τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Mittwoch, 16. Februar 2011

In der Metaphysik lesen

Unaufhörlich hierarchisiert Aristoteles zwischen "oben" und "unten", zwischen höheren und niedrigeren Erkenntnisvermögen - und -tätigkeiten, aber auch zwischen verschiedenen kulturellen Stufen wie Kunst und Erfahrung. Als Kriterium dafür setzt er die Weisheit an, für die wiederum Wissen der Maßstab ist. Innerhalb der künstlerisch-technisch Tätigen hat er die Leitenden und die Handwerker unterschieden. Den Handwerkern spricht er zunächst die Erfahrung als Basis ihres Könnens zu, dann die Gewohnheit. Man könnte also diese beiden auf ein und derselben Ebene ansiedeln. In der Regel gehen sie wohl miteinander Hand in Hand. Hält man sich an die beiden deutschen Wörter, so kann man wohl doch so unterscheiden: die Erfahrung ist ein Wissensstand, eine bestimmte Kenntnisstufe, die Gewohnheit eher eine Routine im Tun, die sich vielleicht stärker im Körper verfestigt hat. Dann wäre die Erfahrung etwas Besseres als die Gewohnheit: eine sehr feine Unterscheidung und Hierarchisierung - aber immer noch nach demselben Kriterium.

Wir haben die Frage aufgeworfen, ob das Lehren nur dem wissenschaftsnahen Künstler oder dem Leitenden möglich sei oder auch dem Handwerker. Die europäische Tradition würde das auch dem Handwerker zutrauen: dem Meister, der zeigt, wie man es macht, der es aber auch erklären kann: das Allgemeine sagen und die Ursachen angeben - wenngleich vielleicht nicht mit strenger Begrifflichkeit. Wie dann? Mit Beispielen, die sowohl das Ähnliche wie das Unterschiedliche zeigen und formulieren. Mit Analogien, die ja nach Aristoteles auch von poetischen Metaphern dargestellt werden können. Aber Aristoteles tendiert eindeutig in die Richtung, das eigentliche Wissen der Kunst vorzubehalten, weil diese wissenschaftsnäher ist. Damit denkt er in die Richtung, die die heutige Ausbildungspraxis und -diskussion bestimmt: eigentlich gelehrt wird nur an Schulen, Höheren Schulen, womöglich Hochschulen.
Bisher hat Aristoteles diese Aufstiegsforderung als Sache der Individuen dargestellt, die in einer Kultur leben, in welcher die verschiedenen Niveaus schon installiert sind: manche Individuen bringen es so weit und manche nur so weit.  Plötzlich macht er einen Sprung und fragt danach, wie denn das eigentlich begonnen hat und zwar in der Weltgeschichte. Dabei keine Spur von Eingebung durch Gott oder dergleichen. Sondern auch in der Großen Geschichte ein Werden aus kleinen Anfängen - beinahe eine Art Darwinismus. Die kleinen Anfänge sind wie oben in der Darstellung der Ontogenese die Sinneswahrnehmungen, Zunächst gab es bei allen Leuten nur diese. Irgendwann und irgendwo hat irgendeiner - keine Spur von Zeit- oder Orts- oder Personenangabe - den Sprung zur Kunst, zu einer ersten Kunst gemacht. Ein ganz ähnliches Schema von erster Erfindung kommt auch in der Poetik vor. Hier nun ist dieser Erste - man möchte sagen Gott sei Dank - nicht aus Eifersucht oder so von seinen Mitmenschen erschlagen worden. Er wurde bewundert und zwar nicht nur wegen der Nützlichkeit seiner Kunst, sondern wegen der hervorragenden Erkenntnisleistung. Gesche Heumann: wieder dieser Intellektualismus, wie er schon im ersten Satz auftaucht (welchen sie unter Hinweis auf politische Situationen brzweifelt). Dann wurden mehrere Künste erfunden und schon klassifiziert Aristoteles schon wieder. Die einen Künsten dienten den Notwendigkeiten, die anderen der - freien und gehobenen - Lebensführung. Diese Unterscheidung läuft genau parallel zu derjenigen in 980a 24, wo die Sinneswahrnehmungen in diese zwei Richtungen hineingestellt worden sind: das nützliche und  das Selbstzweckhafte. Lebensführung: das Leben so gestalten, daß man es um seiner selbst willen bejahen kann. Nochmals auf einer anderen Ebene hat Aristoteles so eine Unterscheidung eingesetzt, um Herstellen und Handeln zu differenzieren.

Die den Notwendigkeit dienenden Künste kann man sich denken: Feuer machen, Wasser gewinnen... Was für welche sind der "Lebensführung" zugeordnet? Etwa die "Schönen Künste", die man heute als "Kunst" zusammenfaßt? Man denkt wohl am ehesten an sie - aber es wird sich gleich herausstellen, daß Aristoteles mit seinem Kriterium der Selbstzweckhaftigkeit noch höher hinauswill. Immerhin werden diese Künste als die höheren eingestuft - allerdings gerade deswegen, weil sie  als weiser gelten, da sie nicht auf Nutzen abzielen. Als viele derartige Künste entwickelt waren, zeichnete sich innerhalb ihrer eine neuerliche Zweiteilung ab, bezehungsweis über ihnen wurde etwas Neues und Drittes erfunden: über den nutzbezogenen und über den lustbezogenen Künsten wurden die Wissenschaften erfunden, die noch erkenntnisintesiver als die lustbezogenen Künste waren, aber auch noch selbstzweckhafter, weil die wissenschaftliche Tätigkeit gar nicht auf die Erzeugung von Lüsten abstellt sondern selber eine genießende und zu genießende Lebenstätigkeit iat. Das Wort diagoge kann zwar auch Unterhaltung und Zeitvertreib heißen - aber hier zeigt es in seiner Grundbedeutung "Durchführung" an, daß man das Leben so gestalten kann, daß es kontinuierlich, dauerhaft Genußtätigkeit ist. Um den Übergang von den verschiedenen Künsten zu dieser konsequenten diagoge kontinuierlich zu formulieren, spricht er von den "mathematischen Künsten" - obwohl die Mathematik ja eine Wissenschaft und zwar eine von den "theoretischen", welche das Ideal der Selbstzweckhaftigkeit am vollkommensten verkörpern. Noch vollkommener als die praktischen Wissenschaften, die das immerhin noch besser tun als die hervorbringenden oder poetischen - von denen wir eine, nämlich die Wissenschaft zur Dichtkunst, vier Jahre lang gelesen haben.

Worauf ist die Dichtkunst selber gerichtet? Auf die Lebensnotwendigkeiten kaum. Auf Lusterzeugung - ja. Aber die von ihr herbeiführbare Lust wird von Aristoteles in die Nähe der Philosophie gerückt. Wo hat die Philosophie ihren Ort in der jetzt noch einmal resümierten Erkenntnis-Aufstufung? (981b 30ff.) Philosophie wird hier nicht genannt. Aber Aristoteles bezieht sich wortwörtlich auf das, "worum es jetzt", nämlich in diesen Zeilen und wohl in dem ganzen Buch, geht - und das nennt er "Weisheit". Die Eigenschaft des Weisen war das Kriterium für die Hierarchisierung und jetzt ist die Weisheit die ausgezeichnete Tätigkeit, die höchste theoretische Wissenschaft, die "sich mit einigen Gründen und Ursachen beschäftigt". Hier wird die Wissenschaft, die da gemacht wird, "Weisheit" genannt. Das ist ein anderer Titel, ein unbestimmterer als "Theologie".

Walter Seitter

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