τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 9. Juni 2011

In der Metaphysik lesen (984b 17 – 984b 23)


Die „Sache selbst“ und die „Wahrheit“ werden von Aristoteles in die Theoriegeschichte als spezielle „Aktanten“ (Bruno Latour) neben den normalen Akteuren, nämlich den Theoretikern, eingeführt: ihr Agieren besteht in einem Einwirken auf die Theoretiker: sie führen, zwingen, treiben an – und zwar zum Weitersuchen. Es wird nicht gesagt, daß sie ihnen die „Wahrheit“ liefern, mitteilen, offenbaren. Sie geben ihnen „nur“ ein, daß ihre Erkenntnisse oder Lösungen unzureichend oder sogar fehlerhaft sind. Sie funktionieren also eher „falsifizierend“ als „verifizierend“ (nicht ganz in der eigentlichen Bedeutung); ein bißchen so wie das sokratische daimonion, das den Sokrates nur „negativ“ zurechtweist. Aristotelisch gesprochen ist die „Wahrheit“ hier eine Bewegursache, denn sie treibt an zum Weitersuchen; nicht eine Formursache, die „informiert“.
Daß mit der Wahrheit eher deren ontologische Fassung gemeint ist als die logische, wird durch die Lektüre des Artikels aletheia im Aristoteles-Lexikon von O. Höffe gestützt, der bestätigt, daß es bei Aristoteles beide Wahrheitsbegriffe gibt: Aussagewahrheit und Seinswahrheit, wobei die Seinswahrheit in gewissem Sinn von der Aussagewahrheit induziert wird. Nachdem es nun einmal die Aussagewahrheit gibt (geben kann: wenn jemand eine wahre Aussage macht), kann das Seiende selber als „wahr“ bezeichnet werden, bloß insofern es seiend ist.
Aber nun aufseiten der zu erkennenden Sachen, für die Ursachen aufzufinden sind. Welche Sachen oder Qualitäten erheischen andere Ursachen als das Feuer, dem ja innerhalb der materiellen Ursachen eine hohe Ursach-Kraft, etwa Beweg-Kraft zuzusprechen ist? Diese Realität, das ist das Gut- oder Schönsein (Sich gut oder schön verhalten) bzw. Gut- oder Schönwerden von irgendwelchen Dingen. Die Qualität „gut“ wird jetzt auf der Ebene der faktisch vorliegenden Realität angesetzt, für die Ursachen aufgefunden werden sollen – und nicht auf der Ebene der Ursachen bzw. der höchsten Ursache wie in 982b 7: das Gute, das Beste.
Jetzt geht es um irgendwelche, auch banale, Vorkommnisse des Gut- oder Schönseins oder –werdens. Alles Mögliche kann gut oder schön sein: das Essen, ein Wald, das Bad, ein Buch, ein Spaziergang, eine Tragödie (jetzt als Dicht-Werk), ein Mitmensch, ein Getränk. „Gut“ und „schön“ sind zwei Adjektive, die bei den Griechen die wichtigsten Wörter für diese Ebene von Qualitäten sind. Natürlich gibt es auch andere Eigenschaftswörter dafür: nützlich, angenehm, erfreulich, lieb, wertvoll, wichtig (?) ... Und wenn etwas gerade nicht gut oder schön ist, so kann es doch so werden: ein Aufsatz, den man schreibt, kann besser werden; eine Reise, die nicht besonders gut begonnen hat, kann erfreulich werden. Es geht hier gar nicht um etwas Ewiges, auch nicht um etwas Superlativisches. Sondern nur darum, daß die genannten Eigenschaften eine andere Ebene ausmachen als die Eigenschaften viereckig, naß, staubig, gigantisch ...
Die mit „gut“ und „schön“ bezeichneten Eigenschaften bzw. Sachverhalte bzw. Vorkommnisse (Aristoteles betont den Aspekt „Vorkommnis“) haben wir letzte Stunde von sogenannten „physischen“ oder „objektiven“ Eigenschaften wie rot, rund, klein, glatt ... abgehoben. Handelt es sich also um „psychische“ oder „subjektive“ oder gar um „metaphysische“ Eigenschaften? Wir sollten uns bemühen, dafür gute Allgemeinbegriffe bzw. Korrelationsbegriffe zu finden.
Und dann die Ursachen-Findung. Auf den ersten Blick scheint Aristoteles zu sagen, die zweite oder dritte Generation der Vorsokratiker habe den nous – also die Vernunft, den Geist – als Ursache für diese Art von Eigenschaften vorgeschlagen. Bei genauerem Zusehen meint er eher die Beseeltheit, die Animalität. Wie kann das verstanden werden?
Walter Seitter

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