τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Freitag, 9. Dezember 2011

Veranstaltungshinweise: Animismus und Medien

Nächste Woche gibt es zwei Tagungen, die auch für Hermesgruppenleute interessant sein könnten: 

13. und 14. Dezember 2011, 18-21 Uhr

Das Symposium Exchanging Perspectives versammelt sechs Vortragende, deren Beiträge sich dem Potential des Begriffs des Animismus widmen, neue Perspektiven für die Analyse der Gegenwart und Möglichkeiten der Geschichtsschreibung zu eröffnen. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln geht es dabei um eine Positionsbestimmung: Wenn der Animismus – als Gegenbild zur dualistischen Rationalität – entscheidende Frontlinien der Moderne markierte, wie haben sich diese im Verlauf des 20. Jahrhunderts verschoben, wo werden sie heute produktiv?

(2) Touché! Die magische und technische Evidenz der Medien

15. und 16. Dezember 2011

Wenn Medienforschung hingegen auf ältere europäische und auf außereuropäische Medienformationen und Medienerfindungen zugreifen, stößt sie auf Verfahren und Praktiken religiöser Evidenz, sei es der von Bildern, von Buchreligionen oder in religiös-magisch verstandenen mündlichen Kulturen. Das Resultat sind teils explizite, teils implizite Modernisierungstheorien und Säkularisierungsgeschichten, sobald es um Medien geht: vom Kultbild zum Kunstbild zum massenhaft reproduzierten profanen Bild; der Buchdruck als religiöse und dann säkulare Macht; von einer rituellen Gesellschaft zu einer kommunikativen; oder insgesamt: von einer magischreligiösen zu einer technisch-wissenschaftlichen Evidenz der Medien. Auf dieser Tagung sollen diese Säkularisierungsformeln überprüft werden, und zwar durch eine historische und epistemologische Diskussion der verschiedenen hier angesprochenen Größen: Magie, Technik und Religion der Medien; die religiöse und die technische Evidenz der Medien; die Geschichte des Medienbegriffs in der Longue durée, im 20. Jahrhundert und darüber hinaus.

IG

Donnerstag, 8. Dezember 2011

In der Metaphysik lesen (...)


In der letzten Stunden sind wir auf zwei Redensarten gestoßen, die dem Wiener Dialekt entstammen und bei aller gegenläufigen Bedeutung doch auf eines hinauslaufen: „ned amoi ignorieren“ und „eh scho wissen“. Dasjenige, worauf sie hinauslaufen, entspricht dem, was Lacan die Leidenschaft des Ignorierens nennt, oder dem, daß man etwas für ganz unwichtig hält.

„Wichtig“ (mit der Gegenseite „unwichtig“) ist einer der „wichtigsten“ Begriffe der Umgangssprache, nicht nur weil er häufig verwendet wird, sondern weil er dazu dient, unser Verhalten zu ordnen, und zwar auch auf unterschiedlichen Metaebenen: man kann nicht nur, man muß sogar jedes Vorkommen oder Verhalten für wichtig (oder unwichtig) halten. In den Wissenschaften kommt der Begriff jedoch kaum vor. In den Siebzigerjahren tauchte er in der Popularisierung der Kritischen Theorie auf und zwar als „gesellschaftlich relevant“.

Wie kann man den Begriff definieren? Zunächst, indem man ihn umschreibt. Definition von „umschreiben“ mit Betonung auf der zweiten Silbe: etwas mit anderen Worten sagen. Vorschlag: wichtig ist, was einem auf dem Herzen liegt. Eine sehr gute Umschreibung, die das Emotionale betont und vor allem den dativus ethicus, der bei „wichtig“ immer impliziert wird, wenn auch nicht immer ausgesprochen. Diese oder jene Zutat ist wichtig für die Zubereitung dieses Gerichts: mit der Präposition „für“ wird hier der sachliche Zusammenhang betont, aber die Personenbezogenheit wird vorausgesetzt, denn das Gericht soll irgendeinem Esser schmecken. Was wichtig ist, ist immer jemandem (auch für jemanden) wichtig. Gesellschaftlich relevant heißt: für die Gesellschaft wichtig. Einfachere Umschreibungen setzen ein Wort ein, das sich zumeist bedeutungsmäßig mit dem Gemeinten nur berührt. So: „wertvoll“, „notwendig“. „Wertvoll“ kann man mit „gut“ gleichsetzen – „wichtig“ berührt sich damit, ist aber „neutraler“ – obwohl auch es eine Wertung impliziert. Etwas für wichtig erachten heißt ihm eine „Priorität“ einräumen. Priorität als „apriorische“ Bedingung dafür, daß etwas „vorkommt“ (anstatt hintanzustehen und unterzugehen). Wie „wichtig“ zwischen „gut“ und „notwendig“ liegt, so „gut“ zwischen „wichtig“ und „richtig“.

Das deutsche Wort „Bedeutung“ hat zwei Bedeutungen: erstens die semantische Bedeutung, die eben eingesetzt worden ist, und zweitens die pertinente Bedeutung: Pertinenz, Importanz, Gewichtigkeit, Wichtigkeit, impact; das hat mit Rang, Macht, sogar Ursächlichkeit zu tun. Ursache des Begehrens im Persönlichen und Ursache in weniger persönlichen Zusammenhängen: die Bedeutung der Brieftaube für die österreichisch-ungarische Armee im Ersten Weltkrieg (hier die Armee als Interessent).

Ivo Gurschler weist darauf hin, daß die Wichtigkeit neuerdings doch in die Wissenschaftssprache eingedrungen ist: in die Kommunikationswissenschaften, wo es um Selektion, Annehmen, Verwerfen u. ä. geht, nämlich in der „Agenda-Setting-Theorie“ oder etwa wenn von „Gatekeepern“ die Rede ist.

Da Aristoteles’ „gesuchte Wissenschaft“ eine theoretische sein soll, wie Physik und Mathematik, sich also auf Sachverhalte beziehen soll, die so sind, wie sie sind, nämlich unabhängig von menschlichem Einschätzen, Entscheiden usw., möchte man meinen, daß das „Wichtige“ für sie keine Rolle spielt. Dem ist aber nicht so. Das Wichtige und verwandte Qualitäten werden in unterschiedlichen Positionen erwähnt oder eingeführt. Im ersten Satz (980a 21) wird das Wissen als wichtig eingeführt und zwar für alle Menschen. Damit wird seine Wichtigkeit postuliert – während man die physikalischen und die mathematischen Sachverhalte nicht „postulieren“ muß, die gibt es wohl einfach. Hier geht es ja um eine Wissenschaft, die man erst „sucht“. Obwohl sie theoretischer Natur sein soll, scheint das, was Kant „praktische Vernunft“ nennt, also irgendwie vorausgesetzt zu sein. Etwa gar Primat der praktischen Vernunft?

Auf der anderen Seite hat die Wichtigkeit des Wassers für Thales einen ganz anderen Charakter als die Wichtigkeit des Wassers für einen Durstigen: bei Thales ist es eine Wichtigkeit nur in der Theorie, die eine Ursachentheorie ist: also Ursächlichkeit des Wassers. Anders wiederum die Wichtigkeit des Öls für einen Ölspekulanten wie Thales gegenüber der Wichtigkeit des Öls für die Küche oder für die Heizung (da als technische Ursache für andere Wunscherfüllungen).


Aristoteles benennt die gesuchte Wissenschaft zunächst mit dem altehrwürdigen Wort „Weisheit“; setzt aber dann doch den immerhin schon existierenden Ausdruck „Philosophie“ ein: Liebe zur Weisheit. Diese Theorie erfordert nicht nur irgendwelche praktischen Leistungen (daher pragmateia) sondern praxis-Qualitäten im ethischen (auch im kantischen) Sinn.

Walter Seitter

Donnerstag, 1. Dezember 2011

In der Metaphysik lesen (987b 25 – 988a 7)


Wir kommen auf das Wort pragmateia zurück, das Aristoteles zweimal für „Theorie“ gebraucht hat, und zwar in einem mehr historischen Sinn: die bestimmte Theorie, die ein bestimmter Philosoph geschaffen hat, also sein „Werk“ bzw. seine Ansicht. Pragmateia leitet sich indirekt von dem Wort prattein ab = tun, handeln, ist also mit praxis verwandt – und die gilt ja landläufig eher als das „Gegenteil“ von Theorie. Aufgrund dieses etymologischen Zusammenhanges kann man Aristoteles hier einen „paradoxen“ Sprachgebrauch unterstellen. Der liegt dann vor, wenn man sich die erste Bedeutung des Wortes hält: Geschäft, Arbeit, Anstrengung. Eine zweite Bedeutung hat sich allerdings schon im Altgriechischen ausgebildet: schriftliches Werk. Im Neugriechischen hat sich dann diese Bedeutungslinie durchgesetzt, z. B. „Dissertation“. Das gleichlautende Wort mit anderem Akzent hat allerdings heute nur die ökonomische Bedeutung „Ware“.

Aristoteles führt näher aus, wie Plato zwei ganz unterschiedliche Denkweisen – die pythagoräische, welche elementar-mathematische Prinzipien für alles ansetzt, und die sokratische, welche mittels Diskussion und Definition Qualitäten begrifflich umreißen will – zusammenführt, was nicht ganz ohne Reibung möglich zu sein scheint. Platon verquicke die beiden pythagoräischen Elemente mit der Stoff-Form-Dualität – wobei seine Zuordnung eher verkehrt sei: dem Stoff ordne er das Viele zu, der Form aber das Eine. Tatsächlich verhalte es sich anders. Und das exemplifiziert Aristoteles am Beispiel der Verfertigung von Tischen aus Materie und Form wie am Beispiel der Menschenzeugung durch Mann und Weib. Wir haben den Eindruck, daß Aristoteles in beiden Beispielen den Gegensatz übertreibt. Das heißt er wird seinerseits zum Opfer einer fragwürdigen Pythagoras-Sokrates-Verquickung. In der Sache der menschlichen Geschlechter scheint er denselben Fehler zu machen wie in der Poetik mit den Geschlechtern der Wörter, wo er fälschlicherweise den weiblichen Wörtern ausschließlich rein „weibliche“ Endungen zusprach, nämlich vokalische.

Ivo Gurschler erhebt gegen die aristotelische Vorgehensweise den Einwand oder den Verdacht, Aristoteles suggeriere in seiner Beschreibung und Beurteilung der früheren Philosophen ständig seine eigene Ursachenlehre oder jedenfalls das Thema der Ursächlichkeit, so als wäre diese Perspektive die einzig mögliche oder zutreffende. Dagegen wird eingewandt, Aristoteles mache das nicht unterschwellig sondern ziemlich explizit von Anfang des Buches an. Aber wenn man schon diese Kritik formuliert, sollte man auch sagen können, welche anderen Perspektiven denn noch möglich seien. Eine andere Perspektive ist bei Sokrates wie auch bei den sogenannten Sophisten zu beobachten, da geht es nämlich nicht um Ursachen, sondern darum was ist wichtig. „Wichtig“ im Sinn von „existenziell“ oder „menschlich“ wichtig.

Ist diese Perspektive in unserem Buch auch schon aufgetaucht? Vermutlich ja und zwar in mehrfacher Weise. Wenn wir hier nicht nur lesen wollen sondern auch philosophieren, sollten wir uns fragen, was bedeutet eigentlich das Wort „wichtig“? Zweierlei ist dazu schon gesagt worden: erstens es sei ganz „abstrakt“ – was keine triftige Aussage ist; zweitens es hänge mit Wertung zusammen, was zutrifft. 

Walter Seitter