τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 26. Mai 2011

In der Metaphysik lesen (984a 6-17)


Nach den Vertretern des Wasser-Ursprungs (Ursprung für alles) geht Aristoteles zu den Philosophen über, die die Luft für den Ursprung der „einfachen Körper“ (oder den ersten von ihnen?) gehalten haben. Es handelt sich um Anaximander von Milet (610-547), dessen Lehre in der Philosophiegeschichte jedoch nicht auf einen einfachen Luft-Ursprung reduziert wird, sondern er soll einerseits das apeiron, das Unbegrenzte, für den Urstoff gehalten haben, andererseits das Feuchte, die Hitze und die Winde für die Ursachen der Himmelskörper, die Luft oder den Atem für die Seele der Lebewesen. Sowie um Diogenes von Apollonia (499-428): für ihn war die Luft der Grundstoff, der in einer bestimmten Verdichtung als Schlamm erscheint (aus dem die Lebewesen hervorgehen). Ivo Gurschler erwähnt dazu den russischen Naturwissenschaftler Wladimir Iwanowitsch Wernadski (1863-1945), der die Lebewesen zu Anhängseln der Atmosphäre erklärt hat. Als nächste nennt Aristoteles die Vertreter der Feuer-Theorie: Hippasos von Metapont (555-480), er war Pythagoräer und wurde von uns im Zusammenhang mit der Inkommensurabilität schon erwähnt, sowie Herakleit von Ephesos (520-460). Die bisher Genannten können alle als „Monisten“ bezeichnet werden, insofern sie nur einen Grundstoff annehmen; allerdings sind sie nicht alle so radikale Monisten wie der Wasser-Monist Thales.  Empedokles von Agrigent (495-435) nimmt vier Grundstoffe an: Wasser, Erde, Luft, Feuer – offensichtlich gleichursprünglich und gleichrangig. Also ein Verzicht auf eine letzte Einheit oder die Unmöglichkeit einer solchen. Diese vier – die man dann „Elemente“ genannt hat – beharren in ihrer jeweiligen Qualität; Veränderungen gibt es nur hinsichtlich ihrer Vielheit oder Wenigkeit – je nach ihrer Zerstreuung oder Zusammenziehung; letztere ist eine Veränderung zum Einen hin (welches somit nur mehr als Form existiert). Anaxagoras von Klazomenai (499-428) habe nicht nur vier sondern unendlich viele Ursprünge angenommen, die in sich „gleichteilig“, also homogen und beständig sind; Veränderungen gebe es nur durch Verbindung und Auflösung. Für die zuletzt Genannten erscheint es sehr unsicher, ob sie zurecht den „Materialisten“ zugerechnet werden, denn sie kennen über die materiellen Elemente hinaus auch andere Ursprünge, die sie philotes, logos oder nous nennen.

Walter Seitter

Samstag, 14. Mai 2011

In der Metaphysik lesen (983b 28 - 984a 10)

Zu Beginn wurde noch einmal darauf eingegangen, dass Aristoteles gerade eine Art Genealogie-Untersuchung durchführt, indem er die Erkenntnisse der Früher-Philosophiert-Habenden vorstellt und überprüft. Die Beschwerlichkeit des Wortes „geistig“ in Unterscheidung zu der „biologischen“ Genealogie der „natürlichen“ Elternschaft stellte uns vor die Frage, wodurch man diese Art der Genealogie besser bezeichnen könnte. Eine Möglichkeit wäre „technologisch“ im Sinne einer artifiziellen, hergestellten Verwandtschaft. „Geistig“ stellte sich als zu vorbelastet, körperfeindlich und religiös vereinnahmt dar – und die Schwierigkeit, einen Vorgang als rein geistig aufzufassen, kam zur Sprache. Eine Lösung, die keinen weiteren Widerspruch fand, war die Idee, von „kulturellen“ Eltern oder Vorfahren zu sprechen.

Die Vorfahren, die Aristoteles aufführt, hat er inzwischen unterschieden – zuerst hat er diejenigen genannt, die philosophiert haben, nun, nach der Erwähnung von Thales, spricht er über die, die theologisiert haben und ebenfalls das Wasser als erste Ursache auffassen, aber nicht von Wasser, sondern den Gottheiten Oceanus und Thetis sprachen, die als mythisches Elternpaar als Ursache von allem angesehen würden. Und der Beleg dafür sei, daß die Götter selbst beim Styx, also einem wasserführenden (mythischen) Fluß schwörten, also bei etwas, das noch ursprünglicher ist als sie.

Man kann hier darauf hinweisen, daß es steriler ist, von Wasser als erster Ursache zu sprechen als von Oceanus und Thetis – daß also die philosophische Sprache gegenüber der mythischen ein wenig asexuell ist. Aristoteles begnügt sich damit, noch einmal festzustellen, Thales sei der Meinung gewesen, Wasser sei die erste Ursache. Hippo möchte er in dem Zusammenhang nicht erwähnt haben, um Thales nicht einer schlechten Gesellschaft auszusetzen – offenbar handelt es sich bei Hippo um einen Kollegen, der zwar derselben Auffassung über die erste Ursache wie Thales war, aber ansonsten von Aristoteles eine armselige Erkenntnisfähigkeit bescheinigt bekommt, und man kann sich wundern, welcher Hippo Aristoteles so sehr dazu aufgestachelt hat, ihn nicht nicht erwähnen zu können.

Gesche Heumann

Donnerstag, 5. Mai 2011

In der Metaphysik lesen (983b 8-28)


Am 30. April 2011 brachte DER STANDARD unter der Rubrik „Kinder-Uni“ (23. 4. 2011) einen Betrag mit dem Titel „Das Wesen der Dinge“, der sich mit der Philosophie des Aristoteles beschäftigte und drei Aspekte hervorhob: Aristoteles habe das Wesen der Dinge nicht von ihrer Materialität getrennt; er habe zum Beispiel die Frage aufgeworfen, wie eine Blume weiß, wann sie blühen und wann sie welken muß; und er habe sich als einer der ersten damit beschäftigt, was die früheren Denken gesagt hätten.
Eben dieser Frage nähert er sich an unserer Stelle, um für das Programm seiner „gesuchten Wissenschaft“ Bestätigung oder Ergänzung zu finden. Diejenigen, die vor ihm philosophiert haben, können – analog zu seinem Vater und Großvater als seine „Ursachen“, Urheber seiner als Philosophen, Urheber seines Philosophierens, nicht biologische sondern andersartige Vorfahren bezeichnet werden. Für Aristoteles waren Platon und Sokrates derartige unmittelbare Vorfahren. „Genealogie“ meint sowohl die Erforschung der biologischen wie die andersartigen, bildungsmäßigen, kulturellen, „technologischen“ Urheber oder Vorläufer. Genealogie oder Geschichtsschreibung. In der Poetik machte Aristoteles einige größere Exkurse zur Geschichte der Dichtung; insofern er ältere Dichtwerke als Beispiele – gute oder weniger gute – für Tragödiendichtung heranzog, machte er sie zu „Ursachen“ für die von ihm empfohlene, also für gute künftige Tragödien.
Die Wirkursache kann also auch auch neben der biologischen Kausalität oder parallel zu ihr andere Kausalitäten bezeichnen und entweder in die historische Betrachung eingehen oder aber in die Kunstanleitung, in die Kunstlehre: wie kann man selber eine gute Ursache (Vater, Lehrer, Dichter ...) sein? Sokrates hat seine Frage-, Lehr-, Weckungstätigkeit als „Hebammenkunst“ bezeichnet, als eine Geburtshilfetätigkeit, die sich unterstützend neben die mütterliche Ursächlichkeit stellt. Ein Beispiel dafür, daß weibliche Tätigkeiten zum Vorbild für Tätigkeiten werden, die – jedenfalls damals – ausschließlich von Männern ausgeübt wurden (obwohl sie mit dem männlichen Geschlecht nichts zu tun haben).
Seine erste Aussage nun zu den ersten Philosophierthabenden: daß die meisten von ihnen nur die Materialursachen berücksichtigt haben – die er in der Folge als „Element“, „Natur“, „Substrat“ bezeichnet und mit demjenigen vergleicht, was bei einem Menschen wie z. B. Sokrates als Beständiges erhalten bleibt, auch wenn er sich hinsichtlich gewisser Eigenschaften ändert; allerdings bleibt unklar, ob Aristoteles das Beständige an Sokrates auch so konzipiert, wie die ersten Philosophen ihre Materialursachen – eher nicht, denn Aristoteles hatte ja bereits statuiert, daß jedes Ding noch andere Ursachen als die materiellen hat, z. B. seine jeweilige Form (983b 7ff.). Ist auch der Name „Sokrates“ so etwas Beständiges an Sokrates? Anscheinend ja (denn „er“ wird ja mit seinem Namen genannt) – auch wenn man den eher als Akzidens bezeichnen muß: allerdings ein bleibendes Akzidens (Habitus oder Qualität oder Relation ...), etwas noch Bleibenderes als sein vergänglicher Körper oder seine Seele (sofern diese nicht unsterblich ist).
Erst nach dieser ziemlich abstrakten Analogisierung (die allerdings an einem Namen aufgehängt wird) folgt der Name des ersten Philosophen: Thales, der sagt, das Wasser sei ... er sagt gar nicht was es sei, offensichtlich eben dieses Beständige (Element, Natur, Grund); der Satz scheint unvollständig formuliert oder überliefert zu sein. Immerhin gibt Aristoteles einige empirische Hinweise oder Belege an, aus denen Thales seine Annahme abgeleitet hat: die Erde schwimme auf dem Wasser, Nahrung sei immer feucht, selbst das Warme entstehe aus dem Nassen und lebe in diesem, und die Samen aller Dinge hätten eine feuchte Natur – das Wasser aber sei der Grund der Natur der feuchten Dinge. Zuletzt also ernennt Aristoteles – Thales referierend - das Wasser zur arche aller feuchten Dinge und vermittelst dieser auch zum Ursprung aller Dinge: zumindest der warmen und lebendigen.
Eingeführt aber hat er den Thales – es handelt sich um Thales von Milet (624-546) – ebenfalls als arche: als personalisierte und vermännlichte arche. Er wird „archegos, Anfangsführer, Ahnherr, Gründer, Stifter, Urheber dieser derartigen Philosophie“ genannt. Mit dem Adjektiv archegos können vor allem Personen zu „Ursachen“ ernannt werden; hier dient es dazu, die Kausalität in die Geschichtsschreibung, in die Geschichte der Philosophie, in die Geschichte der Ursachenforschung einzuführen.

Walter Seitter

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Dienstag, 3. Mai 2011

HERMESVILLA: DIEFENBACH



In der ehemaligen Sommerresidenz der Kaiserin Elisabeth gibt es neben den wie üblich ausgestellten antiken persönlichen Utensilien und Möbelstücken im ersten Stock eine temporäre Ausstellung zu dem 1851 in Hadamar (Hessen) geborenen Maler und Lebenskünstler Karl Wilhelm Diefenbach, welche wir am vergangenen Samstag besichtigten.

Den oberen Teil des ersten und des letzten Raumes schmücken jeweils über zehn Bilder der gemeinsam mit seinem berühmtesten Schüler Hugo Höppener aka Fidus (von welchem noch drei weitere Bilder zu sehen sind) gestalteten Serie Per aspera ad astra (1898). Einer eigenartigen Technik mit Harz, Öl und noch einer Beimischung verdankt sich der hohe Kontrast zwischen den pechschwarzen Figuren (Bären und Affen, Erwachsene, Kinder und sonstige Tiere), welche vor dem weiss bemaltem Grund paradieren. Im ersten Raum sieht man eine eher karnevaleske Szenerie mit Musikinstrumenten, Seiltanz und viel ausgelassener Bewegung, im letzten wirkt das Ganze eher wie eine Prozession - mit Fahnen, verschiedensten religiösen Symbolen usw. (Das gesamte Fries, in der Hermesvilla sieht man etwa 90% davon, besteht aus 34 Bildern und ist 68 Meter lang.)

Das sonstige malerische Werk Diefenbachs zeichnet sich gerade nicht durch scharfe Kontraste aus, sondern gestaltet sich eher flächig-verschwimmend. Alle seine Malereien wollen einen symbolischen Gehalt transportieren, meist lässt sich ein Wille zur Evokation transzendenter bzw. ozeanischer Gefühle  bemerken; diesem nachzugeben wird den Betrachtern mitunter durch einen Hang zu dem erschwert, was man gern unter "Kitsch" subsumiert, um darüber leicht hinwegsehen zu können. Diefenbach trägt gern dick auf: die Felsen auf manchen Bildern sehen tatsächlich schroff aus, wenn man sich von der Seite nähert; teilweise zeigen sich die Ölgemälde im allzu hellen Licht unvorteilhaft glänzend, andere hingegen kommen in einem abgedunkelten Raum und durch gezielte Beleuchtung besonders gut zur Geltung, sodass sie wie von sich selbst heraus leuchten.   



Du sollst nicht töten (1913)
Was das Sich-Einlassen auf die Botschaften Diefenbachs ausserdem erschwert ist seine Disposition zum Größenwahnsinnigen, welche man ihm nicht unterstellen muss, da er diese keineswegs verhehlt, sondern sehr facettenreich zur Schau stellt: neben Kleiderreform (seit einem Erleuchtungserlebnis am Hohenpeißenberg in Oberbayern trug der Künstler nur noch Kutte), setzt sich Diefenbach für Pazifismus und vehement gegen Alkohol, Zigaretten und Fleischkonsum ein: mit seinen Performances vor dem Münchner Brauhaus, wo er gegen den "Verzehr von Tierfetzen" wetterte, handelt er sich eine Anzeige wegen "groben Unfugs" ein, im imaginären Raum seiner Bilder verkehrt sich die ansonsten zumeist gepflogene, naturalistische Gottesschau zur Diefenbach-Ebenbildlichkeit. Es sind seine wolkenhaften Züge, die dem Jäger auf Du sollst nicht töten das Jagen verleiden sollen.     

Seine malerische Grundausbildung bekam Diefenbach bei seinem Vater Leonhard, der Zeichenlehrer am örtlichen Gymnasium war; an der Münchner Akademie hat Diefenbach anschließend noch weiter  studiert - wichtige Einflüsse für ihn waren Arnold Böcklin und Franz von Stuck; seinerseits war er eine wichtige Inspirationsquelle für, wie erwähnt, Fidus, außerdem Frantisek Kupka (1871-1957) und Gusto Gräser (1879-1958), dem Gründer der Schweizer Monte-Verità-Bewegung. Diefenbach selbst gründete bereits 1885 im bayrischen Höllriegelskreuth eine Kommune und eine weitere 1897 in Wien, Obere St. Veit - nördöstlich Ende des Lainzer Tiergartens gelegen: der "Himmelhof" ging jedoch nach zwei Jahren bankrott … Schließlich landete der "Meister des Nichtstuns und Dochlebens" auf "der von Künstlern und Bohemiens bevölkerte(n) Insel Capri, wo er 1913 starb und bald in Vergessenheit geriet." (vgl. Presseinfo.pdf )

Anscheinend war es Rainer Maria Rilke, der dem jungen Klossowski nahegelegt hat seine Dissertation über "die deutsche Jugendbewegung" zu verfassen; diese ist bislang verschollen - die Ausstellung läuft noch bis zum 26. Oktober 2011. 

Ivo Gurschler