τὸ μὲν οὖν αἰσθάνεσθαι ὅμοιον τῷ ... νοεῖν.

Das Wahrnehmen nun ist ähnlich dem ... vernünftigen Erfassen.

Aristoteles (De Anima III, 7: 431a)

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Donnerstag, 27. Januar 2011

In der Metaphysik lesen

Wie verhalten sich die bisher gelesenen Aussagen, also die ersten Sätze der sogenannten Metaphysik, zu den darin genannten Erkenntnisformen? Aufgrund welcher Erkenntnis kommt Aristoteles zu seinen Aussagen über das Wissenwollen der Menschen, ihre Liebe zu den Wahrnehmungen? Daß alle Menschen wissen wollen, könnte man, wenn man selber Erkenntnispessimist ist, für Wunschdenken halten. Daß die Menschen gern wahrnehmen und vor allem sehen, läßt sich schon weniger leicht so abtun. Diese anthropologischen All-Aussagen werden wohl doch als Erfahrungssätze gelten können. Aristoteles hat in seinem bisherigen Leben, in der Familie, in der Platon-Schule, wohl auch bei seinem Schüler Alexander und erst recht bei seinen Athener Schülern immer wieder - wenn auch nicht pausenlos und ausnahmslos - wahrgenommen, daß die Menschen sich so verhalten; die Wahrnehmungen sind in Erinnerungen übergegangen und durch neue Wahrnehmungen überwiegend bestätigt worden - das ergibt Erfahrung. Und solche Erfahrungen stellt Aristoteles an den Anfang seines später "Metaphysik" genannten Buches (ähnliche Erfahrungssätze hat Aristoteles auch in die Poetik eingebaut). Den empirischen Charakter dieser Aussagen unterstreicht er dann auch noch durch einen kleinen Exkurs in die Zoologie, in welcher Erfahrungen - hoffentlich - systematisch gesammelt und geprüft werden. Wenn sich seine Aussagen über die Bienen inzwischen - also über 2000 Jahre danach - als falsch herausgestellt haben, dann ändert das erst recht nichts daran, daß sie zu einer Erfahrungswissenschaft gehören.

Die eben genannten Aussagen über die Menschen hingegen können kaum als wissenschaftliche Aussagen gelten. Denn systematische Untersuchungen, die in diesem Fall ethnographisch und historisch weit reichen müßten, wird es damals nicht gegeben haben; auch Aristoteles hat sie nicht angestellt. Er stellt also solche Aussagen, die nicht wissenschaftlich sind, wohl aber den höchsten "vorwissenschaftlichen" Erkenntnisgrad beanspruchen können, an den Anfang dieser Überlegungen, die einfach deswegen "Meta-Überlegungen" sind, weil sie die Erkenntnisstufen, die Wissensformen thematisieren, deren höchste wohl die Wissenschaft ist, die zweithöchste aber die Kunst, die dritthöchste die Erfahrung.

Die sogenannte "Metaphysik" mit "bloßen" Erfahrungssätzen beginnen - das impliziert wohl, daß die Erfahrung als Erkenntnisweise hoch geschätzt wird. Und wir werden gleich sehen, daß Aristoteles der Erfahrung in einer ganz bestimmten Hinsicht sogar einen Vorrang vor der Kunst einräumt.
Aristoteles klassifiziert nicht nur gern, er "hierarchisiert" auch häufig. Aber seine Ordnungen bewahren eine gewisse Flexibilität.

Walter Seitter

Mittwoch, 26. Januar 2011

In der Metaphysik lesen

Aristoteles nennt einige Vermögen oder Leistungen wie Sinneswahrnehmung, Sehen und durch eine Einfügung deutet er an, daß es sich um Vermögen zum Erkennen handelt und daß Erkennen ein Auffassen von Unterschieden ist. Als Träger dieser  Vermögen wurden die Menschen, und zwar alle, eingeführt. Alle Menschen oder "wir" sind Subjekt dieser Aussagen, die anthropologische Aussagen sind, wobei diese Anthropologie gleich auch zoologisch grundgelegt wird. Denn Aristoteles geht auf den Gattungsbegriff "Lebewesen" zurück und stellt dem Artbegriff "Mensch" einen anderen Artbegriff gegenüber - die Biene. Er hebt nur einen oder sagen wir einen gewissermaßen dreifachen Unterschied zwischen Mensch und Biene hervor: dieser fehlt das Hören und folglich das Sich-Erinnern und folglich fehlt ihr auch das Lernen-Können. Offensichtlich gibt es auch Tiere, denen diese Vermögen nicht fehlen: sie haben Erinnerungen und überhaupt Vorstellungen und trotzdem bringen sie es nicht weit mit der Erfahrung. Es deutet sich eine Stufung der Erkenntnisvermögen an - am meisten davon finden sich beim Menschen, nur gewisse, nämlich die höheren in der Stufung finden sich bei ihm. Kunst und Denkfähigkeiten (logismoi) sind nur den Menschen eigen: statt des Quantors "alle" jetzt der homonyme aber mehr biologische Begriff "Geschlecht".

Logismoi kommt von logos und bezeichnet mehr abstrakte Denk- oder Überlegungsfähigkeiten. Wieso aber ist Kunst (techne) eine kognitive Fähigkeit? In der Nikomachischen Ethik wird sie als eine der "dianoetischen Tauglichkeiten" genannt: wissen, wie man etwas gut macht oder herstellt (1140a 7ff.). Der antike Begriff der Kunst geht über den modernen weit hinaus, weil er auch Kochkunst, Heilkunst, Kriegskunst usw. umfaßt. Außerdem geht der aristotelische Begriff der Kunst über den modernen noch in einer anderen Richtung hinaus, weil er auch Wissen, beinahe wissenschaftliches Wissen, jedenfalls lehren könnendes Wissen einschließt. Wissenschaftliches Wissen kennt auch die Prinzipien und operiert mit Beweisführung. Kunst und Wissenschaft beruhen auf Erfahrung und gehen noch ein bißchen darüber hinaus: als deren Kultivierung und Steigerung in Richtung Allgemeines. Wobei wiederum die Vielheit zu einer Einheit führt. Viele Erinnerungen haben eine Erfahrung ergeben und viele Beobachtungen oder Realisierungen einer Erfahrung führen zu einer Annahme eines Allgemeinen. Das Hinschütten von Farben, von dem Aristoteles in der Poetik einmal gesprochen hat, ergibt zwar nicht Malerei in seinem Sinn, kann aber durch Ausprobieren, Wiederholen zu einer Erfahrung führen und daher auch zu einem wissenden Hervorbringen, also zu einer Kunst (dies wohl nur unter der Voraussetzung, daß derartige "Werke" von irgendjemandem nachgefragt, gewünscht werden.


Walter Seitter

Mittwoch, 19. Januar 2011

In der Metaphysik lesen

Die spätantike Titelgebung "meta ta physika" heißt wohl "nach der Physik" und ist nach allgemeiner Ansicht bibliothekstechnisch gemeint und insofern ein Verlegenheitstitel. Jedenfalls gibt es in der Textsammlung selbst keine derartige Formulierung und schon gar nicht das Substantiv "Metaphysik" oder das Adjektiv "metaphysisch". Wir können die Titelformulierung für uns so verstehen, daß diese Textsammlung eher nach den anderen Schriften des Aristoteles gelesen werden sollte, also nach denjenigen, die einen "ordentlichen" Titel haben, welcher den jeweiligen Gegenstand tatsächlich angibt: also beispielsweise die Ethik oder die Physik oder die Poetik. Nun haben wir nur die Poetik gelesen, aber die so mikroskopisch, daß wir nicht nur die Aussagen zum Thema Dichtung mitbekommen haben, nicht nur den Duktus einer "poietischen" Wissenschaft, die erörtert, wie man ein Dichtwerk gut machen kann, sondern in derselben Schrift auch die Aussagenlinien "theoretischer" Art (Angaben der Ursachen, darunter der Wesensform) und die Aussagenlinien "praktischer" Art: gutes und schlechtes Handeln, Glück, Unglück.

Die Unterscheidung zwischen den drei Wissenschaftsgattungen finden sich eben in der Metaphysik 1025b 21ff. und mit solchen Aussagen rechtfertigt das Buch nachträglich zumindestens die erste Hälfte seines Namens, das Präfix "meta" - jetzt aber in dem modernen Sinn, den der Logiker Alfred Tarski geprägt hat, indem er zwischen Objektsprache und Metasprache unterschieden hat. Metasprachliche Aussagen operieren auf einer Ebene "über" objektsprachlichen Aussagen, indem sie über sie etwas sagen, z. B. aus wievielen Wörtern sie bestehen. 

Eine Klassifizierung von Wissenschaften ist eine "sehr" metasprachliche Aussage und Aussagen dieses Typs finden sich in der Metaphysik zuhauf und in vielen Variationen und Formaten. Z. B. Aussagen über die Physik, die man dann im modernen Sinn als Meta-Physik bezeichnen könnte, oder aber Aussagen über die Künste wie in 980b 27ff, die folglich Meta-Technik oder Meta-Poietik heißen könnten. Vermutlich gibt es auch Aussagen auf dem Niveau von Meta-Ethik. Diese Vermutungen zur Metaphysik verstärken, wenn sie einigermaßen berechtigt sind, die obige Empfehlung, dieses Meta-Buch nach den anderen, den Objekt-Büchern des Aristoteles zu lesen, oder zumindest jedesmal die "besprochenen" Objekt-Aussagen ernstzunehmen, zu rekonstruieren, damit die Meta-Aussagen nicht "gegenstandslos" werden, denn die Objekte der Meta-Aussagen sind die Objekt-Aussagen bzw. "niedrigere" Meta-Aussagen.

Wenn die moderne Unterscheidung zwischen Objektsprache und Metasprache ein Licht auf das "Metaphysik" genannte Buch werfen kann, dann gilt dies ebenso für die in diesem Buch getroffene Unterscheidung zwischen theoretischer, poietischer und praktischer Wissenschaft. Und diese Unterscheidung schließt wiederum nicht aus, daß eine und dieselbe Abhandlung, die einer Wissenschaftsgattung zuzuordnen ist, doch auch einen engen Bezug zu einer anderen Wissenschaftsgattung haben kann (Beispiel Poetik).
Und sogar in einzelnen Sätzen kann eine derartige mehrschichtige Zuordnung gefunden werden. Beispiel die drei ersten Sätze unseres Buches: "Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen. Ein deutliches Zeichen dafür ist die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen. Denn abgesehen vom Nutzen werden diese um ihrer selbst willen geliebt, und von allen besonders die Sinneswahrnehmung, die durch die Augen zustande kommt. Denn nicht nur um zu handeln ..."
Der erste anthropologische Satz gehört zur theoretischen Wissenschaft Physik, was er durch das "von Natur aus" unterstreicht. Aber da er von einem Streben (engl. desire) spricht, eröffnet er bereits die transtheoretische Dimension, in der die poietischen und die praktischen Wissenschaften angesiedelt sind, in denen es um Besser oder Schlechter geht. Und mit der Unterscheidung zwischen dem Streben nach einem Nutzen und einem Streben nach etwas um seiner selbst willen, trifft er genau den Punkt der Unterscheidung zwischen den  beiden transtheoretischen Wissenschaften. Im Endergebnis sagt er, daß das Sehen, welches die Wurzel der "Theorie" ist, weniger eine technische als vielmehr eine praktische "Tätigkeit" ist: eine um ihrer selbst willen gewünschte. Die Einführung in Theorie, die metatheoretisch oder metagnostisch vorgeht, kann nicht auf die transtheoretische Dimension der Praxis verzichten. Doch die folgenden Sätze stellen sich schlicht und einfach auf die Linie der Theorie, nämlich Physik, nämlich Zoologie.

Liebe zum Sehen um des Sehens willen. Schautrieb, Schaulust? Nun kann man wohl kaum sehen, ohne etwas zu sehen. Ist die Liebe zum Sehen unabhängig von der Qualität des Sehobjektes? Im striktesten Sinn könnte man Aristoteles hier so verstehen: absolutes Sehen, sehen überhaupt. Aber stimmt das? In der Poetik konstruiert er den Fall des Sehens von unangenehmen Objekten - beschränkt aber diese Objekte auf Abbildungen von derartigen Objekten. Und die Begründung geht in dieselbe Richtung wie hier: sehendes Lernen, Unterscheiden, Erkennen. Außer derartigen Abbildungen könnte man "Bilder" der modernen Kunst als Sehobjekte für ein verselbständigtes Sehen vorschlagen. Bilder, die nicht erkennbare Gegenstände zeigen, sondern Materialien, Strukturen oder Chaos, an denen das Auge das bloße Sehen lernen, üben und vielleicht genießen.

Walter Seitter

Samstag, 1. Januar 2011

MISSION STATEMENT. Wir über uns


Innerhalb der Sektion Ästhetik, die zur Neuen Wiener Gruppe/Lacan-Schule gehört, möchte die Hermesgruppe philosophische Aktivitäten entfalten und anregen, die sich der Ästhetik als Wahrnehmungskunst, als Faszination durch das Anscheinende und das Schöne, verschreiben und sich der Hermetik als Bemühung um "schwierige Erkenntnisse" nicht verschließen. In diesem Sinn stellt sie sich unter das Patronat des griechischen Gottes.


Derzeit werden zwei Veranstaltungen regelmäßig durchgeführt:

KLOSSOWSKI-SEMINAR

Lektüre der kleinen und schwierigen Schrift  La Monnaie vivante (Paris 1970); deutsch: Die lebende Münze (Berlin 1998). Ein Buch, das in der Originalausgabe einen wirtschaftsphilosophischen Essay mit einer Bildstrecke kombiniert, die aus theatralischen Fotografien sowie Zeichnungen des Autors besteht. Im Ausgang von Sade und Fourier bündelt der Text historische und anthropologische Thesen und zieht eine Schlußfolgerung, die auf eine erotische "Utopie" hinausläuft. Wir planen ein Zweites Buch zu diesem Buch, welches auch ein "Wörterbuch" dazu enthalten soll (vorgesehen für Herbst 2012).

IN DER METAPHYSIK LESEN

Nach der Lektüre der Poetik nun die sogenannte "Metaphysik" des Aristoteles, die vom Autor mehrfach und unterschiedlich benannt bzw. definiert wird. Damit durchqueren, rekapitulieren und reflektieren wir die "normalen" Wissenschaften des Aristoteles - wie die Poetik, die Ethik, die Ökonomik, die Politik, die Mathematik, die Physik. So nebenbei lernen wir dabei Griechisch, vor allem aber Deutsch: die Sachen benennen.