τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 14. April 2011

In der Metaphysik lesen (983a 24-983b 2)

Nachdem Aristoteles sich schon in 982b 12 auf „die ersten philosophiert habenden“ bezogen hatte, kommt er in Kapitel 3 ausführlich auf diejenigen zurück, „die zur Untersuchung der seienden (Dinge) übergegangen sind und über die Wahrheit philosophiert haben“ (983b 3). Er schließt also seine jetzt „gesuchte Wissenschaft“ an die Tradition der (griechischen) Philosophie an, die zu seiner Zeit wohl schon fast 200 Jahre existiert hat – und doch mag er sich anscheinend nicht dazu entschließen, seine gesuchte Wissenschaft exakt mit jener „Liebe zur Weisheit“ zu identifizieren; er scheint irgendeine Abweichung im Sinn zu haben.
Seine Suche nach den „allerersten“ Ursachen, womöglich nach der „ersten Ursache“, differenziert er aber zunächst mit einer Überlegung zu den vier Bedeutungen des Wortes „Ursache“. Und diese Überlegung zeigt, daß der aristotelische Wortgebrauch von unserem heutigen oder sagen wir modernen doch ziemlich weit entfernt ist. Denn die erste Bedeutung oder die erste Art von Ursache ist die ousia oder das was-war-sein – also das Was, das Wesen, die Wesenheit einer Sache. Die ousia war uns schon in der Poetik begegnet: als Grundbegriff bei der Definition der Tragödie: auch die Tragödie „hat“ eine ousia. Die zweite Ursache heißt Stoff, Materie oder hypokeimenon: Substrat. Diese beiden „Ursachen“ sind offensichtlich keine der Sache äußerlichen Faktoren oder Urheber – sondern innere man möchte sagen innerste Bestandteile, eigentlich weniger Teile sondern Komponenten, Konstitutiva.
Abgesehen von diesem Gebrauch des „Ursache“-Begriffs ist die aristotelische Unterscheidung von „Stoff“ und „Form“ durch die neuzeitlichen Naturwissenschaften nicht „widerlegt“, wohl aber aufgegeben, verlassen worden. Wie Jonathan Lear schreibt: „Since the seventeenth century Western science has moved steadily away from conceiving forms as part of the basic fabric of the universe. It is thought that if we understand all the properties of the matter we will see form as emerging from these properties. It is important to realize that Aristotle’s world is not like that. In Aristotle’s world, forms cannot be understood in terms of matter. Forms must occupy a fundamental ontological position: they are among the basic things that are.“[1] Allerdings dürfte der Ausdruck „Materie“ in den beiden Kontexten oder „Welten“ nicht dieselbe Bedeutung haben und das, was Aristoteles „Wesen“ oder „Form“ nannte, dürfte etwa in der heutigen Biologie, die von genetischem Code, von Programmierung und Information spricht, wiederum auf Verständnis stoßen.[2] Im übrigen gab es den „Materialismus“, der die Körper nur aus der „Materie“ heraus erklären zu können meinte, auch in der Antike – so bei den ersten „Philosophen“, die Aristoteles sogleich nennen wird.
Nun aber zur dritten „Ursache“: das ist das, „woher der Anfang der Bewegung“ kommt; man nennt sie gemeinhin „Wirkursache“ und sie entspricht einigermaßen unserem heutigen Ursachenbegriff, überdehnt diesen aber doch auch etwas: so, wenn ich mich frage, was die „Ursache“ meiner Existenz ist, dann würde Aristoteles sagen, es sind zwei Ursachen: der Vater und die Sonne, wir würden eher sagen: die Mutter und der Vater. Und die vierte Ursache liegt teilweise auf der Linie, die durch dieses Beispiel evoziert wird: es ist das Weswegen und das Gute, welches das Ziel einer jeden Bewegung und Entstehung (Zeugung) ist. Damit sind einerseits die „Motive“, also Beweggründe menschlichen Handelns und Herstellens gemeint, aber auch die in allen Lebewesen wirkenden Teleologien der Entwicklung, des Wachstums usw. Wie schon erwähnt gibt es das „Gute“ für alle Tiere (und sogar Pflanzen), weil sie bestimmte Stoffe suchen, aufnehmen – und andere nicht.
Nun, was diese vier Ursachen betrifft, so verweist Aristoteles darauf, daß er sie in seiner Schrift Über die Natur ausführlicher behandelt hat, womit er wohl seine Physik genannte Vorlesung meint, vor allem das Zweite Buch. Darin werden die „biologischen“ Tatsachen zwar nicht allzuoft erwähnt, aber doch insoweit, daß man sagen kann, daß für Aristoteles die Lebewesen eine relativ hohe Realitätsschicht innerhalb der „Natur“ darstellen. Und direkt im Anschluß daran geht er dann zu seinen „philosophischen“ Vorgängern über. Was uns aber nicht daran hindern kann zu denken, daß seine Ausführungen über die vier Ursachen nicht direkt zu seiner „gesuchten“ Wissenschaft gehören. Die Physik wird ausdrücklich als eine schon gefundene, ja bereits ausgearbeitete Wissenschaft zitiert.
Was hat sie nun überhaupt mit der „gesuchten“ zu tun? Die Ursachenforschung hat sie offensichtlich mit ihr gemeinsam; aber innerhalb der Ursachenforschung beschäftigt sie sich mit Bereichen, die näherliegen, die leichtere Erkenntnisse ermöglichen. Um das zu verdeutlichen, komme ich wieder auf die Frage zurück, wo die Ursachen für meine Existenz (als Lebewesen) zu finden sind: die nächsten und nicht besonders schwer zu erkennenden Ursachen sind wohl meine Eltern – wobei zwischen der Erkennbarkeit der Mutter und der des Vaters bekanntlich schon gravierende Unterschiede bestehen (können). Da Aristoteles auf diese Frage nicht ganz einheitliche Antworten liefert, scheint sie für ihn auch nicht allzu „leicht“ beantwortbar gewesen zu sein.
In den Jahrtausenden nach Aristoteles haben sich in diese Frage unterschiedliche Komplikationen eingeschlichen, die so weit gingen, daß Sigmund Freud mit seinem Insistieren auf der Eltern-Kausalität eine gewisse Verstörung ausgelöst hat. Im Kielwasser Darwins hat er jede göttliche Urheberschaft für die Existenz des Menschengeschlechts und der Menschenindividuen aus der Wissenschaft ausgeschlossen. Und doch konnte er der Frage nicht jedes „religiöse“ oder „quasi-religiöse“ Gewicht nehmen: denn Mutter und Vater bekommen bei ihm eine geradezu unheimliche Übermacht über das entstehende Menschenindividuum zugesprochen, eine fast göttliche Allmacht, die sich in manchen Fällen – das sind dann die sogenannten „Fälle“ der Psychoanalyse – als verhängnisvoll und kaum abzuschütteln herausstellt (die psychoanalytische Kur bietet sich als Abschüttelungshilfe an).
Und Jacques Lacan hat diese freudsche sei es Entdeckung sei es Suggestion mit einem anderen Vokabular formuliert, vor allem mit seiner Begriffs-Trinität real, imaginär, symbolisch. Sowohl die Mutter wie auch der Vater existieren, so behauptet er, in jeder dieser drei Versionen - also "dreifaltig", und wirken, selbst, wenn sie schon längst vergessen oder verstorben sind, in irgendwelchen dieser Versionen nach, weiter, anscheinend „unsterblich“ oder unausrottbar.
Die Theologisierung der zwei sexuierten Eltern dürfte wohl ein Motiv für die Ausprägung der „heidnischen“, der polytheistischen Götter gewesen sein, womit die „ersten“ Ursachen in die Ferne gerückt werden, in der sie wohl auch von Aristoteles’ „gesuchter“ Wissenschaft gesucht werden – er hat ja „den Gott“ als eine vermutliche unter den „ersten“ Ursachen genannt. Die sogenannten „ersten“ oder gar „die erste“ Ursache sind „von uns aus gesehen“, als „von uns zu erkennende“ eher die letzten, die am schwierigsten erkennbaren.
Lacan hat die Eltern bzw. die Elternmacht nicht nur entschiedener terminologisiert, mystifiziert als Freud. Er hat sie deutlicher theologisiert, indem er die bei Freud noch gewahrte und in gewissem Sinn „heidnische“ Symmetrie zwischen Vatermacht und Muttermacht in eine Asymmetrie verschoben hat, die dem Vater eine fast „monotheistische“ Übermacht zuspricht. Übermacht einer einzigen ersten Ursache?
Gleichwohl ist bei den beiden Autoren, Freud und Lacan, auch eine gegenläufige Differenz zu beobachten. Freud war insofern ein Deutscher, ein Romantiker, als bei ihm das Denken des „Ursprungs“ in den vielen Wortbildungen mit dem Präfix „Ur“ zum Ausdruck kommt. Im vergangenen Oktober hielt ich auf der Thessalonicher Tagung, die dem „Ursprunghaften“ gewidmet war, einen Vortrag über die Ursachenlehre des Aristoteles, während der Pariser Psychoanalytiker Claude Duprat über das Ursprunghafte bei Lacan sprach. Ergebnis seiner philologischen Recherche: Lacan distanziert sich von Freuds Ursprungs-Obsession und zieht den nüchterneren und sachlicheren (eine Tautologie!) Begriff der Ursache vor – nicht ohne direkte Bezugnahme auf die aristotelischen Ursachen (bis hin zu den unnormalen Ursachen namens automaton und tyche).
Vorläufiger Kommentar zu Aristoteles’ Eingehen auf die – auf „seine“ – Physik. Es handelt sich dabei nicht um die von ihm jetzt gesuchte Wissenschaft, wohl aber um eine hilfreiche und sogar notwendige Vorstufe dazu. Denn, was er am Anfang der Physik sagt, gilt auch für das Verhältnis der Physik zu der jetzt gesuchten Wissenschaft, daß man nämlich von dem für uns besser Bekannten und Wißbaren ausgehen und zu dem übergehen soll, was an sich selber besser bekannt und wißbar ist.[3]
Walter Seitter


[1] Jonathan Lear: Aristotle: the desire to understand (Cambridgre 1988): 20.
[2] Siehe Jonathan Lear: op. cit.: 22f.
[3] Vgl. Aristoteles: Physik 184a 30.

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