anfang hat, wie er gerade dreifach umspielt wurde, also in:

1. en autò archéhn échei kinéhseoos kai stáseoos
2. horméhn échei metaboléhs émphyton
3. hypárchei próotoos kath auto Anfang und Ursache von Bewegung und Ruhe.

Dann kommt ein rätselhafter Satz:

kaì éstin pánta taûta ousía ,

Alle die sind das „Wesen“. Ein Plural ist ein Singular.

(Ousia kommt im Plural nur vor, wenn ousia Vermögen heisst oder Barvermögen ousia aphanehs.)

Dann Einführung eines neuen Wortes: die physis ist das zugrunde Liegende, hypokeiménon.

Das macht er an einer wichtigen Konkretisierung klar: Am Feuer, also einem Element und nicht „Naturding“.

Am Feuer ist es natürlich, katà physin, daß es nach oben steigt.
Aber das heisst NICHT: daß das Feuer
physis ist, physis einai
physis hat, physin echei

# Es gibt also eine zentrale Differenz:

kata physin und physei

versus

physis einai und physin echein.

Es scheint mir, dass genau hier die physis als Pflanze und Tier ins Spiel kommt, im Unterschied zu den anderen Termen Aufzählung am Anfang: Feuer Wasser Erde Luft.

Es gäbe jetzt also eine zweifache Differenz:

Physei versus apo technehs vom Anfang und

Physei/kata physin versus physis einai, physin echein
H 9

Es ist offensichtlich, daß éstin heh physis, das es vieles gibt, was so ist.

H 10

„Für manche“ ist ... : jetzt kommen die Lehrmeinungen.

Die erste ist von dem Sophisten, Eleaten Antiphon:

Für ihn ist physis und physei das, was noch arrhýthmiston ist:

also das Holz der Liege, das Erz des Standbilds

# arrhýthmiston: Darüber könnte man vieles sagen - Rhythmus als Gestalt.

Jüngst hat Janina Wellmanns großartiges Buch: „Die Form des Werdens“ die Vorstellung des Rhythmus in der Entwicklungsbiologie vom 18. bis ins frühe 19. Jahrhundert analysiert.

Dann das schlagende Beispiel (das auch noch einmal vorkommt):
Die Liege fault auf dem Abfall. Aus der Fäulnis kann schon ein Sproß kommen, blastón. Aber dieser Spross wird nie und nimmer eine Liege, sondern allenfalls Holz.

# NB: blastón in der Biologie weite Verbreitung : in der Blastula etwa, frühe Stadien der Zellteilung: Blastula (Gastrula), in holoblastischer, meroblastischer Furchung, in Trophoblast, Blastozyte (nach der Morula), Embryoblast, usw.

Denn die Liege ist

katà ton nómon diáthesis kaì tèhn téchnehn

# Interessant hier: Wie nómos und téchne der gleichen Ordnung angehören!

Dann der Gedanke: Was sich durchhält, zusammenhält, synechôos das ist das Wesen

Erz und Gold: Wasser

Knochen und Holz: Erde

H 11:

An dieser Stelle die Lehrmeinungen der Vorsokratiker:

Feuer Erde Luft Wasser : DAS ist die phýsis, alles das ist die phýsis.

Was also jeder der Vorsokratiker von dem annimmt :

> ist dann heh hapása ousía : das ganze Sein

## ousía und phýsis

> alles andere ist patheh, hexis, diáthesis

> das erste ist ewig, das zweite entsteht und vergeht apeirákis, unendlich: komische Form im Griechischen !

[ Hier Verweis auf Empedokles, 187a 12, Kap 4 (S. 18 f.):

Empedokles denkt nicht Bestand, eine Entstehung, die nur einmal stattfindet, wie Anaxagoras, sondern er denkt einen Umlauf: periódon.

DAS hat Primavesi ausgebaut zu einem ganzen neuen empedokleischen System.

Und, so Aristoteles: Empedokles denkt nicht unendlich viele Stoffe und Gegensätze, sondern (jetzt wird’s kittlerianisch):

tà kalóumena stoicheîa, die sogenannten Elemente. Das denkt er als phýsis.

... die stoicheia.

Primavesi hat in Karlsruhe dargestellt, daß das Wort stoicheion bei Empedokles nie vorkommt, es ist ein jüngeres Kunstwort, was vielleicht noch Aristoteles‘ Zusatz ta kalóumena zeigt.]

H 12:

Jetzt erst kommt das Kernstück der Überlegung – und das ist auch der Einsatz Heideggers, mit Aristoteles etwas vor eidos und hyleh zu suchen (bei Heidegger ab Seite 273):

Die Vorsokratiker und Antiphon denken, so Aristoteles, physis nur als hyleh.

NUR als hyleh !

ABER es gibt eine andere Art, einen anderen trópos, die physis zu denken:

heh morphèh kaì tò eîdos tò katà tòn lógon.

Darauf läuft alles zu und jetzt wird’s zum ersten Mal konkret.

H 13:

Die erste aristotelische Konkretheit ist, wie immer, die Sprache: eine Sprachetüde über

techneh : to kata technehn kai to technikon.

physis : to kata physin kai to physikon.

Ein Parallelismus.

Technikos: kunstgemäß, kunstmässig.

Dann der Gedanke:

a) nur was aussieht wie eine Liege, eîdos klinèhs, ist eine Liege, als techneh:.

Nicht das, was der Möglichkeit nach, dynamei, eine Liege ist, ist eine Liege, die Technik einer Liege (dynamei und physei: die gleiche Form!)

DAS unterscheidet noch NICHT physis und techne. Da sind sie noch ganz zusammen.

b) Denn: nur wenn Fleisch und Knochen aussehen wie solche:

to eidos to kata ton logon haben

nur dann sind sie physis.

Kata ton logon: denn erst dann können wir sie auch abgrenzen in der Sprache und als solche ansprechen, als Fleisch und Knochen !

H 14:

So wäre also in diesem Sinn und überraschenderweise die physis der Dinge, die den Anfang in sich haben, gleich wie in den technischen Dingen, nämlich:

heh morphéh kaì tò eîdos

Zu trennen sind sie vom Ding nur in Worten: kata ton logon – ganz wie in den technischen Dingen.

H 15:

Aber dieses: DAS ist MEHR physis als die bloße hyleh!

Also grade deswegen, weil er die Technik in die physis einführt, sie mit ihr engführt, eben darum ist seine physis MEHR als NUR hyleh als physis!

Nur wenn es in Entelechie da ist – dann ist es mehr da als bloß dynámei.

H 16:

Jetzt also schön systematisch:

Was ist, wenn eidos und morpheh nicht von außen kommen, sondern innerer Anstoß sind.

Und jetzt ohne Übergang, etwas erratisch, Bruch im Text, im Duktus:

Es wird Mensch aus Mensch, aber nicht Liege aus Liege. Anspielung also auf Antiphon.

Das ist jetzt der zweite große Sprung: Eintritt in die Sphäre der Lebewesen!

H 16a:

Dann nochmal ein Umweg zu Antiphon – Argument von der Liege und dem Holz …

Wenn DAS physis: dann wird Holz aus Holz und nicht Liege aus Liege

Also: Dasselbe wird aus Demselben. Hier aber führt sich eine neue Dimension ein:

Génoit und gígnetai.

Das heißt aus diesem Gedanken des Desselben: phýsis ist morpheh.

H 17:

Jetzt der entscheidende Absatz: der Absatz über das Wachsen.

Das heißt, im Sinne des Vorherigen:

Wo die physis als *gen*, als génesis begriffen wird:

heh physis legoumeneh hoos génesis

da folgt der entscheidende Satz:

phýsis : hódos éstin eîs phýsin .

Die physis ist der Weg zur physis.

In diesem Sinn wird noch einmal der Arzt aufgerufen: Heilen geht nicht auf die Heilkunst zu, ist nicht ein Weg zur Heilkunst, sondern Heilen kommt von der Heilkunst her und geht auf die Gesundheit zu.

Dagegen die physis:

Was wächst, das wächst AUS etwas heraus und

kommt, geht in etwas hinein dadurch, daß es wächst

Es ist kein „aus etwas“, sondern ein „in etwas hinein“.

Tí oûn phýetai? Ouchì ex hoû, all’ eis hó.

Was wächst also? Nicht aus etwas, sondern in etwas hinein.

 H 18:

Dem folgt das kurze Resumée in einem Satz:

heh ára morphéh phýsis.

Erstes Resumée:

Die Frage ist, wie man von diesem, die morpheh so sehr ins Zentrum rückenden Denken der physis weitergehen könnte?

Man könnte versuchsweise direkt in das morphologische, morphogenetische Denken des 20. Jahrhunderts springen – etwa zu dem russischen Biologen Aleksandr Gavrilovic Gurvic, dem Erfinder der legendären „morphogenetischen Feldtheorie“. Gurvic denkt die Morphogenese mit einem hohen theoretischen Anspruch.




                                                                                 


Das morphogenetische Feld
(Vortragsauszug)


       Von den seienden Dingen, sagt die Physik des Aristoteles, sind die einen von Natur aus da, physei. Das sind die Tiere und ihre Teile und die Pflanzen und die „einfachen Körper“ dazu: Erde Feuer Luft und Wasser. Wir heute müßten hinzufügen: und die Pilze, die Protisten alias Protozoa und die Bakterien. Alle diese Wesen seien, so Aristoteles, dadurch bestimmt, daß sie den Anfang von Bewegung und Stabilisierung, von kinesis und stasis, in sich selbst haben. Veränderung oder Verwandlung ist ihnen eingepflanzt, emphyton. Anders dagegen die Liege oder das Kleid: sie haben den „Anstoß von Veränderung“ nicht in sich. Denn sie sind nicht physei, sondern apo téchnes. Aristoteles geht dann die Rede von der physis und alle ihre möglichen Formen durch: physis, physei, kata physin, physis sein, physis haben, to physikon sein oder pro ten physin.

Eine besondere Rede von der physis (nämlich die des Sophisten Antiphon) besage, daß es auch an den Dingen apo téchnes, also der Liege und dem Kleid physis gebe. Die physis der Liege sei das Holz, to xýlon. Und das darum, weil das Holz als Holz arrýthmiston ist, ohne Rhythmus, „ohne Verfassung“ (Heidegger). Beweis: Wenn man eine Liege in den Boden eingräbt und sie verrottet und in der Verrottung ein Keim, blastós, hervorbräche, dann entstünde daraus immer nur Holz, aber keine Liege. Dem Holz komme die Bestimmung, Liege zu werden, eben nur nebenbei zu und zwar nach Maßgabe gesetzmäßiger Anordnung und Technik, kata nómon diáthesin kai ten technen.

Dieser Rede, nach der die physis der „zugrundeliegende Stoff“, hypokeiméne hýle ist (wobei hyle selbst noch bei Homer nichts anders heißt als Holz) setzt Aristoteles eine andere entgegen. Eines nämlich gelte für die Dinge gemäß einer Technik und für die Dinge gemäß der physis gleichermaßen: Was nicht aussieht wie eine Liege, nicht den eidos einer Liege hat, sondern nur irgendwann mal eine Liege werden könnte, das ist eben keine Liege. Genau so können wir die Dinge, die von Natur aus sind, etwa Fleisch oder Knochen, nur als solche ansprechen, kata ton logon, wenn sie den eidos und – hier führt Aristoteles ein neues Wort ein - die morphé von Fleisch und Knochen haben, he morphe kai to eidos to kata ton lógon. Morphe und eidos to kata ton logon nun seien mehr physis, stärker physis als der Stoff, die hyle. Die Dinge, die den Anfang ihrer Bewegung aus sich haben, haben damit ihre morphé aus sich. Gerade darin besteht jetzt ihre physis. Aristoteles: „Ein Mensch entsteht aus einem Menschen, nicht aber eine Liege aus einer Liege.“

Begreift man die physis aus einer solchen Entstehung oder genesis der morphé dann ist die physis nichts anderes als ein Weg zur physis, hodos eis physin, nämlich ein Weg zur, modern gesprochen, physis als entwickelter morphé. Diese physis gilt nicht nur für Tiere, sondern auch für die Rede selbst. Als man, so die Poetik, in die Satyrspiele die Rede, lexis, eingeführt habe, hätte die „physis selbst, aute he physis, das dieser Rede eingeborene Metron gefunden“, nämlich den jambischen Trimeter.[1] In der Physik mündet Aristoteles' Nachdenken über die physis schließlich in ihre Etymologie, die ja in phyein, wachsen beschlossen liegt. Aristoteles: „Was wächst, geht von etwas her auf etwas zu, insofern es wächst. Was also wächst? Nicht von her, sondern zu hin.“ Und das gipfelt in dem Satz: „So also ist morphe physis.“, he ara morphe physis.

Martin Heidegger wird 1939 in Aristoteles' Gedankengang von der techne zur physis, von der physis zur morphe und von der morphe zur genesis – und zurück - die Möglichkeit aufblitzen sehen, für einen Moment den Anfang der abendländischen Philosophie zu berühren. Und „in diesem Anfang wird das Sein als physis gedacht ... “.[2] (Geschichtlich tritt dieser Moment von 1939 genau dann auf, als Heidegger die planetarischen Züge der Technik sichtbar werden: im „großen eiligen historischen Gestürze auf Rußland“.)

Ein Jahrzehnt früher, im gleichen Jahr als Heidegger in seiner Vorlesung über die „Grundbegriffe der Metaphysik“ eine wissensgeschichtliche Diagnose der zeitgenössischen Biologie liefert und dann am Begriff des Organismus zum ersten Mal von der handwerklichen Technik zur Maschinentechnik weiterdenkt, um schließlich bei der Welt eines konkreten Lebewesens zu landen: der Welt der Biene - diagnostiziert auch ein russischer Biologie, Aleksandr Gavrilovitsch Gurvic, die philosophische Lage seiner Wissenschaft.

Nach den „Histologischen Grundlagen der Biologie“, dem Summun Opus von zwanzig Jahren morphogenetischer Forschung, stehe die Biologie erstens unter dem Primat eines „anatomischen Bedürfnisses“ und zweitens unter dem der Physiologie. In beidem folge die „Naturbetrachtung“ (so Gurvics Wort) einem technischen Modell. Man zerlegt den Organismus, weil man es mit den „von menschlicher Hand geschaffenen Mechanismen“ so macht. Denn Physiologie heißt, die Lebewesen unter dem „Begriff der 'Funktion'“ zu untersuchen. Organe werden durch ihre „Abläufe“ oder „Verrichtungen“ beschrieben. Der Organismus als ganzer ist eine im Begriff seiner Funktionen aufgehende Maschine. Ein Kleinigkeit allerdings werde dabei, so Gurvic, „einfach übersehen“: „das eigentliche 'Sein' des Gebildes“. Es „fällt mit anderen Worten aus dem Rahmen der Betrachtung heraus.“[3] Im „bloßen Sein eines lebenden Systems“ aber liege das tiefste Problem der Biologie, das alle funktionale Betrachtung „im Schatten läßt oder lassen sollte“.[4]

Dieses Sein sei nur „dem eigentlich morphologischen Standpunkt“ nicht fremd: jede „Form ist eine Naturgegebenheit“.

Die Seinsfrage nach der morphé oder Form formuliert sich 1930 in anderen Konkretionen als bei Aristoteles. Sofort fragt sich: makroskopische oder mikroskopische Formenkunde? Die makroskopische leidet darunter, daß auch sie die Einheiten, deren Form sie beschreibt, letztlich funktionell definiert: ein Schädelknochen oder der Fühler eines Nachtfalters haben die und die Form. Die mikroskopische Formenkunde dagegen leidet darunter, daß je weiter sie, so Gurvics Worte, „in das Gebiet der kleinen Dimensionen“ vordringt, das, was da sichtbar ist und sich unaufhörlich verändert, nur sehr willkürlich als geschlossene Gebilde adressieren kann, sowohl räumlich wie zeitlich. Heißt: „Das morphologisch Elementare ist mithin auf morphologischem Wege gar nicht identifizierbar.“[5]  Der morphologische Standpunkt könne darum nur der sein, nicht von Formen auszugehen, sondern von „Formwandel“ und sich verändenden Formen. Alles, was das Mikroskop zeigt, muß „als Geschehnis aufgefaßt () werden“. Nur so sei zur „eigentlichen Realität“ einer morphogenetischen Wissenschaft vorzustoßen, das ist: „stabile und labile räumliche Konstellationen respektive ausbalanzierte und nichtausbalanzierte Stoffwandlungen“.[6]

Die Seinsfrage aber nach der Morphe, die Aleksandr Gurvics Theorie der Morphogenese in den zwei Jahrzehnten von 1910 bis 1930 entwickelt und durch die ich im folgenden einen kleinen Durchgang versuchen möchte, ist eine Frage nach dem Wissen von der Morphe. Genauer gesagt: wie alle morphogenetische Forschung seit d'Arcy Thompsons großem Werk über „Form and Growth“ eine Frage nach den Grenzen dreier Wissensformen: der Biologie und der Physik und der Mathematik. Antworten auf diese Frage scheinen mir, bescheiden gesagt, Wetten auf die Zukunft.

[A.1 Element]

Für das morpogenetische Denken des Aleksandr Gurvic gibt es zwei wissensgeschichtliche Voraussetzungen. Erstens die lange Geschichte des „Elementaren“ in der Biologie. Zweitens den epistemischen Raum des Ungefähren, der Abweichung, des Wahrscheinlichen, wie er sich um den Ersten Weltkrieg herum etabliert.

Das Elementare, dessen Geschichte seit Friedrich Kittler von den lateinisch: elementa, griechisch: stoicheia her lesbar geworden ist, also von den Buchstaben, wie sie im griechischen Vokalalphabet System werden: dieses Elementare ist im abendländischen Wissen nicht gleichmäßig verteilt. In Physik und Chemie von den antiken und modernen Atomen bis zu Mendeljews Periodensystem der Elemente hat es einen definierten Ort. Im Wissen von den Lebewesen ist es ständig und prinzipiell prekär.


Lektüren von Lektüren. Heideggers Aristoteles von 1939

Vorbemerkungen

1.     Zunächst geht es in Heideggers Kommentar um eine Übersetzung. Darum, im Übersetzen zu denken. Und die Geschichte der Philosophie als eine der Übersetzungen zu entfalten. Neu übersetzen heißt für Heidegger: eine neue Sprache erfinden. Nicht neue Begriffe setzen, sondern eine neue Sprache und Sprechweise. (Siehe das Ende von „Der Weg zur Sprache“.)

2.     Die Lage für eine Lektüre von Übersetzung und Kommentar ist also: Kommentar eines Kommentars. Eine Art Experimental-Anordnung. (Auch in der Psychoanalyse wären ja manchmal die Kommentare ebenso interessant wie der Urtext: also Ferenczi oder Lacan etwa.)

3.     Weil es um ein historisches Übersetzen geht, ist Heideggers Philosophie eine Sprachphilosophie und zwar eine „historische Sprachphilosophie“. Anders also als Wittgenstein oder die analytische Philosophie Sprachphilosophien sind.

4.     Die Grundfigur, die Heidegger an Aristoteles‘ Text heranbringt, ist: das „Vor“. Die Einsätze dieser Figur würde ich gerne durch Heideggers Text hindurch verfolgen. Was heißt hier „Vor“?

5.     Was er 1939, nicht vor, sondern zeitgleich (in „Echtzeit“) mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, zu denken versucht, ist: Der Rohstoff. Wo fängt das an? Als hyle? Mit der Natur als Rohstoff? Wie steht Aristoteles in dieser Geschichte? – Im Kontext von Band 69 der Gesamtausgabe: „Die Geschichte des Seyns“, der Notizen aus den Jahren 1938 bis 1940 enthält. In Abschnitt 106 mit dem Titel „Die einheitliche Zerreibung des Deutschtums und des Russentums durch die Machenschaft“ steht etwa zu lesen: „Ein großes, eiliges historisches Gestürze auf Rußland, ein grenzenloses betriebsames Ausbeuten der Roh-stoffe für die Feinheiten der ‚Maschine‘.“ (Kursivierungen im Text).

6.     Nach vorwärts und weiter gedacht: als Kraft-Stoff (Benjamin Steiningers Arbeiten über den Kraftstoff); oder als Stoff-Wechsel, Metabolismus (s. Heidegger: S. 298). Eine Wissensgeschichte des Stofflichen.

7.     Die in der „Einführung in die Metaphysik“ (S. 10 f.) supponierte etymologische Näherung von *pha* und *phy* , also von Erscheinen und Wachsen, Erscheinen auf Aufgehen (einer Rose etwa), wäre auch – in einer zukünftigen Perspektive - als Gegentheorie zur modernen Biologie des *gen* denkbar: Morphogenesen des Phänotyps.


                                                                                 

[1]      1449a, p 19.

[2]      Wegmarken: 300.

[3]      1930: 1.

[4]      Ebd.: 2

[5]      1930: 3.

[6]      Alles: 1930 1 bis 4.


….

Freitag, 9. November 2012

In der Metaphysik lesen (995b 18 – 31)


Buch III gilt als das Aporien-Buch: 14 Fragen, deren Behandlung, Durcharbeitung, Lösung einen – oder den? – methodischen Einstieg in die „gesuchte Wissenschaft“ bildet.

Der Begriff „Aporie“ lenkt die Erinnerung zurück an ein anderes Vorkommen von Aporien in der griechischen Philosophie, nämlich in den platonischen, vor allem in den frühen, Dialogen, nennen wir sie lieber die sokratischen Dialoge. Da hat das Wort „Aporie“ eine eher „subjektive“ oder sagen wir lieber eine fast „existenzielle“ Bedeutung, häufig auch mit dem Verb „aporein“ bezeichnet. Diese Bedeutung spielt auch bei Aristoteles gelegentlich herein (Met. I, 982b 17f, 995a 31f.), aber in den sokratischen Dialogen ist sie die dominante, ja die einzige. Da handelt es sich um Zustände der Verlegenheit, des Nichteinundauswissens innerhalb einer Diskussion, eines Streitgesprächs. Und zwar so gut wie immer aufseiten von Gesprächspartnern des Sokrates, denen er mit seiner aggressiven Fragerei ihre Selbstgewißheit ausgetrieben hat. Sokrates zerstört bei den anderen die Gewißheiten, die Selbstverständlichkeiten soweit, daß sie ihre Verlegenheit, eben ihre „Aporie“, ihr „aporein“ eingestehen müssen – womit sie gezwungen werden, das Gespräch mit Sokrates fortzusetzen – egal ob dieses dann zu einer Auflösung der Aporien führt oder nicht. Immerhin entzieht Sokrates sich selber auch nicht der „Aporetisierung“, wie seine Aussage, er wisse immerhin, daß er nicht weiß, was andere zu wissen meinen (vgl. Platon: Apologie 21d 4ff.) zeigt. Seine eigene man könnte sagen „Lehr-Aporetisierung“ wurde von einem delphischen Orakelspruch provoziert und sie hat ihn - angeblich - dazu berufen, andere in die „Aporie“ genannte Enge zu treiben.

Zu denen, die von Sokrates dergestalt behandelt worden sind, gehört Menon – und der gibt es ihm richtig heraus, indem er aus seiner kognitiven Ausweglosigkeit – in einer Diskussion über das Wesen der Tugend - heraus zu einer praktischen Replik ansetzt – wenn auch nur im Sinne einer vagen Drohung: du mit deiner Gesprächsführung, du tust gut daran, unsere Stadt nicht zu verlassen; wenn du dich anderswo als Fremder derart aufführen würdest, würde man dich als Zauberer festnehmen (vgl. Platon: Menon 13, 80). Eine heimtückische Warnung: denn genau in seiner Heimatstadt sollte Sokrates festgenommen werden und nicht nur das.

Wir können sagen, daß zwischen dem sokratischen Aporetisieren, einer Art Mitbürger-Belästigung, und dem aristotelischen Aporien-Buch, einem rein theoretischen Fragenkatalog, ein bestimmter Zyklus von Philosophieren in Gang gesetzt worden ist: auf der Strecke dazwischen liegen noch die positive Formulierung der platonischen Lehre sowie die Inangriffnahme der objektsprachlichen Untersuchungen des Aristoteles über die Lebewesen, die Seele, den Himmel, die praktischen und die poietischen Tätigkeiten. Mit dem Aporien-Buch dürfte dieser Zyklus – nennen wir ihn den klassisch-athenischen - allerdings nicht zum Abschluß gekommen sein; denn es bringt ja nur den methodischen Einstieg in die sogenannte gesuchte Wissenschaft, die ein anderes Niveau erreichen will als die vielen Einzeluntersuchungen. Aber genau wissen wir noch nicht, wohin die Aporien-Behandlung wirklich führen wird.

In der Nennung der aristotelischen Aporien folgt nun die Frage, ob nur die Wesen zu betrachten sind oder auch die Akzidenzien der Wesen an sich bzw. zu welcher Wissenschaft mehrere Grundbegriffe gehören, von denen die Dialektiker ausgehen, deren Präzisionsgrad zwischen dem der Wissenschaftler und dem der Rhetoriker liegt. Weiterhin eine anders spezialisierte Fragestellung in bezug auf Akzidenzien. Dann die Frage, ob sich die Prinzipien aus der Gattungszugehörigkeit bestimmen oder aus den Bestandteilen. Sodann die Frage, ob das Gattungsprinzip außerhalb des Individuums und höherrangig existiert. Das sind nun lauter aristotelische, zum Teil auch platonische Fragen.

Walter Seitter


PS.: Am kommenden Mittwoch um 16 Uhr Lektüre von Aristoteles Physik II, 1 und Martin Heidegger „Vom Wesen und Begriff der Physis. Arisoteles, Physik B,1" – mit Peter Berz (Berlin).

PPS.: Kunsthistorisches Museum
      Dienstag, 13. November: Ausstellung „Bunte Götter“
      16 Uhr: Oliver Primavesi (München): Winckelmann als
      Entdecker der Farbigkeit der griechischen Skulptur